Ihre Verschlossenheit hat ihnen die Bewahrung ihrer kulturellen Identität erlaubt. Die Ladinos ihrerseits kämpfen mit einem großen Identitätsproblem. Der Schriftsteller Luis Cardoza y Aragón, der zur demokratischen Revolution 1944 aus dem Exil zurückkehrte und zehn Jahre später, nach dem Putsch gegen Jacobo Arbenz neuerlich fliehen mußte, sieht

die Einsamkeit als besonders hervorstechendes Wesensmerkmal seiner Landsleute. “Wir besaufen uns, um mehr allein zu sein. Das Besäufnis hat nichts Soziales. Die Gewalt, die aus der Verbitterung wächst, hat wohl damit zu tun, daß jemand, der immer Fußtritte empfangen hat, glaubt, auch selbst welche austeilen zu müssen…”

Die gesunde Selbstironie, die im Nationalcharakter der NicaraguanerInnen und selbst der SalvadorianerInnen beobachtet werden kann, ist den GuatemaltekInnen fremd. Auch nach eineinhalb Jahrzehnten ziviler Regierungen ist die Beklemmung, die wie ein dunkler Schatten über dem Land liegt, nicht von der Gesellschaft gewichen.

Wie leben die Toten? In Mexiko ist der Tod ein die Arme schlenkerndes Gerippe, das mit Begeisterung Musik fiedelt oder trötet, gern das Tanzbein schwingt, Rauchen und Trinken nicht vergisst und sich auch als zuckriger Schädel präsentieren kann, auf dem sogar der eigene Name prangt. Schon ab Mitte Oktober sind die Schaufenster der Konditoreien mit süßen Totenschädeln gepflastert. Text: Uwe Bennholdt-Thomsen

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llerheiligen, Herbstzeit, fallende Blätter. Mit kleinen Schritten ziehen schwarz gekleidete Menschen mit Regenschirmen durch düstere Alleen zu ihren Gräbern, um die Toten mit Blumen und Kerzen zu ehren, die in unserem Gedenken weiterleben. Die Gesichter sind blass, voll geziemender Trauer, die Worte leise und ehrfürchtig, keine Musik stört die heilige Totenruhe. Der Tod ist ein ernstes Geschäft und eine todtraurige Angelegenheit. Auch die Europäe-

rInnen kannten im Mittelalter den Totentanz, bei dem das grinsende Gerippe uns zur letzten Polka bat. Die MexikanerInnen aber haben bis zum heutigen Tag eine wahre Festkultur entwickelt, bei der sie den Tod, bzw. die Toten auf dem Friedhof und in den Häusern mit wilden Verkleidungen oder bei opulenten Gelagen feiern. Ich bin in eine kleine Stadt im Süden Mexikos gefahren, um die Feiern zu Allerheiligen mitzuerleben. Es ist keineswegs neblig trüb, sondern um die 30

Geschmücktes Grab aus El Salvador. Auch dort keine schwarze Trauer wie bei uns.

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thema

Alltagskultur in Mittelamerika

Grad warm, strahlend blauer Himmel, häufig geht ein frischer Wind, der die langen bunten Röcke der Blumenverkäuferinnen aufbauscht, die in diesen Tagen gute Geschäfte machen wollen. Alle eingebettet in das Grün der Blätter und duftende Basilikumbüschel. Für schlanke Weißakzente sorgen verschiedene Lilienarten und Gladiolen. Außerdem werden Kerzen angeboten, Totenbrot – eine mit Zuckerguss verzierte Wecke –, Plastik- und Pappfiguren, Masken und die Totenschädel aus Zucker.

Blumen und Schnaps für die Toten Ich schlendere unentschlossen über den Platz und studiere die Gesichter der Verkäuferinnen. Nach langem und heißem Feilschen habe ich für den Hausaltar meiner Freundinnen zwei Sträuße Gladiolen, Tagetes und weiße Wolkenblumen erstanden, aber mit den hiesigen Frauen kann ich nicht konkurrieren, die mit vollen Armen ihre leuchtende Blumenpracht nach Hause

In Würde leben Die indigene Frauenorganisation Majawil Q’ij wird von Maria Morales geleitet, die vor einigen Jahren auf dem Kirchentag auf Einladung der CIR mit dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zusammentraf. Majawil Q’ij legt Wert auf die eigene Maya-Kultur und die Maya-Spiritualität. Insbesondere setzt sich die Organisation um Maria Morales dafür ein, dass Maya-Priesterinnen ausgebildet werden und auf diese Weise die Achtung von Maya-Frauen gestärkt wird. Die CIR unterstützt dieses Anliegen und bittet Sie um Spenden.

stichwort »maya-PriesterInnen« Helfen Sie uns die Maya-Frauen zu unterstützen!

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schleppen. Es ist der 29. Oktober und es gilt die Vasen und Töpfe für den Altar vorzubereiten, der ab morgen den Toten ein strahlendes Willkommen bieten soll. Für jeden Verstorbenen des Hauses steht schon eine Kerze bereit, die Heiligenbilder wurden geputzt und die Fotos der nächsten Verwandten auf die Ehrenplätze gerückt. Auch Früchte, vor allem Bananen, Äpfel, Kokosnüsse und ein paar Trauben, die der Großvater so gerne aß, werden kunstvoll auf das weiße Tischtuch eines niedrigeren Tischchens vor dem Altar geschichtet. Um das Gesamtbild zu vollenden, braucht es jetzt noch dazwischen gestreute weiße duftende Blüten und frische Blätterzweige als Girlanden. Ein Glas Wasser ist wichtig, Erfrischungsgetränke, Bier und vielleicht ein Gläschen Mezcal, auch eine Flasche Rum findet noch ihren Platz. Das ist die einfachere Form des Altars zum Totentag, denn der letzte Sterbefall bei uns im Haus liegt schon mehr als drei Jahre zurück.

Zwischen Diesseits und Jenseits Ich schaukele faul in der Hängematte, blinzle in das winddurchtobte Himmelblau und frage Florinda scheinheilig: Was machen die Toten denn, wenn sie sterben? Sie lacht und weist mit der ausgestreckten Hand nach oben: „Sie fliegen in den Himmel. Aber zuerst können sie sich nicht so leicht von der Stätte ihres Lebens trennen. Deshalb werden sie in den ersten Wochen noch von ihren Angehörigen betreut. Wo die Leiche mit dem Gesicht zum Hausaltar aufgebahrt war, wird, sobald der/die Tote zum Friedhof gebracht ist, auf einer Decke ein Kreuz aus Sand und Blumen ausgelegt, mit einem Ziegelstein für den Kopf. Darum herum stehen Vasen mit langstieligen Blumen und

viele Kerzen. Neun Tage lang darf die nächststehende Trauernde das Zimmer nicht verlassen, denn die Seele oder der Geist des Toten ist noch anwesend und will nicht allein gelassen werden. Im Ganzen vierzig Tage lang geistert die Seele noch um das Haus, unstet und wie in einem Zwischenstadium zwischen Leben und Tod. Erst dann, wenn auch ihr Blumenkreuz an einen geweihten Ort gebracht ist, kann sie sich vom Leben trennen und begibt sich auf die ewige Reise. Ob es länger dauert, bis sie den Himmel da hinter den Wolken erreicht, weiß ich auch nicht. Jedenfalls ist jetzt ihre Lebensmüh zu Ende, und im Tode ruht sie aus wie in einem ewigen Traum“. Don Pancho, der Pfarrer der Stadtkirche, hatte erzählt, die meisten glaubten, der Ort der Toten sei ein „prächtiger Garten“. Ich muss noch etwas fragen: „Dass in den ersten beiden Jahren der Altar mit besonderer Sorgfalt und Liebe geschmückt wird, kann ich gut verstehen, dann sind die Geister uns und dem Leben noch näher, aber warum darf man den Toten ihren großen Festaltar nicht aufbauen, wenn ihr Ableben erst weniger als drei Monate her ist?“ Florinda lacht schon wieder: „Weil sie sonst nicht genug Zeit gehabt haben, um den Aufenthaltsort der Toten zu erreichen oder sich in den Strom der Besucherseelen einzugliedern, die ihnen unterwegs schon entgegen kommen.“ Ich setze meine Hängematte wieder in Bewegung, sehe dem durchsichtigen Gecko auf der Mauer zu, der unter der Glühbirne nach Mücken schnappt, und versuche zu verstehen, wie konkret ich selbst mir die verstorbenen Seelen vorstellen könnte. Mir scheint, es passt zu den Menschen hier, dass sie auch tot noch sehr lebendig sind und sich eine fast körperliche Präsenz bewahren.

Maya-Frauen ehren ihre Toten und gedenken den Märtyrern.

Traditionsreiche Verpflichtungen Sebastiana hat mich für den 30. Oktober morgens früh in ihr Haus eingeladen. Die Männer laden gerade meterlange Bananenstauden vom Ochsenkarren und im Hof sitzen die Frauen zusammen und kochen Tamales mit Mole. Das ist die traditionelle Speise, die den BesucherInnen angeboten wird. Es ist Pflicht, alle Häuser zu besuchen, in denen ein Verwandter oder Freund jüngst verstorben ist. Und bei den engen verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen kommen viele Besuche zusammen. „Die Toten bringen die Lebenden ganz schön in Bewegung“, sagt Don Pancho. In Sebastianas Haus haben die Männer den Altar aufgebaut, FreundInnen und NachbarInnen haben dabei geholfen. Es ist neun Uhr morgens. Wir sitzen an der Wand um den Altar herum, und ein Schnäpschen wird angeboten. Untereinander reden die Männer ausschließlich zapotekisch, verstehen aber auch spanisch. Ich erzähle, wie es an Allerheiligen in Deutschland aussieht und treffe auf ungläubiges Erstaunen.

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Quer:denken Fair:handeln und

Wann? 5. und 6. September Wo? Franz-Hitze-Haus in Münster Produkte aus Kinderhand im Fairen Handel ... ein Mittel gegen Ausbeutung? Vorträge zur Situation von Kindern in den Ländern des Südens und über Kinderkooperativen und arbeitende Kinder in Lateinamerika. Podiumsdiskussion über das Verbot von Kinderarbeit mit VertreterInnen aus dem Fairen Handel, der Initiative zur Stärkung arbeitender Kinder (ProNats e.V.) und GewerkschafterInnen. Workshops zu den Fragen: Ein Siegel für faire Produktion aus Kinderhand? Wie können Weltläden mobilisiert und informiert werden? Und ein gespräch wie Produkte aus Kinderhand in den Fairen Handel kommen können. Anmeldungen zur Tagung bitte an: [email protected] oder unter 0251/89503 Weitere Informationen zur Tagung unter:

www.ci-romero.de/herbsttagung

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An so einer Feier hätten ja weder die Toten noch die Lebenden ihre Freude. Victor, der Sohn des Verstorbenen, von Beruf Fernfahrer, erzählt, dass er die ganze Feier nur seiner Mutter zu Liebe ausrichtet, denn das wäre für sie lebensnotwendig. Er glaube natürlich nicht an ein Leben nach dem Tod, dann sei sowieso alles zu Ende, er sei Trotzkist und also Materialist. Ein anderer pflichtet ihm bei, ihm gehe es genauso, aber er würde den Ritus auch mitmachen, denn es sei für alle wichtig, die Traditionen zu bewahren.

Friedliche Seelen statt böser Geister Dann erzählen sie genüsslich Anekdoten – durch absolut glaubhafte Personen bezeugt! – über allerhand Schabernack, den die Toten mit den Lebenden treiben. Und immer wieder Geschichten, in denen Menschen, die nicht an den Besuch ihrer Toten glaubten und nichts vorbereitet hatten, in Träumen oder noch direkter erfuhren, wie enttäuscht ihre Angehörigen dann mit leeren Händen von dannen zogen. Von Strafen oder bösartigen Streichen seitens der Verstorbenen habe ich nichts gehört, aber von dem Lärm, den etwa die Geister der Kinder machen, wenn sie in der Nacht mit ihrem Spielzeug herumtollen oder, wie die Geister ihren Angehörigen und FreundInnen Zeichen geben. Nicht jeder ist in der Lage, die Gegenwart der Toten wahrzunehmen, es gehört eine besondere mediale Befähigung dazu. Sebastiana und Victor sind stolz auf ihr Werk und ihre Toten. Für sie ist es ganz selbstverständlich, dass sie sich den Verstorbenen nah und verbunden fühlen. Außerdem beschützen die Geister die Lebenden, darum muss ihr Foto auch auf dem Altar stehen, meint Victor.

Fotos: Maik Pflaum (CIR), CIR-Archiv

r u z g n u d g a l n u g Ein a t t s b r e H R I C

Thema

Alltagskultur in Mittelamerika

Die Seelen werden nach Sonnenuntergang erwartet. Ich besuche mit einer Freundin das Haus von Anita, die vor einem halben Jahr einen Streit zwischen zwei Bekannten schlichten wollte und daraufhin von einem der beiden Streithähne erschossen wurde. Ihr Altar ist eine Stufenpyramide mit elf prächtig geschmückten und mit Gaben überladenen Stufen, wohl die katholische, neuere Form, gekrönt von einem sehr schönen Foto der Verstorbenen, und wenn ich nicht wüsste, dass sie ein Muxhe war, also ein Mann, der als Frau gelebt hat, hätte ich es nicht gemerkt. Wir nehmen dem Altar gegenüber Platz, die nächsten Angehörigen sitzen an der rechten Seite. Die Mutter und später auch die Großmutter bejammern den allzu frühen und so sinnlosen Tod der Verstorbenen mit großen theatralischen Gesten, die Klagen sind voll Pathos, von antiker Größe. Wir werden mit Kaffee und Tamales bewirtet, begleiten eine Zeitlang die Trauernden und bewundern den wunderschönen Altar. Draußen auf der Veranda sitzen ihre deutlich geschminkten und festlich zurecht gemachten Muxhe-Freundinnen, im Hof trinken und reden die Männer. Die Gespräche werden immer wieder von schallendem Gelächter unterbrochen, wenn eine besonders schlüpfrige Anspielung gelingt, auch Kritik an der Verstorbenen ist nicht ungehörig, und die Angehörigen werden in diese nicht sehr ehrfürchtigen Gesprächsrunden einbezogen. Es wird spät, bevor ich mich in meiner Hängematte in den Schlaf schaukele.

Verdiente Ruhe für die feiernden Toten Am Vormittag des zweiten November strömen aus allen Häusern Menschen mit Eimern voll Blumen, gelb leuchten-

den Blumenpacken auf den Köpfen und sogar mit Handwagen Richtung Friedhof, denn heute gilt es, die Toten wieder auf den Weg zu bringen. Wir müssen Abschied von ihnen nehmen, die jetzt zurück wandern in das Reich, wo sie zu Hause sind. Die Heilerin Na Ofelia erzählt mir am nächsten Tag, dass die Frauen mit dem Zweiten Gesicht sie sehen können, wie sie von dannen ziehen, die meisten mit Früchten und Blumen beladen, einige aber traurig und mit leeren Händen: ihnen wurde von den Verwandten kein großer Empfang bereitet. Jedenfalls hat niemand von ihnen nach allgemeiner Meinung das Fegefeuer oder gar die Hölle zu erleiden, was mir auch Pfarrer Don Pancho bestätigt. „Nein, das entspricht nicht unserer Tradition, der Tod ist für die Menschen hier die verdiente Ruhe nach einem pflichterfüllten Leben, auch wenn es dem überwiegenden Teil schon zu Lebzeiten ziemlich gut geht. Natürlich ist unser Bischof mit solchen Vorstellungen nicht einverstanden, aber die Diözese ist groß. Und im Hause des Herrn ist Platz für viele Glaubensformen.“ Als ich mit meinem Fotoapparat den Friedhof erreiche, wimmelt es dort schon von Menschen, die die Gräber putzen und mit frischen Blumen schmücken. Und wo viele Juchitecas beieinander sind, wird gleich alles Mögliche für das leibliche Wohl feilgeboten. Auch aus dem Abschied von den Verstorbenen wird unter der strahlenden Sonne wieder ein lautes und lebhaftes Fest. Es scheint beiden Seiten, den Lebenden und den Toten, gut gefallen zu haben, ein paar Tage zusammen zu verbringen. „Gehabt euch wohl denn, bis zum nächsten Mal!“ Gekürzt aus: ila 320, November 2008 Artikel in voller Länge unter: www.ila-web. de/artikel/ila320/tot_mexico.htm

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