aktuell Lipidmanagement: Das Ende der Statine? PCSK9-Hemmer Pharmakotherapie

aktuell Pharmakotherapie Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Informationsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen Jahrg. 21...
Author: Hansi Sommer
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aktuell Pharmakotherapie Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Informationsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen

Jahrg. 21, Nr. 3 | September 2016

PCSK9-Hemmer

Lipidmanagement: Das Ende der Statine?

IKA T O

ANTIBI L A

r e fü Hilf isalltag Prax zum den gen z, n u l feh nsat Emp igen Ei iele, richt piebeisp a Ther FAQs

SPEC I

STANDPUNKT

FORSCHUNG & PRAXIS

DIALOG

Delegationserklärungen: Muss der Arzt unterschreiben?

ARNI Entresto: Neue Hoffnung bei Herzinsuffizienz?

Choosing wisely: Empfehlungen für die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde

EDITORIAL

Ablösung der Richtgrößen – Neues Verfahren in der Diskussion Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege, nach dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) wird die Richtgrößenprüfung in ihrer jetzigen Form aufgehoben und durch andere Prüfmaßnahmen ersetzt.

Dr. Burkhard John Vorstandsvorsitzender KV Sachsen-Anhalt

Auf der Bundesebene wurden bereits die Rahmenvorgaben der neuen Wirtschaftlichkeitsprüfung zwischen dem Verband der gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung verhandelt. Darin sind Mindeststandards definiert, auf deren Grundlage auf der Landesebene die Prüfvereinbarung neu zu verhandeln ist. Grundsätzlich können künftig Prüfungen in allen Bereichen verordnungsfähiger Leistungen durchgeführt werden, sofern valide Verordnungsdaten zur Verfügung stehen. Dazu zählen unter anderem die Verordnungsbereiche der Krankentransportleistungen sowie der häuslichen Krankenpflege. Die Euphorie über das Entfallen der Richtgrößenprüfung kann ich aus diesem Grund noch nicht so recht teilen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Anzahl der geprüften Ärzte in der Richtgrößenprüfung sehr überschaubar ist. Wir stehen aktuell mit den Krankenkassen zur neuen Wirtschaftlichkeitsprüfung in den Verhandlungen. Unser Ziel ist es, dass die neuen Prüfmaßnahmen nicht dazu führen, noch mehr Ärzte oder Leistungsbereiche als bisher zu prüfen. Art und Umfang sollen akzeptabel sein und Strafzahlungen gehören abgeschafft. Für das Jahr 2017 haben wir uns bereits mit den Krankenkassen geeinigt – in Sachsen-Anhalt bleiben die Richtgrößen die entscheidende Kenngröße für die Wirtschaftlichkeitsprüfung im Arznei- und Heilmittelbereich. Es bleibt also vorerst einmal alles beim Alten. Einige andere Regionen testen bereits Alternativen zu den Richtgrößen. Der Medikationskatalog der Kassenärztlichen Bundesvereinigung rückt auch für uns immer stärker in den Fokus. Dieser PVS-gestützte Wirkstoffkatalog aus Standard-, Reserve- und nachrangig zu verordnenden Wirkstoffen für diverse Indikationen soll eine Entscheidungshilfe für Ärzte darstellen. Er soll unterstützend wirken im Hinblick auf eine evidenzbasierte, sichere und wirtschaftliche Verordnungsentscheidung. Es handelt sich hierbei um Empfehlungen; die freie Therapieentscheidung im Einzelfall bleibt hiervon unberührt. Ziel ist es, dass Ärzte den überwiegenden Anteil der Verordnungen entsprechend den Empfehlungen aus dem Medikationskatalog tätigen. Dieser Katalog könnte aus unserer Sicht einen relevanten Beitrag zur Arzneimitteltherapiesicherheit leisten. Von der Idee bis hin zur Umsetzung müssen jedoch einige Hindernisse überwunden werden. Über die Ergebnisse der Verhandlungen mit den Krankenkassen zur Einführung neuer Prüfmaßnahmen im Bereich der Wirtschaftlichkeitsprüfung werden wir Sie zu gegebener Zeit informieren. Herzliche Grüße Ihr

Burkhard John

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KVH aktuell 3|2016

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Inhalt

SCHWERPUNKT

SEITEN 4 –11

PCSK9-Hemmer Lipidtherapie: Der G-BA springt über seinen Schatten!

NACHRICHTEN

SEITEN 12 –14

Olmesartan: Wegen Sicherheitsbedenken in Frankreich nicht mehr erstattungsfähig Schlaganfälle: Versagt ASS wirklich? Evidence based medicine: Wissenschaft auf Abwegen? Vitamin D: Hype um das „Sonnenhormon“

SPECIAL ANTIBIOTIKA

SEITEN I –XVI

Antibiotikatherapie Wann verschreiben?

STANDPUNKT

SEITEN 15 –17

Delegation: Muss der Arzt unterschreiben? Flibanserin: Pharmamarketing made in USA

FORSCHUNG & PRAXIS

SEITEN 18 –23

Sacubitril/Valsartan (Entresto): Der neue Standard bei Herzinsuffizienz? Nutzenbewertung: Eine Frage der Methodik NOAK: Erhöhtes Blutungsrisiko bei Multimedikation ESUS: Neue Ideen zum Apoplex

DIALOG

SEITEN 24 –26

Choosing wisely: Klug entscheiden in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Impressum

Hinweis: Angaben zu möglichen Interessenkonflikten der Autoren dieses Magazins können bei der Redaktion ([email protected]) erfragt werden. In KVH aktuell genannte geschützte Produktnamen sind, unabhängig davon, ob sie als solche gekennzeichnet sind, Marken und/oder Warenzeichen der jeweiligen Rechteinhaber und somit nicht frei verwendbar. Auf eine Kennzeichnung der Produktnamen mit einem Warenzeichen wird daher verzichtet.

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SCHWERPUNKT

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PCSK9-HEMMER SCHWERPUNKT

Lipidtherapie: Der G-BA springt über seinen Schatten! Eine neue Klasse von Cholesterinsenkern sorgt seit Monaten für Aufsehen: die PCSK9-Hemmer. PCSK9 steht für Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin 9, ein Enzym, das die neuen Wirkstoffe blockieren. Selten waren die Studiendaten einer Cholesterintherapie so beeindruckend wie bei PCSK9-Hemmern. Doch wie funktionieren diese Substanzen, welche Nachteile haben sie und erfüllen sie die Erwartungen, die in sie gesetzt werden? Sonderregelungen zu ihren Gunsten sollen bereits die Behandlung von Hochrisikopatienten möglich machen. Und das, obwohl kein Zusatznutzen belegt ist.

Dr. med. Jürgen Bausch Kinderarzt und Allgemeinmediziner, Ehrenvorsitzender der KV Hessen KONTAKT

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M SCHWERPUNKT

it einer vertraglichen Abmachung haben zwei pharmazeutische Unternehmer, der Spitzenverband der Krankenkassen und der G-BA einen neuen und für viele nicht vorhersehbaren Weg beschritten. Zwei neue Cholesterinsenker aus der Gruppe der PCSK9-Inhibitoren, die untereinander sehr ähnlich sind, wurden vom G-BA und IQWiG negativ bewertet. Ein Zusatznutzen sei nicht nachgewiesen, weil in den vorliegenden klinischen Studien nur Surrogatendpunkt „LDLCholesterin“ gesenkt wurde. Der Nachweis einer Reduktion von Herzinfarkten, Schlaganfällen und kardiovaskulärer Mortalität konnte bisher nicht erbracht werden. Das ist normalerweise das „Aus“ für einen Erstattungspreis oberhalb des Durchschnittspreises der zweckmäßigen Vergleichstherapie: also eines generischen Statins. Andererseits zeigten die Daten in den Zulassungsdossiers, dass das LDL-Cholesterin in erheblichem Umfang und dabei ohne bedenkliche Nebenwir-

kung gesenkt werden konnte. Diesen therapeutischen Effekt kann man bei zugelassenen Arzneimitteln Patienten nicht vorenthalten, die aus verschiedenen Gründen einer umgehenden Cholesterinsenkung bedürfen – auch wenn der klinische Endpunkt, die Reduktion der kardiovaskulären Mortalität, noch nicht gezeigt werden konnte. Nur aus dieser Gemengelage ist der Kompromiss nachvollziehbar, der zwischen pharmazeutischen Unternehmern, dem Spitzenverband der Krankenkassen und dem G-BA erreicht wurde und jetzt eine Verordnung der neuen Wirkstoffe bei Patienten mit genetischen Defekten, Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit der Statine ermöglicht.

Risikofaktor Hypercholesterinämie Seit man nach dem Zweiten Weltkrieg die katastrophale Nahrungsmittelverknappung in Europa überwunden hatte, Fehlernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel als Verursacher der Zivili-

PCSK9 LDLR

LDL-C

Durch die Blockade des PCSK9-Substrats (braun) wird eine Steigerung der Expression von LDL-Rezeptoren (grün) auf der Leberzelle ermöglicht. Dies hat die direkte Folge, dass vermehrt Cholesterin (vor allem LDL-C, blau) aus dem Blut in die Leber gelangt und dort abgebaut wird (siehe Seite 8).

LEBER LYSOSOM

Ohne PCSK9-Antikörper: 6

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LDLR, LDL-C

ohne Berücksichtigung des Risikoprofils eines Patienten waren Generationen von Ärzten beteiligt. Den Patienten war es recht. Auch ohne Diät und Bewegung war die Pille gegen Cholesterin im Blut scheinbar eine „Absolution“ für modernes Fehlverhalten in der Industriegesellschaft.

SCHWERPUNKT

sationskrankheiten identifiziert worden waren, ist ein simpler Laborwert namens „Cholesterin“ in wenigen Jahren Bestandteil unserer Umgangssprache geworden. Erhöhtes Cholesterin und Herzinfarkt samt Schlaganfällen sind im Laienverständnis zwei Seiten der gleichen Medaille. In Fachkreisen war schon lange klar: Erhöhte Cholesterinwerte sind einer von vielen Risikofaktoren für kardiovaskuläre Desaster. Da aber viele andere Risikofaktoren wie Lebensstil, Alter, Geschlecht, genetisches Profil usw. nicht korrigiert werden können, konzentriert sich das ärztliche Handeln auf den Laborparameter „Cholesterin“. Insbesondere auf das LDL-Cholesterin, und das mit immer intensiver werdenden Mühen einer therapeutischen Zielwerterreichung. Über die Jahrzehnte wurden ohnehin die als tolerant geltenden Normwerte mehrfach gesenkt. An der schematischen und oft auch übertriebenen Behandlung von Surrogatparametern erhöhter Cholesterinwerte

Leitsubstanz Statin Lange Jahre waren und sind die Statine mit ihren cholesterinsenkenden Effekten die Leitsubstanzen weltweit. Die Ezetimib-Rolle wird immer noch kontrovers diskutiert, da Studienergebnisse zu Mortalität und Morbidität im Verbund mit Statinen nicht so recht überzeugen wollen. Da die überwiegende Zahl der zurzeit verfügbaren Wirkstoffe generisch – sprich billig – zur Verfügung steht, ist der Streit um die Sinnhaftigkeit der verbreiteten reinen Surrogattherapie als unwirtschaftliches Handeln der Kassenärzte abgeflaut. Die diesbezüglichen Therapiehinweise des G-BA

LDL-C

mAb

LDLR

LEBER LDLR-Recycling

Mit PCSK9-Antikörpern:

LDLR, LDL-C

Quelle: nach Asher Mullard, Nature Reviews Drug Discovery 11, 2012, doi: 10.1038/nrd3879

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SCHWERPUNKT

JAHRESTHERAPIEKOSTEN (IN EURO)

2,56 Milliarden Bei Jahrestherapiekosten pro Patient von etwa 9.500 Euro (vor Preisverhandlungen) und geschätzten 270.000 Patienten errechnet sich ein Betrag von 2,56 Mrd. Euro pro Jahr. Das ist gewaltig und beitragssatzrelevant. Quelle: Prof. Ulrich Schwabe, Pharmakologisches Institut der Universität Heidelberg, Mai 2016

und die Aktivitäten der KVen zur Ausgabensteuerung in der Lipidtherapie sind dank generischem Wettbewerb Vergangenheit.

PCSK9-Antikörper Die Inhibierung des Enzyms PCSK9 (Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9) stellt einen innovativen neuen Ansatz dar, um die LDL-CKonzentration zu senken. Die Hemmung des PCSK9-Signalwegs wird als neuer Wirkmechanismus zur Beeinflussung des Lipidstoffwechsels seit 2002 untersucht. Inzwischen hat sich gezeigt, dass PCSK9 ein Protein ist, das eine wichtige Rolle bei der Senkung von zirkulierendem LDL-Cholesterin spielt. Dies geschieht folgendermaßen: Auf den Leberzellen befinden sich Rezeptoren für LDL-Cholesterin. Bindet LDL-Cholesterin daran, werden die Partikel zusammen mit dem Rezeptor internalisiert und metabolisiert. Danach kann der Rezeptor zwei Wege nehmen: Entweder er kehrt an die Oberfläche der Zelle zurück oder er wird, wenn zusätzlich zum LDL-Cholesterin das PCSK9Protein an ihn gebunden ist, durch Proteolyse abgebaut. Damit stehen weniger Rezeptoren an der Zelloberfläche zur Verfügung, die weiteres LDL-Cholesterol aus dem Blut binden können. Dessen Wert steigt infolgedessen. PCSK9-Antikörper wie Evolocumab fangen PCSK9 ab, sodass die LDL-Rezeptoren immer wieder an die Zelloberfläche zurückkehren können, was zur Senkung des LDL-Cholesterins führt. Ob es dadurch tatsächlich auch zu einer Minderung von Herzinfarkten und Schlaganfällen kommt – also zu einer Risikoreduktion von Morbidität und Mortalität – ist bisher noch nicht bekannt.

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Wirkstoffe auf dem Markt Zur Wirkstoffgruppe der PCSK9-Antikörper gehören Evolocumab (Repatha) und Alirocumab (Praluent). Beide Substanzen verfügen in Deutschland über eine Zulassung und eine aktuelle Nutzenbewertung des G-BA. Ganz vereinfacht ausgedrückt fördern diese neuen Wirkstoffe den Cholesterinabbau in der Leber. Das tun sie zuverlässig und in erheblichem Umfang. Ohne bedenkliche Nebenwirkungen, auch bei Patienten, die bereits zuvor ohne hinreichenden Erfolg mit Statinen behandelt worden waren. Neben den oben genannten Studien wurde 2015 auch eine Meta-Analyse von mehreren Phase-2- und Phase-3-Studien mit Evolocumab durchgeführt. Danach bestätigt die Auswertung der Daten die reproduzierbare und dauerhafte LDL-C-Senkung des LDL-Cholesterins und beschreibt darüber hinaus erstmals, dass mit dieser LDL-C-Senkung eine Reduktion der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität möglich scheint. Diese Daten werden durch die Publikationen zu Alirocumab gestützt, die bezüglich LDLCholesterin-Senkung und Langzeitdaten ähnliche Ergebnisse zeigen. Eine Meta-Analyse von Studien, die an 10.159 Patienten durchgeführt wurden, bestätigt die konsistente LDL-CholesterinSenkung. Evolocumab (Repatha) und Alirocumab (Praluent) verfügen über eine breite Zulassung, die nicht nur Patienten umfasst, die zu der seltenen Gruppe der hoch gefährdeten homo- und heterozygoten Dyslipidämien zählen, sondern auch zur Therapie von Patienten mit Statinintoleranz, Kontraindikationen und solchen, bei denen trotz maximal verträglicher Statintherapie die Zielwerte nicht erreicht werden.

쐍 heterozygot familiärer oder nicht familiärer Hypercholesterinämie oder gemischter Dyslipidämie bei therapiefraktären Verläufen, bei Mit der äußerst erfolgversprechenden neuen denen trotz einer über einen Zeitraum von Wirkstoffgruppe erhöht sich allerdings das Risiko 12 Monaten dokumentierten maximalen erheblicher Ausgabensteigerungen in diesem diätetischen und medikaSektor deutlich. Bei Jahresthementösen lipidsenkenden rapiekosten pro Patient von etwa 9.500 Euro (vor PreisverPCSK9-Hemmer dürfen Therapie (Statine und/oder handlungen) und geschätzten nur durch Kardiologen, andere Lipidsenker bei StatinKontraindikation) der LDL270.000 Patienten errechnet Nephrologen, Diabeto- C-Wert nicht ausreichend sich ein Betrag von 2,56 Mrd. Euro pro Jahr. Das ist gewaltig logen, Endokrinologen gesenkt werden kann und und beitragssatzrelevant. Der oder an Ambulanzen für daher davon ausgegangen wird, dass die Indikation G-BA hat, auch ohne auf die Lipidstoffwechselstözur Durchführung einer filigranen Einzelheiten der abgeschlossenen Bewertungsrungen tätige Fachärzte LDL-Apherese besteht. Es kommen nur Patienten verfahren einzugehen, festgeverordnet werden. infrage mit gesicherter, stellt: „Ein Zusatznutzen ist progredienter vaskulärer nicht belegt.“ Normalerweise Erkrankung (KHK, cerebrovaskuläre Manifestaist nach solch einem negativen Bewertungstion, pAVK) sowie regelhaft weiteren Risikofakergebnis für den Hersteller die Party beendet. Er toren (z. B. Diabetes mellitus, Nierenfunktion hat bei Arzneien ohne Zusatznutzen nur einen GFR unter 60ml/min oder Herzinsuffizienz Erstattungspreis unterhalb der zweckmäßigen Vergleichstherapie zu erwarten oder solche NYHA III und IV). Wirkstoffe werden – so vorhanden – in eine Fest- Das Arzneimittel darf nur durch Kardiologen, betragsgruppe eingruppiert. Das ist für eine Neu- Nephrologen, Diabetologen, Endokrinologen oder entwicklung zu wenig. Nicht aber im Fall von an Ambulanzen für Lipidstoffwechselstörungen Evolocumab und Alirocumab. Hier hat sich der tätige Fachärzte verordnet werden (Originalton des G-BA im Einvernehmen mit den beiden Herstellern G-BA). Für Evolocumab liegt seit dem 1.8.2016 und dem Spitzenverband der Krankenkassen ent- der Bescheid der Nichtbeanstandung durch das schlossen, eine vollkommen unkonventionelle Bundesgesundheitsministerium vor, womit einer Entscheidung zu treffen, die bisher ohne Beispiel Veröffentlichung im Bundesanzeiger nichts mehr ist: Die beiden neuen Produkte im deutschen im Wege steht. Ähnliches ist für Alirocumab zu Markt werden zwar von einer Verordnung zulas- erwarten. Denn am 4.8.2016 hat der G-BA zu ten der gesetzlichen Kassen ausgeschlossen, aber Alirocumab bereits einen nahezu ergebnisgleies werden wichtige Ausnahmen zugelassen. chen Beschluss gefasst.

Extreme Kosten und kein Zusatznutzen

Zusammengenommen stehen mit den als zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmten Lipidsenkern im Vergleich zu Evolocumab andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Der Verordnungsausschluss gilt nicht für Patienten mit 쐍 familiärer, homozygoter Hypercholesterinämie, bei denen medikamentöse und diätetische Optionen zur Lipidsenkung ausgeschöpft worden sind, oder

SCHWERPUNKT

Aktuelle Beschlüsse zu den neuen Substanzen

Nur auf dem Papier Das gab es bislang nicht, dass zwei Hersteller einverstanden waren, dass ihr Produkt nicht verordnet werden darf. Allerdings ist dies kein kompletter Ausschluss. Und die Zustimmung war auch nur möglich, weil in der frühen Nutzenbewertung klinisch relevante Studiendaten noch nicht geliefert werden konnten. Man darf aber davon ausgehen, dass die beiden Hersteller samt der Fachwelt der Lipidologen sich sicher sind, dass die PCSK9-Inhibitoren nach den Statinen durch die Lieferung

Struktur eines Cholesterinmoleküls

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SCHWERPUNKT

klinischer Belege werden zeigen können, dass sie im Vergleich zur zweckmäßigen Vergleichstherapie einen Zusatznutzen aufweisen. Die 4-S-Studie zu Simvastatin und die WOS-Studie zu Pravastatin lassen herzlich grüßen! Einschlägige Studien laufen weltweit. So können Patienten mit schwerer familiärer Hyperlipidämie mit den neuen und hochwirksamen Mitteln behandelt werden. Das gilt auch für den einen oder anderen Problemfall, zum Beispiel aus den Lipidambulanzen, wegen Unverträglichkeit oder Kontraindikationen. Für die Firmen bedeutet dieses Agreement, dass sie nicht entscheiden müssen, ob sie im deutschen Markt bleiben sollen oder nicht. Denn nahezu alle Patienten, die von der neuen Therapie profitieren könnten, sind eingeschlossen in den G-BA-Beschluss. Und beide Hersteller haben Zeit, die erforderlichen Daten nachzuliefern, nach denen dann eine Neubewertung erfolgen wird. Bis dahin wird man auch mehr über die Frage wissen, ob und welche Langzeitprobleme auftauchen, wenn man LDL-Cholesterin extrem stark im Serum vieler Menschen absenkt, um Infarkte zu vermeiden. „Es liegt in der Natur der Dinge, dass man nicht ein Übel beseitigen kann, ohne dass es an einer anderen Stelle wieder auftaucht.“ Das hat bereits

vor 500 Jahren Macchiavelli festgestellt, aber der war bekanntlich Politiker und kein Lipidologe.

G-BA auf neuen Wegen Der G-BA hat bei der neuen Wirkstoffgruppe der PSCK9-Inhibitoren eine kluge Entscheidung herbeigeführt, die in den Vorgaben des AMNOG und der Verfahrensordnung des G-BA nicht vorgesehen ist. Denn beide Hersteller müssten aus ökonomischen Zwängen den deutschen Markt verlassen, um sich den Referenzpreis für Europa und Asien nicht zu verderben. Was mit Blick auf die Versorgung von Patienten mit schweren Hypercholesterinämien, denen man trotz vorhandener therapeutischer Alternativen nicht beikommen kann, nicht zu verantworten gewesen wäre. Dennoch: Klinisch relevante Ergebnisse fehlen und müssen geliefert werden. Bleibt es bei den bisher bekannten Sicherheitsdaten von Repatha und Praluent, dann werden diese Neulinge auf dem Lipidmarkt spätestens mit dem Patentverlust als Generikum der weltweite Therapiestandard. Es sei denn, dass trotz gesenkter LDL-Cholesterinspiegel kardiovaskuläre Ereignisse nicht reduziert werden könnten. Oder eine zu extreme Absenkung des Cholesterins nicht neue, aber andere Probleme provozieren würde. 쮿

FAZIT In der Therapie erhöhter LDL-Cholesterinwerte von Patienten bahnt sich ein beachtlicher Fortschritt an. Zwei neue Wirkstoffe aus der Gruppe der PCSK9-Hemmer wurden zugelassen und zeigen eine hohe zusätzliche Effektivität im Vergleich zu den Statinen. Die Nutzenbelege für eine klinisch relevante Reduktion der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität fehlen allerdings aus Zeitgründen – wegen der langen Studiendauer – bisher noch.

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Über vertragliche Sonderregelungen haben G-BA, Spitzenverband Bund der Krankenkassen (SpiBu) und Hersteller einen Weg gefunden, der sicherstellt, dass die beiden Wirkstoffe Hochrisikopatienten verordnet werden können – obwohl sie zurzeit keinen belegten Zusatznutzen haben. Zumindest so lange, bis klinisch relevante Studienergebnisse vorliegen und Sicherheitsbedenken in der Langzeitanwendung ausgeräumt wurden.

SCHWERPUNKT

WUNDERWAFFE PCSK9-ANTIKÖRPER? Diskutieren Sie mit uns! 쐍 Sollte mit der Verordnung der neuen PCSK9Antikörper nicht gewartet werden, bis große und valide Endpunktstudien Vorteile bezüglich der (kardiovaskulären) Morbidität und Mortalität erbracht haben?

쐍 Wie viele Jahre (Studien-)Anwendung des Medikamentes sollten abgewartet werden, um eventuell schädliche Nebenwirkungen einer solch drastischen LDL-Senkung zu erfassen? DR. MED. CHRISTIAN ALBRECHT FACHARZT FÜR INNERE MEDIZIN UND KARDIOLOGIE

쐍 Sind Bedenken gegen die Anwendung übertrieben, da durch die PCSK9-Antikörper auf molekularer bzw. Rezeptor-Ebene (und eben nur dort) eine Situation geschaffen wird, die der Genetik der Menschen mit sehr niedrigem LDL und sehr niedriger CV-Mortalität entspricht und die nur wenige Nebenwirkungen erwarten lässt?

쐍 Kann diese „simulierte gute" Genetik den Wunsch nach Indikationsausweitung hervorrufen? Möchte nicht jeder mit einer Pille seine Blutfette und sein kardiovaskuläres Risiko drastisch senken – und dabei den ungesunden Lebensstil beibehalten?

Auswahl der einschlägigen Literatur: - Helmut Gohlke: Die Cholesterinlüge. kvh.link/1603001 - Cholesterol Treatment Trialists, C. et al., Efficacy and safety of LDL-lowering therapy among men and women: meta-analysis of individual data from 174 000 participants in 27 randomised trials. Lancet, 2015. 385 (9976): p. 1397–1405. kvh.link/1603002 - Bekanntmachung eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) in Anlage IV: Therapiehinweis zu Ezetimib vom 17. Dezember 2009. kvh.link/1603003 - Horton, J.D., J.C. Cohen, and H.H. Hobbs, PCSK9: a convertase that coordinates LDL catabolism. J Lipid Res, 2009. 50 Suppl: p. S172–7. kvh.link/1603004 - Horton, J.D., J.C. Cohen, and H.H. Hobbs, Molecular biology of PCSK9: its role in LDL metabolism. Trends Biochem Sci, 2007. 32 (2): p. 71–7. kvh.link/1603005 - Robinson J.G., et al., Effect of evolocumab or ezetimibe added to moderate- or high-intensity statin therapy on LDL-C lowering in patients with hypercholesterolemia: the LAPLACE-2 randomized clinical trial, JAMA, 2014. kvh.link/1603006 - Raal, F.J., et al., PCSK9 inhibition with evolocumab (AMG 145) in heterozygous familial hypercholesterolaemia (RUTHERFORD-2): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet, 2015. 385 (9965): p. 331–40. kvh.link/1603007 - Blom, D.J., et al., A 52-week placebo-controlled trial of evolocumab in hyperlipidemia. N Engl J Med, 2014. 370 (19): p. 1809-19.

DOI: 10.1056/NEJMoa1316222. kvh.link/1603008 - Sabatine, M.S., et al., Efficacy and safety of evolocumab in reducing lipids and cardiovascular events. N Engl J Med, 2015. 372 (16): p. 1500–9. kvh.link/1603009 - Robinson, J.G., et al., Efficacy and safety of alirocumab in reducing lipids and cardiovascular events. N Engl J Med, 2015. 372 (16): p. 1489–99. kvh.link/1603010 - Navarese, E.P., et al., Effects of Proprotein Convertase Subtilisin/Kexin Type 9 Antibodies in Adults With Hypercholesterolemia: A Systematic Review and Metaanalysis. Ann Intern Med,2015. 163 (1): p. 40–51. kvh.link/1603011 - Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln gemäß § 35a SGB V - Arzneimittel-Richtlinie/Anlage III: Einleitung eines Stellungnahmeverfahrens – Nummer 35a – Evolocumab. kvh.link/1603012 - Randomised trial of cholesterol lowering in patients with coronary heart disease: the Scandinavian Simvastatin Survival Study (4S). Lancet. 1994 Nov 19; 344 (8934): p. 1383–9. kvh.link/1603013 - Shepherd, J., et al., Prevention of coronary heart disease with pravastatin in men with hypercholesterolemia. West of Scotland Coronary Prevention Study Group. N Engl J Med. 1995 Nov 16; 333 (20): 1301–7. kvh.link/1603014 - Arzneimittel-Richtlinie/Anlage III: Verordnungseinschränkungen und -ausschlüsse Alirocumab. kvh.link/1603015

Die umfangreiche Recherche der interessierenden Literatur verdankt der Autor Dr. M. Albring, IMPLICON, Berlin

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NACHRICHTEN

OLMESARTAN

Quellen: 1. kurz und bündig, arznei-telegamm 2016; 47: 4, 39 (kostenpflichtiger Artikel) 2. Déremboursement des spécialités à base d’olmésartan dans le traitement de l’hypertension artérielle – Communiqué, Agence nationale de sécurité du medicament et des produits de santé (ANSM), 22.6.2016. kvh.link/1603016

Wegen Sicherheitsbedenken in Frankreich nicht mehr erstattungsfähig Seit 2013 ist bekannt, dass das Antihypertensivum Olmesartan zu Zöliakie-ähnlicher Enteropathie mit Durchfällen, Gewichtsverlust und Schädigung der Dünndarmmukosa führen kann. Die Symptome können auch erst nach längerer Einnahme auftreten (KVH aktuell berichtete in 1/2014). Zudem ist Olmesartan bis heute – 14 Jahre nach Markteinführung – den Nachweis einer relevanten Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen in klinischen Studien schuldig geblieben.1 Ein Umstand, der gleichermaßen für alle als Antihyperten-

siva zugelassenen Angiotensin-II-Rezeptorblocker („Sartane“) zutrifft. Wie die französische Arzneimittelbehörde ANSM den Ärzten und Apotheken des Landes mitgeteilt hat, ist Olmesartan wegen des unzureichenden Nutzen-NebenwirkungsProfils nicht weiter verordnungsfähig. Dies gelte ab Juli 2016, sowohl für Einzel- als auch für Kombipräparate, für alle gesetzlichen Krankenkassen des Landes.2 Allgemein werden andere Angiotensin-II-Rezeptorblocker (z. B. Losartan) als nebenwirkungsärmer eingestuft.1  DR. MED. STEFAN GRENZ

SCHLAGANFÄLLE

Versagt ASS wirklich? Der Begriff „Sekundärversagen“ klingelt häufig in den Ohren, wenn ein Patient unter laufender Behandlung mit ASS einen Schlaganfall erleidet. Leider führt diese Vorstellung allzu häufig zum Reflex, auf einen anderen Wirkstoff zurückzugreifen. Der Hersteller von Ticagrelor hatte auf der Suche nach weiteren Indikationen für seinen Wirkstoff die Studie SOCRATES initiiert, bei der ASS gegen Ticagrelor nach Schlaganfall geprüft wurde.1 Der Arzneimittelbrief berichtet in seiner Quellen: Juniausgabe 2016 darüber, dass die SOCRATES1. https://clinicaltrials.gov/ ct2/show/NCT01994720 Studie keinen Vorteil für Ticagrelor als Monotherapie gegenüber ASS-Mono zeigen konnte.2 2. AMB 2016, 50, 42

Die Anhänger der Theorie, dass das Auftreten eines Schlaganfalls unter ASS-Behandlung als Versagen dieses Wirkstoffs anzusehen sei, leben möglicherweise in der Vorstellung, dass wir mit Medikamenten 100-prozentigen Schutz zu bieten vermögen. Offensichtlich bleiben Hochrisikopatienten auch unter Behandlung – welcher auch immer – weiterhin für die krankheitsspezifischen Komplikationen gefährdet. Vorläufig müssen wir uns mit diesem Manko wohl abfinden. Bei einem Schlaganfall unter Behandlung mit ASS bleibt dieses Medikament weiterhin das Mittel der Wahl für die Fortbehandlung.  DR. MED. JOACHIM SEFFRIN

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EVIDENCE BASED MEDICINE

Wissenschaft auf Abwegen?

Schonungslose Kritik John Ioannidis hat unser einigermaßen unpräzises Gefühl, dass wir mehr oder weniger systematisch durch Studien betrogen und damit beim Entscheiden und Handeln fehlgeleitet werden, mit seinem Bericht sehr gut belegt. Worauf können wir unser Urteil, unsere Empfehlungen und unsere Behandlung der Patienten tatsächlich noch gründen? EbM auf den Müll? Alles sinnlos? Man könnte eigentlich verzweifeln. Nein, man muss Ioannidis zustimmen, dass EbM weiter Zielvorgabe bleiben muss. Dazu müssen aber einige prinzipielle Änderungen am System vorgenommen werden. Hier kommt einmal mehr die Politik ins Spiel: Sie ist, wie für viele unserer

Lebensbedingungen, auch hier in der Verantwortung. Dieser wird sie aber allzu oft nicht gerecht.

Aufgabe der Politik Die Regierenden haben endlich Regelungen zu treffen, die uns und unsere Patienten neben vielen kleinen Schummeleien auch vor systematischem, groß angelegtem Betrug schützen. Sie müssen endlich die Kraft aufbringen, sich dem Druck (Sicherung von Arbeitsplätzen) und den Verheißungen (lukrative Posten nach oder sogar während der Amtszeit) zu widersetzen und den Auftrag ihrer Wähler umzusetzen. Dieser liegt darin, vor allem Bürgerinteressen zu vertreten und nicht primär die der Industrie. Neben ungezählten Fehlkonstruktionen im Wissenschaftsbetrieb, die abzustellen sind, steht ganz an oberster Stelle die Forderung, Pharmaforschung und Studien den Händen von „Big Pharma“ zu entreißen und anderen Institutionen zu übertragen. Vorschläge zur Finanzierung gibt es genug, es fehlt dazu nur der politische Wille und der Mut zur Umsetzung. Offensichtlich sind sich die Verantwortlichen – ob in der Regierung oder der Industrie – nicht bewusst, dass auch sie mit Sicherheit irgendwann Patienten sein werden. Und dann?  DR. MED. JOACHIM SEFFRIN

NACHRICHTEN

Ein Bericht von John Ioannidis zum Zustand der Evidence based medicine (EbM) im Journal of Clinical Epidemiology ist zutiefst beunruhigend:1 Hijacking der Wissenschaft durch die Pharmaindustrie und andere Interessengruppen? Viele von uns haben in den letzten Jahren zunehmend den Eindruck bekommen, dass im Wissenschaftsbetrieb offensichtlich einiges auf Abwege geraten ist. Gefälschte Studien, unfaire Vergleiche mit der Prüfsubstanz, zurechtgebogene, spitzfindig entwickelte Studiendesigns, die die gewünschten Ergebnisse liefern, Milliardenstrafen für Pharmakonzerne wegen Betrugs und vieles, leider allzu vieles mehr. Selbst Leitlinien, Beurteilungen des IQWiG oder der Cochrane Collaboration werden fragwürdig, weil deren Datengrundlagen getürkt sind. Auch eine bestimmte Spezies von Wissenschaftlern bekommt ihr Fett ab, während Ioannidis praktizierende Ärzte lobt.

Der Pharmadialog 2016 (Herausgeber sind das Bundesgesundheitsministerium und weitere Ministerien) fasst Ergebnisse der Verhandlungen zwischen Pharmaindustrie und Politik zusammen. Diese finden ohne die Ärzteschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und zeigen das Entgegenkommen der Regierung für die Industrie:

kvh.link/1603017 HINTERGRUND

Quelle: Journal of Clinical Epidemiology 73 (2016) 82-86

Kostenlos einsehbarer Originalartikel: kvh.link/1603018 INTERNET

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VITAMIN D

NACHRICHTEN

Hype um das „Sonnenhormon“

Quelle: Arzneimittelbrief (AMB) 2016, 50, 43

Wenn es darum geht, etwas zu bewerben (hier das „Sonnenhormon Vitamin D“), sind der Fantasie wohl keine Grenzen gesetzt. Dafür ist die Landung in der Wirklichkeit umso härter. In seiner Juni-Ausgabe 2016 berichtet der Arzneimittelbrief wieder einmal über den aktuellen Kenntnisstand zu Vitamin D. Landauf, landab wird fleißig Vitamin D bestimmt, rezeptiert und verkauft. Viele Patienten fragen besorgt nach ihrem Vitamin-DSpiegel und wünschen diesen bestimmt zu bekommen, in der Laienpresse wie in der Fachpresse wird ständig über die angeblichen Wohltaten der Vitamin-D-Substitution berichtet. Eine schier endlose Liste von Symptomen wird Vitamin-D-Mangel zugeschrieben. An harten Daten gibt es aber wenig. Eine Arbeitsgruppe aus Zürich hat nun geprüft, inwieweit Vitamin D Stürze verhindern kann. Kurz: kann es nicht. In dieser Untersuchung zeigte sich, dass bei einer regelmäßigen, länger dauernden Einnahme insbesondere bei höherer Dosis die Sturzhäufigkeit sogar zunimmt. Die

Autoren des Arzneimittelbriefs verweisen noch auf eine frühere Ausgabe ihres Journals, in der sie eine Studie vorgestellt hatten, wonach Frauen nach der Menopause, die sich normal ernähren und sich außerhalb des Hauses bewegen können, keinerlei Vitamin-D-Gaben benötigen. Bevor wir durch nicht indizierte Behandlungen, deren Rationale auf dürftigen wissenschaftlichen Daten beruht, unsere Patienten mit nicht absehbaren Komplikationen gefährden, sollten wir besser abwarten, was weitere Studien zeigen. Irrationalen Patientenwünschen aufgrund von Modeströmungen und Werbemaßnahmen sollten sich verantwortungsvolle Ärzte widersetzen und sich mehr mit den Beschwerdeklagen ihrer Patienten beschäftigen. Es dürfte segens- und aussichtsreicher für eine adäquate Behandlung sein, den Patienten genau zuzuhören und nachzufragen, welche Sorgen sie haben, als eine Bestimmung des VitaminD-Spiegels im Labor anzufordern.  DR. MED. JOACHIM SEFFRIN

VERORDNUNGSFÄHIGKEIT ZU GKV-LASTEN Die Arzneimittelrichtlinien sehen vor, dass Calciumund Vitamin-D-haltige Präparate als Mono- oder Kombinationspräparate nur verordnungsfähig sind bei:

■ Patienten mit manifester Osteoporose,

■ Patienten, die ein Prednisolon-Äquivalent von 7,5 mg über ein halbes Jahr einnehmen müssen,

■ Patienten, die Bisphosphonate erhalten.

Quelle: Arzneimittel-Richtlinie

14

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Autor: Klaus Hollmann

SPECIAL ANTIBIOTIKA

ANTIBIOTIKATHERAPIE

Wann verschreiben? Resistenzentwicklung ist ein ständiger Begleiter bei der Therapie mit Antibiotika. Worauf es bei ihrem Einsatz besonders ankommt. DR. MED. GERT VETTER

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I

W

SPECIAL ANTIBIOTIKA

ir setzen Antibiotika ein, als wären sie selbstverständlich. Das war jedoch noch nie wirklich so. Denn die Probleme mit multiresistenten Keimen rücken in den letzten Jahren immer deutlicher in den Fokus. Klar ist: Je mehr Antibiotika verordnet werden, desto eher werden sich resistente Keime entwickeln. Entsprechend entstandene Plasmide in den Bakterienzellen bauen Antibiotika ab, deaktivieren sie und schleusen sie aus der Zelle aus. Ein wichtiger Punkt, um die Resistenzentwicklung in Grenzen zu halten, ist der verantwortungsvolle Einsatz von Antibiotika: Die Bereiche Krankenhaus (multiresistente gramnegative Bakterien, MRGN bis

4 Antibiotikaklassen), Behandlung im Ausland (besonders E. coli) und Tierhaltung entziehen sich dem Einfluss der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. Unter diesen werden die meisten Antibiotika von Hausärzten verordnet. Das ist ihrer größeren Anzahl im Vergleich zu den verschiedenen Spezialisten geschuldet. Im 2. Quartal 2008 erhielten laut AQUA-Institut (Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen, www.aqua-institut.de) 16,2 Prozent aller Patienten in Hausarztpraxen ein Antibiotikum. Dies machte 5,7 Prozent aller Verordnungen aus. Der Kostenanteil betrug 3,0 Prozent.

INDIKATIONSBEZOGENE ANTIBIOTIKA-VERORDNUNG IN NIEDERGELASSENEN PRAXEN 2012 90%

❚ Neue Bundesländer ❚ Alte Bundesländer 80%

Antibiotikaverordnungsrate in %

70%

60%

50%

81% 81%

40%

30%

57%

60%

59% 55% 49%

48% 20%

38% 29% 31%

28%

10%

0% AtemwegsInfektionen

Pharyngitis/ Tonsillitis

Quelle: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, 2014

II

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Scharlach

Pneumonie

Otitis media

HarnwegsInfektionen

SPECIAL ANTIBIOTIKA

AMBULANTE ANTIBIOTIKAVERORDNUNGEN IN HESSEN 2014 (IN EURO)

2,52 Millionen Quelle: Insight Health und „Weniger ist mehr“: Antibiotikaverbrauch in der Arztpraxis in Hessen 2008–2014, Gesundheitsamt Frankfurt und Kassenärztliche Vereinigung Hessen

Sechs Therapiebeispiele Anhand von sechs Fällen1 möchte dieser Artikel das Für und Wider einer Therapie mit Antibiotika sowie deren Auswahl auf der Basis von DEGAM-

Leitlinien, internationaler Literatur sowie der täglichen praktischen Arbeit (Alltagserfahrungen) diskutieren:

1. Sinubronchialer Infekt Eine 29-jährige Patientin leidet seit zwei Wochen an Husten mit gelblichem Auswurf. Sie ist fieberfrei und ansonsten gesund. Auskultatorisch finden sich grob- bis mittelblasige Rasselgeräusche ohne Spastik. Ziel der Patientin ist es, ihren Husten schnellstmöglich loszuwerden. Unsere Aufgabe ist es, eventuell gefährliche Verläufe wie eine schwere Pneumonie abzuwenden. Bei der akuten Bronchitis empfiehlt die DEGAM-LL „Husten“ nur bei alten oder multimorbiden oder schwerkranken Patienten eine antibiotische Therapie. Peterson stellte in Großbritannien fest, dass es über 4.000 Antibiotikabehandlungen (number needed to treat, NNT) beim unkomplizierten sinubronchialen Infekt brauchte, um eine schwere Pneumonie zu vermeiden. Anders stellt es sich bei den über 65-Jährigen

dar. In dieser Gruppe ist die NNT 39. Dies entspricht unseren Alltagserfahrungen, da die meisten sinubronchialen Infekte als virale Infektionen beginnen und wir sowieso Ältere vorsichtiger behandeln. Insofern werden wir versuchen, unsere jüngeren Patienten zu beruhigen, ihnen die Ursache des Hustens als vermutlich viralen Infekt erklären, die wahrscheinlich ineffektive Antibiotikatherapie erwähnen, falls erforderlich die Nebenwirkungen einer Antibiotikatherapie ansprechen, insbesondere eine mögliche Durchfallerkrankung durch Clostridium difficile sowie Resistenzentwicklungen erklären. Eine symptomatische Therapie ist in der Regel bei unkompliziertem Husten ausreichend. Falls der Husten persistiert, sollte sich die Patientin zu einer Kontrolluntersuchung erneut vorstellen.

2. Sinusitis Eine Patientin kommt nach sechswöchigem, mehr oder weniger starkem Schnupfen und jetzt mit Schmerzen hinter der Stirn in die Praxis. Sie finden Klopf- und Druckschmerz beidseits an Stirn und linkem Oberkiefer. In der DEGAM-Leitlinie „Rhino-Sinusitis“ wird eine Antibiotikabehandlung in der Akuttherapie nur bei drohenden Komplikationen wie starken Schmerzen, Lethargie, Gesichtsschwellung und CRP-Erhöhung > 10 mg/l oder Sekretnachweis im CT sowie Pneumokokken-, Hämophilus-influenza- oder Moraxella-catarrhalisInfektion empfohlen. Außerhalb der genannten Risiken muss von mehr Nach- als Vorteilen bei

einer Antibiotikatherapie ausgegangen werden. Antibiotika der 1. Wahl sind Amoxicillin und Azithromycin. Bei einer chronischen Sinusitis kann ein Therapieversuch über mehrere Wochen mit Roxithromycin, Cephalosporin oder Amoxicillin mit Clavulansäure unternommen werden. Zu bedenken sind bei einer Antibiotikatherapie zum Beispiel eine Kreuzallergie zwischen Penicillinen und Cephalosporinen oder eine QT-Zeitverlängerung bei den Makroliden sowie eine Verarbeitung über die Cytochrome P450, was auch Auswirkungen auf andere Medikamente wie beispielsweise CSE-Hemmer hat.

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III

SPECIAL ANTIBIOTIKA

3. Pharyngo-Laryngitis Score, mit dem sich abschätzen lässt, wann eine Pharyngitis mit Gruppe-A-Streptokokken (GAS) vorliegen könnte. Falls eine GAS-Infektion vorliegt, wird die Antibiose die Krankheitsdauer um ein bis zwei Tage verkürzen (DEGAM-Leitlinie „Halsschmerzen“). Nur bei einem von fünf Patienten kommt es unter Antibiose schon am Tag drei zum Abklingen der Symptome (NNT 5–6). Bei den anderen dauert es länger. Penicillin ist Medikament der ersten Wahl bei einer Streptokokken-A-Infektion.

Eine ansonsten gesunde 47-Jährige leidet seit drei Tagen an starken Halsschmerzen mit leicht erhöhter Temperatur ohne Husten. Der Gaumen und Rachen sind gerötet, die Tonsillen ohne eitrige Stippchen. Die submandibulären Lymphknoten sind gering druckdolent. Die meisten Kollegen werden in so einer Situation von einem viralen Infekt ausgehen, mit der Patientin sprechen, für Schmerzlinderung sorgen und keine Antibiotika verordnen. Gestützt wird dieses Verhalten vom Centor- und McIsaac-

SCORES ALS PRÄDIKTOREN EINER GAS-PHARYNGITIS

Centor- und McIsaac-Score Prädiktoren einer GAS-Pharyngitis (Gruppe-A-Streptokokken) Kriterien: Fieber in Anamnese oder Temperatur > 38 ˚C

1

Fehlen von Husten

1

schmerzhafte vordere Halslymphknoten

1

Tonsillenschwellung oder -exsudate

1

Alter < 15 Jahre

1

Alter ≥ 45 Jahre

-1

Zahl der positiven Kriterien (McIsaac)

CentorScore

Wahrscheinlichkeit von GAS im Rachenabstrich

Likelihood Ratio

4 oder 5

~ 50 %

LR 4,9

3

~ 35 %

2

~ 17 %

1

~ 10 %

LR 0,52

-1 oder 0

~ 1%

LR 0,05

Grauzone: zusätzliche Informationen mit Abstrich (ASL/Hämolyse) oder CPR

Merke: je kränker, desto eher Antibiotika. Deshalb im Zweifel testen (StrepA). Quelle: DEGAM-Leitlinie „Halsschmerzen“

IV

McIsaacScore

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LR 2,5 LR 0,95

Ein 4-jähriges Mädchen hat seit einem Tag hohes Fieber mit Ohrenschmerzen. Die Trommelfelle sind beidseits gerötet. Der Nacken ist weich. Die mastoidalen Druckpunkte sind schmerzfrei. Wir wissen, dass bei einer Otitis media meistens eine Spontanheilung eintritt. Insofern ist unter Analgesie mit Ibuprofen ein 24- bis 48-stündiges Abwarten ohne Antibiotikagabe gerechtfertigt. Um abwendbar gefährliche Verläufe zu vermeiden, finden sich in der DEGAM-Leitlinie „Ohren-

SPECIAL ANTIBIOTIKA

4. Otitis media schmerzen“ für eine sofortige Gabe von Antibiotika wie Amoxicillin oder Azithromycin folgende mögliche Indikationen: Kinder unter zwei Jahren, hohes Fieber oder Erbrechen und keine Besserung nach 24 bis 48 Stunden. Bei Verschlechterung unter Antibiose ist ein Pädiater hinzuzuziehen oder eine Klinikeinweisung zu erwägen. Wichtig ist auch der klinische Blick, wie krank das Kind ist. In unserem Fall spricht das hohe Fieber für eine Antibiotikagabe.

5. Harnwegsinfekt Die 22-jährige Patientin hat Schmerzen beim gehäuften Wasserlassen. Sie hat weder Fieber noch klopfschmerzhafte Nierenlager. Da es sich vermutlich um einen unkomplizierten Harnwegsinfekt handelt, werden die meisten Kollegen eine Antibiose mit einmalig Fosfomycin 3.000 mg oder Trimethoprim 200 mg für drei Tage oder seltener Nitrofurantoin 100 mg für fünf Tage anbieten. Dies ist leitliniengerecht nach der DEGAM-Leitlinie „Brennen beim Wasserlassen“. Falls die Therapie nicht anschlägt, empfiehlt es sich erst nach Urinkultur weiterzubehandeln. Patienten mit Urinkatheter sollten

bei asymptomatischer Bakterurie nicht therapiert werden, es sei denn, es finden sich Hinweise auf einen symptomatischen Harnwegsinfekt. Von komplizierten Harnwegsinfekten gehen wir bei Schwangeren, Kindern und bei Pyelonephritis aus. In diesen Gruppen sollten wir abwendbar gefährliche Verläufe verhindern. Hier ist immer ein Uricult angezeigt, wenn nicht sogar bei entsprechendem schwerem Krankheitsbild eine Krankenhauseinweisung. Doch unsere Patientin hatte wie vermutet einen unkomplizierten Harnwegsinfekt und war nach der Einmalgabe von Fosfomycin beschwerdefrei.

6. Borreliose Ein nicht sehr ängstlicher 28-jähriger Patient hat vor zwei Tagen eine Hautrötung am Unterschenkel rechts entdeckt. Es findet sich eine rundliche Rötung mit einem Durchmesser von etwa acht Zentimetern, die innen etwas blasser erscheint, medio-lateral an der rechten Wade. Auf Nachfrage wird von einem Ausflug im Freien vor etwas über einer Woche berichtet. Auch wenn der Patient keine Zecke bemerkt hat, muss von einem Erythema migrans bei Borreliose-Infektion ausgegangen werden. Bis zu 21 Prozent der Zecken tragen Borrelien in sich. Das Erythema migrans findet sich bei 89 Prozent der Infizierten als Frühstadium.2 In einem so frühen Stadium macht eine Laborun-

tersuchung keinen Sinn. Die Leitlinien (national wie international) empfehlen eine Therapie mit Doxycyclin 100 mg zweimal täglich, Amoxicillin 500–1.000 dreimal täglich oder Cefuroxim 500 zweimal täglich für 14–21 Tage. Alternativ kann Azithromycin 250 zweimal täglich für 5–10 Tage gegeben werden. Der Patient ist mit einer Doxycyclin-Therapie über 2 Wochen einverstanden. Wesentlich komplizierter und den Rahmen dieser Übersicht sprengend sind Diagnostik und Therapie bei späteren Stadien der Borreliose wie Arthritis, Neuroborreliose, Acrodermatitis chronica atrophicans – ganz zu schweigen von „Chronischen Borreliosen“ aus Erfahrungsmedizin und Internet.

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Mythos Penicillinallergie SPECIAL ANTIBIOTIKA

Durch die Einnahme von Betalactam-Antibiotika kann es zu einer Allergie kommen (wie selbstverständlich auch durch andere Antibiotika). Diese „Penicillinallergie“ wird anamnestisch von 10 Prozent der Bevölkerung angegeben. Zum Beispiel findet sich bei Pfeifferschem Drüsenfieber und der gleichzeitigen Gabe von Ampicillin oder Amoxicillin bei 10 Prozent der Patienten ein juckendes, großfleckiges, masernähnliches Exanthem, das oft mit einer Penicillinallergie verwechselt wird. Durch allergische Tests lassen sich 80 Prozent der anamnestischen Penicillinallergien nicht bestätigen. Doch natürlich kann man bei einer indizierten Antibiotikagabe nicht vorher eine aufwendige Testung durchführen und wird aus Sicherheitsbedenken ein alternatives, eventuell nicht so wirksames oder teureres Antibiotikum verschreiben.

Fazit Wie schwierig die Beeinflussung unseres Verschreibungsverhaltens im Hinblick auf Antibiotika ist, zeigt eine große englische Studie von 2016 mit den 20 Prozent Hausärzten, die Top-Verschreiber von Antibiotika sind.3 Die arztbezogene Intervention erbrachte Alle Ärzte – besonders eine signifikante Verminderung auch Tierärzte – sind der Antibiotikaverordnungen. Leigefordert, auf der nur kurzfristig. Nach nur einem den rationalen und halben Jahr ohne Intervention hatte sich das Verordnungsverrationellen Einsatz von halten der Interventionsgruppe Antibiotika zu achten! wieder an die Kontrollgruppe angeglichen. Es braucht also für viele Kollegen immer wieder Anregungen, das Verschreibungsverhalten bei Antibiotika zu überdenken. Dass man bei einer Absenkung der Antibiotikaverordnung durchaus auf der sicheren Seite ist, zeigt eine weitere Studie aus England.4 Von

2005 bis 2014 (also innerhalb von knapp zehn Jahren) kam es statistisch gesehen in einer durchschnittlichen Hausarztpraxis bei einer Verringerung der Antibiotikaverordnungen um 10 Prozent zu einer Zunahme von 1,1 Fällen (absolute Zahl) an Pneumonie und 0,9 Fällen an Peritonsillarabszessen. Fälle von Mastoiditis, Empyem oder intrakraniellem Abszess nahmen nicht zu. Viele Patienten mit Migrationshintergrund verlangen verstärkt nach Antibiotika, da sie aus ihren Heimatländern einen anderen Umgang damit gewohnt sind. Hier hat es sich bewährt, eine Wiedervorstellung anzubieten oder zu erklären, dass der mögliche Schaden den Nutzen überschreitet. Außerdem empfiehlt es sich, die Patienten in die Therapie über die „verzögerte Verordnung“ einzubeziehen. Das heißt, ein Rezept auszustellen, das erst bei Symptomverschlechterung oder nach drei Tagen ohne Besserung eingelöst werden soll. 쐍

Quellen: 1. Anlehnung an ein Mini-Modul des Instituts für hausärztliche Fortbildung, Dr. Popert 2. AWMF-Leitlinie der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, Kutane Lyme-Borreliose, März 2016 3. Provision of social norm feedback to high prescribers of antibiotics in general practice: a pragmatic national randomised controlled trial, Lancet, Vol 387, April 23, 2016. http://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140-6736(16)00215-4.pdf 4. Safety of reduced antibiotic prescribing for self limiting respiratory tract infections in primary care: cohort study using electronic health records. Martin C Gulliford, professor of public health, Michael V Moore, professor of primary healthcare research, Paul Little, professor of primary care research, Alastair D Hay, professor of primary care, Robin Fox, general practitioner, A Toby Prevost, professor of medical statistics, Dorota Juszczyk, research associate, Judith Charlton, research associate, Mark Ashworth, reader in general practice; BMJ 2016; 354: i3410

VERORDNUNGSKOSTEN IN HESSEN 2014 (IN EURO)

54,32 Millionen Quelle: Insight Health und „Weniger ist mehr“: Antibiotikaverbrauch in der Arztpraxis in Hessen 2008–2014, Gesundheitsamt Frankfurt und Kassenärztliche Vereinigung Hessen

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UNSERE ERFAHRUNG

Klinische Kriterien zum Antibiotikaeinsatz Viele Niedergelassene sind immer wieder mit Unsicherheiten konfrontiert, sich für oder gegen ein Antibiotikum zu entscheiden. Hier ein paar Beispiele und Einschätzungen.

Ist ein eitrig verfärbtes Sekret eine gute Grundlage für die Gabe eines Antibiotikums? Aus unserer Sicht eher nicht. Besonders, wenn man bedenkt, dass in den allermeisten Fällen bei einem viral bedingten Schnupfen das Sekret zu Beginn klar und wässrig ist und im weiteren Verlauf praktisch regelmäßig eitrig wird. Daher kann dies kaum eine gute Entscheidungshilfe sein. Wie gehe ich im konkreten Fall vor? Häufig klagen Patienten darüber, dass sie angeblich seit mehreren Wochen – zum Beispiel vier Wochen – ununterbrochen unter einem Infekt der oberen Atemwege leiden. Dies sollte man zunächst hinterfragen. Bei detaillierter Nachfrage stellt sich oft heraus, dass es sich nicht um einen einzelnen, durchgängigen, anhaltenden Infekt handelt. Meist ist nach anfänglicher Besserung eine erneute Erkältung eingetreten, mit wässrigem Sekret als Hinweis auf einen Virusinfekt. Der übliche Verlauf ist uns allen häufig aus eigener leidvoller Erfahrung bekannt. Aus dem klaren Sekret zu Beginn der Infektion entwickelt sich innerhalb weniger Tage ein mehr oder weniger verfärbtes Sekret. Und bis die letzten Symptome einer normalen Erkältung überstanden sind, braucht es oft zwei bis drei Wochen. Welche Informationen des Patienten sagen letztlich, ob eine Antibiose indiziert ist? Genau hier verlassen uns oft die klugen theoretischen Therapieempfehlungen. Dann spielen offensichtlich klinische Erfahrungen eine wichtige Rolle. Gerade zu Beginn der Niederlas-

sung haben wir deutlich häufiger versucht, mit einer antibiotischen Behandlung den Verlauf zu verbessern. Vielfach waren wir, gemeinsam mit unseren Patienten, über den erkennbar unbeeinflussten Krankheitsverlauf enttäuscht. Heute machen wir die Entscheidung davon abhängig, ob es Hinweise auf einen komplikationsträchtigen Verlauf gibt: Dies ist zum Beispiel ein länger (circa zehn Tage) andauernder eitriger Schnupfen mit rasch eingetretenen starken Kopfschmerzen, Fieber und gegebenenfalls auffälligen Geruchsempfindungen des Patienten. Solche neu eingetretenen Symptome sind ein möglicher Hinweis auf eine invasive bakterielle Infektion, die mit einem Antibiotikum behandelt werden sollte. Eine Studie aus Großbritannien, bei der die Verschreibungshäufigkeit von Antibiotika gesenkt werden sollte, zeigte, dass das Risiko für den Patienten, durch Unterlassen einer antibiotischen Behandlung eine ernste Komplikation zu erleiden, extrem gering war.1

Literatur: 1. http://www.bmj.com/content/354/bmj.i3410. kvh.link/1603027 2. http://www.cmaj.ca/content/early/2016/07/18/cmaj.160362. kvh.link/1603028 3. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/043-044.html. kvh.link/1603029

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SPECIAL ANTIBIOTIKA

Was sind die wichtigsten Fragestellungen für oder gegen ein Antibiotikum? Liegen ernste Gefahren für den Patienten vor, wenn nicht antibiotisch behandelt wird? Welcher Schaden ist zu befürchten, wenn wir unnötigerweise ein Antibiotikum einsetzen? Was will der Patient? Bei den üblichen Erkältungen, die keinen Hinweis auf Komplikationen andeuten, empfehlen wir den Patienten, geduldig zu bleiben und die Hausmittel zu nutzen, mit denen sie vertraut sind: Üblicherweise kann man das Trinken heißer Getränke empfehlen, das Lutschen von Bonbons mit Eukalyptus, Pfefferminz oder Salbei, die den Hals erfrischen. Bei Beschwerden in Nase und Nebenhöhlen, wie zum Beispiel Druckgefühl, Verstopfung oder Schmerzen, schaffen oft Salzwasserspülungen2, abschwellendes Nasenspray oder Wärmeapplikation in Form eines Dampfbads Linderung. Kamillenauszüge im Wasser bringen dage-

gen meist keine Besserung. Bei Hinweisen auf drohende Komplikationen würden wir primär auf Amoxicillin zurückgreifen. Bei anamnestischer Penicillinallergie käme Azithromycin infrage. Gyrasehemmer lassen häufig auch einen guten Effekt erwarten, sollten aber wegen der Möglichkeit einer raschen Resistenzentwicklung und der Bedeutung als Reserveantibiotikum vermieden werden. Als gut gewebegängiges und für Weichteilinfektionen geeignetes Antibiotikum könnte auch Clindamycin aus der Gruppe der Lincosamidantibiotika erwogen werden. Auch hier stehen Erwägungen der Sicherheit dem Einsatz entgegen, da gegenüber anderen Wirkstoffen deutlich häufiger mit Clostridienkolitis zu rechnen ist. Cephalosporine scheiden für eine Firstline-Therapie wegen ihrer Eigenschaft als Reserveantibiotika ebenfalls aus.

Ist Nitrit eine sichere Entscheidungsgrundlage? Ja, aber nur begrenzt. Der überwältigende Teil der Patienten mit Harnwegsinfekten sind Frauen. Aus Studien ist bekannt, dass eine symptomlose Bakteriurie alltäglich und letztlich harmlos ist. Insoweit ist auch hier wieder eine Einzelfallbeurteilung nötig. Wir müssen also genau wissen, welche Beschwerden vorliegen, wie lange sie bestehen und wie stark sie sind. Bei Fieber, Flankenschmerz und Flankenklopfschmerz kann von einer Pyelonephritis ausgegangen werden, die mit einem Antibiotikum zu behandeln ist. Zur Auswahl des Antibiotikums verweisen wir auf die (abgelaufene) Leitlinie.3 Bei leichtgradigen, neu aufgetretenen

Beschwerden wie häufigerem Harndrang und leichtem Brennen beim Wasserlassen kann der Patientin angeboten werden, die Schmerzen bei Bedarf mit einem Analgetikum zu lindern und den spontanen Verlauf zunächst abzuwarten. Eine erlaubte Strategie ist, nach entsprechender Beratung ein Rezept für ein Antibiotikum auszustellen, das die Patientin bei ausbleibender Besserung einlösen kann. Vielleicht sollte hier noch angemerkt werden, dass zum Firstline-Präparat Fosfomycin ernst zu nehmende Kritik vorliegt, da dieser Wirkstoff in der Intensivmedizin gelegentlich die letzte Option bei Multiresistenzen sein kann.

IHRE MEINUNG Was sind Ihre Kriterien für die Antibiotikagabe? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen. Wir freuen uns über Ihre Statements, behalten uns aber die Veröffentlichung und das Recht der Kürzung vor. Außerdem bitten wir Sie darum, mögliche Interessenkonflikte darzulegen.

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Einen kurzen Fragebogen dazu erhalten Sie in der KVH-aktuell-Redaktion: Petra Bendrich [email protected] Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Europa-Allee 90, 60486 Frankfurt am Main

SPECIAL ANTIBIOTIKA

Ist eine eitrige Otitis media eine Indikation für ein Antibiotikum? Der Großteil der eitrigen Mittelohrentzündungen heilt ohne Komplikationen ab. Es bietet sich an, engmaschig, gegebenenfalls über mehrere Tage täglich, zu kontrollieren und anhand des Verlaufs weiter zu entscheiden. Eine Perforation stellt nicht per se ein Unglück dar, weil einerseits

rasche Schmerzlinderung eintritt und andererseits in den meisten Fällen mit Spontanheilung gerechnet werden kann. Sonderfälle sind Säuglinge und gegebenenfalls Kleinkinder, bei denen eine Mastoiditis als gefährliche Komplikation auftreten kann.

Wann sollte ich bei Halsschmerzen zum Antibiotikum greifen? Auch wenn es Entscheidungshilfen wie zum Beispiel den Centor-Score gibt, stößt man auch damit häufig an Grenzen. Wir orientieren uns in der Praxis primär an eitrigen Belägen, geschwollenen Lymphknoten – insbesondere in den Kieferwinkeln – Fieber und Krankheitsgefühl. Bei Vorliegen eines serösen Schnupfens ist mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem viralen Infekt auszugehen. Hier sollte keinesfalls zum Antibiotikum gegriffen werden. Nicht selten kommen Patienten mit starken Halsschmerzen, die sie schon eine Woche belästigen. Bei ausgeprägten lokalen Entzündungszeichen, gegebenenfalls begleitenden Lymphknotenschwellungen, Fieber oder schwerem Krankheitsgefühl kann ein Antibiotikum erwogen werden. Wenn die Entscheidung für ein Antibiotikum getroffen wurde, ist bei Rachenentzündungen – eitrig oder nicht – Penicillin nach wie vor der Wirkstoff der ersten Wahl. Nach unserer Kenntnis sind bisher noch keine resistenten Streptokokken gefunden worden. Auch das enge Wirkspektrum beugt einer Resistenzentwicklung der Keime vor. Die häufig angegebene Penicillinallergie ist in Wirklichkeit in den meisten Fällen keine allergische Reaktion gewesen. Überwiegend handelt es sich dabei um ein Exanthem, das unter antibiotischer Behandlung eines viralen Infekts aufgetreten ist. Auf Amoxicillin ist aus mehrerlei Gründen zu verzichten: wegen des breiten Wirkspektrums und der sehr hohen Wahrscheinlichkeit, ein Arzneimittelexanthem auszulösen, falls eine Mononukleose vorliegt. Da selten gesicherte Informationen vorliegen, weicht man auf ein Nichtpenicillin aus. Hier

bieten sich Makrolide wie Azithromycin oder Roxithromycin an. Die Dauer der Behandlung sollte bei acht bis zehn Tagen liegen. Die Anwendung von Cephalosporinen sollte wegen ihres Reservestatus vermieden werden. Einerseits sind die meisten Patienten froh, wenn sie erfahren, dass ein Antibiotikum nicht benötigt wird. Andererseits gibt es Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen, die der festen Überzeugung sind, dass Infektionen unbedingt antibiotisch behandelt werden müssten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es in den allermeisten Fällen sehr schwierig ist, fest gefügte Ansichten kurzfristig zu korrigieren. Wir sind der Meinung, dass es in solchen Ausnahmefällen statthaft ist – wider bessere Einsicht – antibiotisch zu behandeln. Wir wissen, dass solche Patienten sonst andere Ärzte aufsuchen, bis sie ihren Wunsch erfüllt bekommen. Wenn Patienten im Einzelfall aus persönlichen Gründen (Angst vor Krankschreibung, wichtige bevorstehende Termine etc.) den Versuch einer Antibiotikatherapie unternehmen wollen, ist es ratsam, den Patientenwillen zu respektieren. Selbstverständlich unter Abwägung möglicher Chancen und Risiken. Prinzipiell sollte die Verordnung eines Antibiotikums immer kritisch abgewogen werden, da der Großteil der Infekte in der Praxis keiner antibiotischen Behandlung bedarf und gegebenenfalls mehr Schaden als Nutzen erhandelt wird. 쮿 DR. MED. JOACHIM SEFFRIN DR. MED. JOACHIM FESSLER

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SPECIAL ANTIBIOTIKA

AMBULANTE THERAPIE

UAW im Überblick Welche unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) und Interaktionen spielen beim Einsatz antibakterieller Mittel in der Behandlung Erwachsener eine Rolle? Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung von Autor, Redaktion, Verlag und Herausgeber – Kassenärztliche Vereinigung BadenWürttemberg – aus dem Verordnungsforum 36, November 2015, übernommen.

Bei der Auswahl der nachfolgend beschriebenen UAW wird nicht Vollständigkeit angestrebt. Als Kriterien wurden vielmehr die Häufigkeit, Gefährlichkeit und der gegebenenfalls noch unzureichende Bekanntheitsgrad der Nebenund Wechselwirkungen berücksichtigt. Nicht berücksichtigt werden Mittel zur Behandlung spezieller Infektionen (beispielsweise Tuberkulose) und Mittel, die nur parenteral oder topisch verwendet werden. Für die Verordnung der einzelnen Präparate, insbesondere auch für Dosierungen, wird auf die jeweils aktuelle Fachinformation verwiesen. Für Fragen zur Verordnung von Antibiotika in Schwangerschaft und Stillzeit steht das Verordnungsforum 32 auf www.kvbawue.de zur Verfügung.

Fidaxomicin) und Ketolide (z. B. Telithromycin),

쐍 Nitroimidazole (Metronidazol ist der relevanteste Vertreter),

쐍 Aminoglycoside (insbesondere Gentamicin, Tobramycin, Amikacin, Netilmicin),

쐍 Sulfonamide und Trimethoprim (in Kombination z. B. als Cotrimoxazol),

쐍 Tetracycline (Doxycyclin ist der relevanteste Vertreter),

쐍 Betalactam-Antibiotika (insbesondere Penicilli쐍 쐍

Folgende Wirkstoffgruppen werden besprochen:



쐍 Makrolide (z. B. Erythromycin, Clarithromycin,

쐍 쐍 쐍

Roxithromycin, Azithromycin, Spiramycin,

ne, Cephalosporine, Monobactame, Carbapeneme) und Betalactamase-Hemmer, Lincosamide (Clindamycin ist einziger relevanter Vertreter), Fluorochinolone („Gyrase-Hemmer“, z. B. Ciprofloxacin, Levofloxacin/Ofloxacin, Moxifloxacin), Nitrofurane (Nitrofurantoin ist einziger relevanter Vertreter), Fosfomycin, Rifamycine, Oxazolidinone (relevanter Vertreter Linezolid).

EINFÜHRUNG NEUER ANTIBIOTIKA-KLASSEN WELTWEIT Amphenicole, 1949

Die Jahreszahlen geben an, wann das erste Medikament der genannten Klasse in Deutschland oder andernorts eingeführt wurde. Nicht berücksichtigt sind Medikamente gegen Tuberkulose.

Tetrazykline, 1948 Penicilline, 1943 Arsphenamin, 1910

1900

Sulfonamide, 1936

1910

1920

1930

1940

1950

Aminoglykoside, 1944 Polymyxine, 1947 Makrolide, 1952 Cephalosporine, 1953

X

KVH aktuell 3|2016

In der älteren Literatur finden sich teilweise Angaben, dass Antibiotika verschiedener Gruppen die Wirksamkeit oraler Kontrazeptiva beeinträchtigen. Diese Angaben beruhen im Wesentlichen auf Berichten über Einzelfälle eines Versagens oraler Kontrazeptiva während einer Antibiotikatherapie. Die Datenlage ergibt inzwischen einen beachtenswerten Aspekt. In einem Fachartikel wird sogar von einem „entlarvten Mythos“ gesprochen.1 Das Risiko des Pillenversagens unter Antibiotika sei insgesamt sehr gering und unterscheide sich nicht signifikant von der normalen Versagerrate. Für orale Kombinationspräparate betrage die Versagerrate bei Antibiotikaeinnahme 1,2 bis 1,6 Prozent gegenüber 1,0 Prozent ohne Antibiotika.2 Darüber hinaus sollten Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit Ihre Patientin immer auf die Möglichkeit einer Wechselwirkung hinweisen und sie auf die jeweilige Fachinformation verweisen. Eine wichtige Ausnahme bilden die Rifamycine Rifampicin und Rifabutin: Infolge der Enzyminduktion steigt unter Rifampicin die Hydroxylierung von Ethinylestradiol zwei- bis vierfach und der Plasmaspiegel fällt um 40 bis 80 Prozent. Zyklusstörungen und eine Ovulationsrate von 30 bis 50 Prozent trotz der Einnahme oraler Kontrazeptiva wurden nachgewiesen. Eine zusätzliche kontrazeptive Methode ist daher bis zu zwei Monate nach Absetzen von Rifampicin unumgänglich.2

Das britische Royal College of Obstetricians and Gynaecologists führt aus, dass die Evidenz nicht generell für eine reduzierte Effektivität kombinierter oraler Kontrazeptiva unter nicht-enzyminduzierenden Antibiotika spricht. Es werden keine zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen empfohlen, um die kontrazeptive Wirksamkeit aufrechtzuerhalten, wenn nicht-enzyminduzierende Antibiotika mit kombinierten hormonalen Methoden für drei Wochen oder weniger verwendet werden. Der einzige Vorbehalt bestehe darin, dass, wenn die Antibiotika (und/oder die Erkrankung) Erbrechen oder Diarrhoe verursachten, in diesem Fall die üblichen zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen zu beachten wären.3 Dessen ungeachtet ist in jedem Fall zu empfehlen, die Ausführungen der jeweiligen Fachinformation zu diesem Thema strikt einzuhalten. 쮿

SPECIAL ANTIBIOTIKA

Interaktionen mit oralen Kontrazeptiva

Quellen: 1. Archer JSM, Archer DF: Oral contraceptive efficacy and antibiotic interaction: A myth debunked. J Am Acad Dermatol 2002; 46: 917–23 2. Donnerer J: Wechselwirkungen der hormonellen Kontrazeptiva. Gynäkologe 2011; 44: 31–6 3. Faculty of Sexual and Reproductive Healthcare of the Royal College of Obstetricians and Gynaecologists: Drug Interactions with Hormonal Contraception. First published in 2011 (updated January 2012). ISSN 1755-103X. www.fsrh.org/pdfs/CeUguidancedruginteractionshormonal.pdf

Pleuromutiline, 2007 Carbapeneme, 1985

Glycylcycline, 2005

Lincosamide, 1964

1960

1970

Ketolide, 2001

1980

Streptogramine, 1962 Fluorchinolone, 1983

1990

2000

2010

Oxazolidinone, 2000 zyklische Lipopeptide, 2005

Glykopeptide, 1958 Quelle: vfa, 2014

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XI

SPECIAL ANTIBIOTIKA

Makrolide und Ketolide

Makrolide liegen zum Beispiel als Erythromycin, Clarithromycin, Roxithromycin, Azithromycin, Spiramycin, Fidaxomicin vor; ein Ketolid ist zum Beispiel Telithromycin.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

QT-Verlängerung im EKG (als Marker für erhöhtes Risiko von Torsades-de-pointes-Arrhythmien): Bei Azithromycin wurde gezeigt, dass das Risiko dann offenbar am höchsten ist, wenn weitere Risikofaktoren vorliegen, z. B. weibliches Geschlecht, Alter, vorbestehende kardiovaskuläre Erkrankung oder QT-Verlängerung, Hypokaliämie, Magnesiummangel oder Bradykardie und gleichzeitige Verwendung weiterer Mittel, die mit QT-Verlängerung assoziiert sind (s. Wechselwirkungen). Fehlen solche zusätzlichen Risikofaktoren, ist Azithromycin relativ sicher.1 Andere Untersuchungen bestätigten das Risiko für QT-Verlängerung durch Azithromycin nicht.2 Kardiovaskuläre Ereignisse bzw. Mortalität: Eine Assoziation zwischen Azithromycin-Verwendung und einem kleinen Anstieg kardiovaskulärer Todesfälle, insbesondere bei Patienten mit hohem kardiovaskulärem Grundrisiko, ergab die Analyse von Verschreibungsdaten.3 Kein erhöhtes Risiko für Tod aus kardiovaskulärer Ursache für Azithromycin ergab eine Untersuchung bei Erwachsenen jüngeren und mittleren Alters.4 Keine Erhöhung der Mortalität unter Azithromycin fand sich auch bei älteren Pneumonie-Patienten.5 Clarithromycin ist bei Patienten mit COPD-Exazerbation bzw. ambulant erworbener Pneumonie möglicherweise mit erhöhter Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse assoziiert.6 Für Clarithromycin, nicht jedoch für Roxithromycin, wurde ein signifikant erhöhtes Risiko für kardial bedingten Tod gefunden.7 Erythromycin-Gebrauch ist mit einer Verdopplung plötzlichen Todes kardialer Ursachen assoziiert.8 Reversible Hörstörungen bei höherer Dosierung. Übelkeit, Erbrechen, Abdominalschmerzen, Diarrhoe.

Mögliche Wechselwirkungen

Hemmung von CYP3A4 und P-Glycoprotein (P-gp): Arzneimittelabbauende Enzyme (insbesondere CYP3A4) werden durch Makrolide in unterschiedlichem Ausmaß (am stärksten durch Clarithromycin, Erythromycin, Troleandomycin, weniger stark durch Roxithromycin, kaum durch Azithromycin) inhibiert. Starke Hemmer verursachen einen Anstieg der Konzentrationen bzw. die Notwendigkeit zur Dosisreduktion betroffener Mittel. Simvastatin ist wegen erhöhten Myopathie-Risikos laut FDA kontraindiziert, wenn Erythromycin, Clarithromycin oder Telithromycin verwendet werden.9 Zu den zahlreichen Mitteln, deren Elimination durch Makrolide verzögert werden kann, gehören u. a. auch Cumarin-Antikoagulanzien (INR-Kontrollen und ggf. Reduktion der Cumarin-Dosis), Ciclosporin und Tacrolimus, Carbamazepin, Valproinsäure, Nateglinid und Repaglinid (Hypoglykämie-Risiko), Theophyllin, Triazolam und Midazolam. Ausmaß und Relevanz einer Kompetition zwischen neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) und Makroliden (insbesondere Clarithromycin) an P-gp sind noch nicht umfassend geklärt;10, 11 ein hierfür verwertbarer Gerinnungstest steht bei den NOAK derzeit nicht zur Verfügung – anders als bei Cumarinen. Die für Erythromycin o. g. Erhöhung des Risikos plötzlichen Todes kardialer Ursachen steigert sich auf einen Faktor von etwa fünf, wenn gleichzeitig ein CYP3A4-Inhibitor (Diltiazem, Verapamil, Troleandomycin oder ein Azol-Antimykotikum wie Ketoconazol) systemisch verwendet wird.8 Digoxin-Konzentrationen nehmen unter Makrolid-Komedikation zu12, 13 und eine DigoxinDosisreduktion kann erforderlich werden. QT-Verlängerung: Von einem zusätzlich erhöhten Risiko ist auszugehen, wenn neben einem Makrolid gleichzeitig weitere Mittel mit solchem Potenzial verwendet werden [Liste unter www.crediblemeds.org]. Fazit: Bei Verordnung eines Makrolids und während der Therapie soll stets die Komedikation auf etwaige Interaktionspartner geprüft werden. Dabei stehen CYP3A4- bzw. P-gp-Substrate sowie andere QT-verlängernde Mittel im Zentrum.

Quellen: 1. Howard PA: Azithromycin-induced proarrhythmia and cardiovascular death. Ann Pharmacother 2013; 47 (11): 1547–51 2. Goldstein LH, Gabin A, Fawaz A, Freedberg NA, Schwartz N, Elias M, Saliba W: Azithromycin is not associated with QT prolongation in hospitalized patients with community-acquired pneumonia. Pharmacoepidemiol Drug Saf 2015 Aug 2. doi: 10.1002/pds.3842. [Epub ahead of print] 3. Ray WA, Murray KT, Hall K, Arbogast PG, Stein CM: Azithromycin and the risk of cardiovascular death. N Engl J Med 2012 May 17; 366 (20): 1881–90 4. Svanström H, Pasternak B, Hviid A: Use of azithromycin and death from cardiovascular causes. N Engl J Med 2013; 368 (18): 1704–12 5. Mortensen EM, Halm EA, Pugh MJ, Copeland LA, Metersky M, Fine MJ, Johnson CS, Alvarez CA, Frei CR, Good C, Restrepo MI, Downs JR, Anzueto A: Association of azithromycin with mortality and cardiovascular events among older patients hospitalized with pneumonia. JAMA 2014 Jun 4; 311 (21): 2199–208

XII

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Nitroimidazole

Metronidazol ist der relevanteste Vertreter.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Gastrointestinale Nebenwirkungen (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall), selten Pankreatitis. Unangenehmer Metallgeschmack.

SPECIAL ANTIBIOTIKA

6. Schembri S, Williamson PA, Short PM, Singanayagam A, Akram A, Taylor J, Singanayagam A, Hill AT, Chalmers JD: Cardiovascular events after clarithromycin use in lower respiratory tract infections: analysis of two prospective cohort studies. BMJ 2013 Mar 20; 346: f1235 7. Svanström H, Pasternak B, Hviid A: Use of clarithromycin and roxithromycin and risk of cardiac death: cohort study. BMJ 2014 Aug 19; 349: g4930 8. Ray WA, Murray KT, Meredith S, Narasimhulu SS, Hall K, Stein CM: Oral erythromycin and the risk of sudden death from cardiac causes. N Engl J Med 2004 Sep 9; 351 (11): 1089–96 9. Egan A, Colman E: Weighing the benefits of high-dose simvastatin against the risk of myopathy. N Engl J Med 2011 Jul 28; 365 (4): 285–7 10. Heidbuchel H, Verhamme P, Alings M, Antz M, Hacke W, Oldgren J, Sinnaeve P, Camm AJ, Kirchhof P; European Heart Rhythm Association: European Heart Rhythm Association Practical Guide on the use of new oral anticoagulants in patients with non-valvular atrial fibrillation. Europace 2013; 15 (5): 625–51 11. Lippi G, Favaloro EJ, Mattiuzzi C: Combined administration of antibiotics and direct oral anticoagulants: a renewed indication for laboratory monitoring? Semin Thromb Hemost 2014; 40 (7): 756–65 12. Chan AL, Wang MT, Su CY, Tsai FH: Risk of digoxin intoxication caused by clarithromycin-digoxin interactions in heart failure patients: a population-based study. Eur J Clin Pharmacol 2009; 65 (12): 1237–43 13. Lee CY, Marcotte F, Giraldeau G, Koren G, Juneau M, Tardif JC: Digoxin toxicity precipitated by clarithromycin use: case presentation and concise review of the literature. Can J Cardiol 2011; 27 (6): 870.e15–6

Urinverfärbung (rotbraun, harmlos). Periphere Neuropathie (bei längerer Therapie und bei höherer Dosierung), zentralnervöse Störungen (z. B. Schwindel, Bewusstseinsstörungen, Krämpfe) bei hohen kumulativen Dosen. Alkoholintoleranz. QT-Verlängerung bzw. Torsades-de-pointes.1 Mögliche Wechselwirkungen

Orale Antikoagulanzien vom Typ der Vitamin-K-Antagonisten: Ihre Wirkung kann durch Metronidazol verstärkt werden. Lithium: Anstieg der Lithium-Serumkonzentration. QT-Verlängerung: Von einem zusätzlich erhöhten Risiko ist auszugehen, wenn neben Metronidazol gleichzeitig weitere Mittel mit solchem Potenzial verwendet werden [Liste unter www.crediblemeds.org].

Quelle: 1. Poluzzi E, Raschi E, Motola D, Moretti U, De Ponti F: Antimicrobials and the risk of torsades de pointes: the contribution from data mining of the US FDA Adverse event reporting System. Drug Saf 2010; 33 (4): 303–14

Aminoglycoside

Dies sind besonders Gentamicin, Tobramycin, Amikacin, Netilmicin, bei systemischer Anwendung.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Ototoxizität: Vestibularisschädigung (Schwindel, Ohrenklingen, Nystagmus, Menière-Syndrom) und Akustikusschädigung (Hörverlust).1 Nephrotoxizität. Bestimmungen der Serumkonzentrationen (therapeutisches Drug Monitoring2) sind zur Therapiekontrolle wichtig (Einzelheiten s. Fachinformation), d. h.

쐍 Spitzenspiegel (abzunehmen 1 h nach I.-m.- oder I.-v.-Injektion oder 0,5 h nach Beendigung der I.-v.-Kurzinfusion) als Hilfe zur Vermeidung einer Unterdosierung und

쐍 Talspiegel (abzunehmen unmittelbar vor der nächsten Gabe) zur Erkennung einer Überdosierung und Reduktion des Risikos unerwünschter Wirkungen.3

Mögliche Wechselwirkungen

Verstärkung der Oto- und Nephrotoxizität bei gleichzeitiger Anwendung von Mitteln mit ebenfalls Potenzial für diese unerwünschten Wirkungen,1 z. B. Schleifendiuretika (wie Furosemid, Torasemid), Cisplatin, Ciclosporin, Foscarnet. Curare-artige Muskelrelaxanzien: Verstärkung der neuromuskulären Blockade.

Quellen: 1. Reiss M, Reiss G: Ototoxizität von Aminoglykosidantibiotika. Praxis 2003; 92: 127–33 2. Nosseir NS, Michels G, Pfister R, Adam R, Wiesen MH, Müller C: Therapeutisches Drug monitoring (TDM) von Antiinfektiva in der Intensivmedizin. Dtsch Med Wochenschr 2014; 139 (38): 1889–94 3. Bellmann R: Pharmakokinetische und pharmakodynamische Aspekte bei der Antibiotikatherapie. Med Klin Intensivmed Notfmed 2014; 109: 162–6 KVH aktuell 3|2016

XIII

SPECIAL ANTIBIOTIKA

Sulfonamide und Trimethoprim

Diese liegen in Kombination beispielsweise als Cotrimoxazol vor.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Allergische Reaktionen, auch Knochenmarkschädigung und schwere Hautreaktionen (z. B. Lyell-Syndrom, Stevens-Johnson-Syndrom).1, 2 QT-Verlängerung.3, 4 Übelkeit, Erbrechen, selten Cholestase.

Mögliche Wechselwirkungen

Hyperkaliämie: erhöhtes Hyperkaliämie-Risiko bei Kombination von Cotrimoxazol mit Spironolacton5, 6 oder ACE-Hemmern oder Angiotensin-Rezeptorblockern.7 Bei älteren Patienten, die ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptorblocker nehmen, wurden Hinweise auf eine Assoziation zwischen Cotrimoxazol-Verwendung und plötzlichem Tod gefunden, die möglicherweise auf unerkannter Hyperkaliämie beruht.8 Wirkungsverstärkung durch Antikoagulanzien vom Cumarin-Typ (INR-Kontrollen und ggf. Dosisanpassung des Cumarins).

Quellen: 1. Mockenhaupt M: Schwere arzneimittelinduzierte Hautreaktionen. Hautarzt 2014; 65 (5): 415–23 2. Deuel J, Schaer D, Schmid-Grendelmeier P, Vallelian F: Schwere kutane Arzneimittelreaktionen. Praxis (Bern 1994) 2014; 103 (21): 1231–43 3. Lopez JA, Harold JG, Rosenthal MC, Oseran DS, Schapira JN, Peter T: QT prolongation and torsades de pointes after administration of trimethoprim-sulfamethoxazole. Am J Cardiol 1987; 59 (4): 376–7 4. Bril F, Gonzalez CD, Di Girolamo G: Antimicrobial agents-associated with QT interval prolongation. Curr Drug Saf 2010; 5 (1): 85–92 5. Anon: Cotrimoxazol induziert oder verstärkt Hyperkaliämien bei älteren Patienten, die mit Spironolacton behandelt werden. Arzneimittelbrief 2011; 45: 77b 6. Antoniou T, Gomes T, Mamdani MM, Yao Z, Hellings C, Garg AX, Weir MA, Juurlink DN: Trimethoprim-sulfamethoxazole-induced hyperkalaemia in elderly patients receiving spironolactone: nested case-control study. BMJ 2011; 343: d5228 7. Antoniou T, Gomes T, Juurlink DN, Loutfy MR, Glazier RH, Mamdani MM: Trimethoprim-sulfamethoxazole-induced hyperkalemia in patients receiving inhibitors of the renin-angiotensin system. A population-based study. Arch Intern Med 2010; 170 (12): 1045–9 8. Fralick M, Macdonald EM, Gomes T, Antoniou T, Hollands S, Mamdani MM, Juurlink DN; Canadian Drug Safety and effectiveness research Network: Cotrimoxazole and sudden death in patients receiving inhibitors of renin-angiotensin system: population based study. BMJ 2014; 349: g6196

Tetracycline

Doxycyclin ist der relevanteste Vertreter.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Gastrointestinale Störungen. Vitamin-B-Komplex-Mangel. Ablagerung in wachsenden Knochen und Zähnen, deshalb sollten Tetracycline Kindern, Schwangeren und Stillenden nicht gegeben werden. Hepatotoxizität. Phototoxizität (keine Sonnenbäder).

Mögliche Wechselwirkungen

Antikoagulanzien: Eine Reduktion der Antikoagulanzien-Dosis kann erforderlich werden, da Tetracycline die Plasma-Prothrombinaktivität vermindern können. Sulfonylharnstoffe: Verstärkung der Blutzuckersenkung. Ciclosporin: Verstärkung der toxischen Wirkung von Ciclosporin. Mineralische Antazida: verminderte Tetracyclin-Resorption. Digoxin: erhöhte Digoxin-Plasmaspiegel.

Betalactam-Antibiotika

Insbesondere Penicilline, Cephalosporine, Monobactame, Carbapeneme und Betalactamase-Hemmer.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Allergische Reaktionen aller Typen und Manifestationsorte. Gastrointestinale Störungen wie Durchfälle, auch Colitis durch Clostridium difficile. Hepatische Reaktionen (insbesondere bei Amoxicillin plus Clavulansäure). Störungen der Blutstillung sind beschrieben, z. T. möglicherweise durch Beeinträchtigung der Vitamin-K-produzierenden Darmflora.

XIV

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Hier ist Clindamycin einziger relevanter Vertreter.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Gastrointestinale Störungen, Clostridium-difficile-Infektionen. Bereits bei Verdacht auf Pseudomembranöse Enterokolitis: Therapie mit Vancomycin oral oder Metronidazol und sofortige Beendigung der Clindamycin-Anwendung.

Fluorchinolone

„Gyrase-Hemmer“, z. B. Ciprofloxacin, Levofloxacin/Ofloxacin und Moxifloxacin.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Gastrointestinale Störungen, Clostridium-difficile-Infektionen.

SPECIAL ANTIBIOTIKA

Lincosamide

Arthropathien1, Tendinitis, auch Achillessehnenrisse (besonders bei gleichzeitiger Gabe von Corticosteroiden).2 ZNS-Nebenwirkungen (Unruhe, Schlafstörungen, Depression, Krämpfe)3, periphere Neuropathie. QT-Verlängerung [www.crediblemeds.org], kardiale Arrhythmien.4, 5 Dysglykämie.

Mögliche Wechselwirkungen

QT-Verlängerung: Von einem zusätzlich erhöhten Risiko ist auszugehen, wenn neben einem Fluorchinolon gleichzeitig weitere Mittel mit solchem Potenzial verwendet werden [Liste unter www.crediblemeds.org]. Theophyllin: Zunahme der Plasmaspiegel. Vitamin-K-Antagonisten: INR-Erhöhung.

Quellen: 1. Sendzik J, Lode H, Stahlmann R: Quinolone-induced arthropathy: an update focusing on new mechanistic and clinical data. Int J Antimicrob Agents 2009; 33 (3): 194–200 2. Wise BL, Peloquin C, Choi H, Lane Ne, Zhang Y: Impact of age, sex, obesity, and steroid use on quinolone-associated tendon disorders. Am J Med 2012; 125, 1228.e23–1228.e28 3. Hollweg M, Kapfhammer HP, Krupinski M, Möller HJ: Psychopathologische Syndrome unter Behandlung mit Gyrasehemmern. Nervenarzt 1997; 68: 38–47 4. Rao GA, Mann JR, Shoaibi A, Bennett CL, Nahhas G, Sutton SS, Jacob S, Strayer SM: Azithromycin and levofloxacin use and increased risk of cardiac arrhythmia and death. Ann Fam Med 2014; 12 (2): 121–7 5. Briasoulis A, Agarwal V, Pierce WJ: QT prolongation and Torsade de pointes induced by fluoroquinolones: Infrequent side effects from commonly used medications. Cardiology 2011; 120: 103–10

Nitrofurane

Nitrofurantoin ist einziger relevanter Vertreter.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Gastrointestinale Störungen. Polyneuropathie, besonders bei Langzeittherapie. Pulmonale Reaktionen mit akuter Form („Nitrofurantoin-Pneumonie“) und chronischer Form bis zur Lungenfibrose.1 Allergische Reaktionen. Vereinzelt Blutbildstörungen und Autoimmunreaktionen („Lupus-like syndrome“). Hämolytische Krisen bei Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel. Hautreaktionen, auch schwere (z. B. Stevens-Johnson- bzw. Lyell-Syndrom).

Mögliche Wechselwirkungen

Aluminium- oder Magnesium-Salze (Antazida) reduzieren die Resorption von Nitrofurantoin.

Quelle: 1. Weir M, Daly GJ: Lung toxicity and nitrofurantoin: the tip of the iceberg? Q J Med 2013; 106: 271–2

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XV

SPECIAL ANTIBIOTIKA

Fosfomycin Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Gastrointestinale Nebenwirkungen (Übelkeit, Durchfall). Kopfschmerzen. Erhöhung (vorübergehend) der Serumaktivität von Leberenzymen. Allergische Reaktionen.

Mögliche Wechselwirkungen

Metoclopramid: Die Resorption von Fosfomycin-Trometamol wird verschlechtert.

Rifamycine Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Transaminasenanstieg, Leberdystrophien. Regelmäßige Bilirubin- und Leberenzym-Kontrollen sind notwendig. Blutbildstörungen (Kontrollen). ZNS-Störungen (Schläfrigkeit, Ataxie, Sehstörungen). Interstitielle Nephritis.

Mögliche Wechselwirkungen

Rifampicin ist ein potenter Induktor von CYP3A4 und P-Glycoprotein (P-gp). Daraus resultiert ein hohes Potenzial an Interaktionen mit Substraten von CYP3A4 und P-gp. Dazu gehören z. B. Methadon, Ciclosporin, Cumarine, Digoxin und zahlreiche andere, auch Unsicherheit der Wirkung von Kontrazeptiva; eine zusätzliche kontrazeptive Methode ist bis zu zwei Monate nach Absetzen von Rifampicin unumgänglich.1

Quelle: 1. Donnerer J: Wechselwirkungen der hormonellen Kontrazeptiva. Gynäkologe 2011; 44: 31–36

Oxazolidinone

Linezolid ist derzeit der einzige relevante Vertreter.

Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen

Periphere und Opticus-Neuropathie, insbesondere bei längerer Behandlungsdauer. Thrombozytopenie, Anämie. Übelkeit, Erbrechen, Durchfall. Verfärbung der Zunge. Infolge der Monoaminoxidase-(MAO-)Hemmung: Blutdrucksteigerung, Hyperthermie, ZNS-Störungen. Laktatazidose.

Mögliche Wechselwirkungen

Serotonerge Mittel, z. B. Antidepressiva vom Typ der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und der Trizyklika, Triptane: Aus der MAO-Hemmung durch Linezolid resultiert ein erhöhtes Risiko für ein Serotonin-Syndrom. Eine solche Kombination, außer in lebensnotwendigen Fällen, ist kontraindiziert [1 und Fachinformation]. Adrenerge Mittel, z. B. Pseudoephedrin oder Phenylpropanolamin: Aus der MAO-Hemmung durch Linezolid resultiert ein erhöhtes Risiko für Blutdruckanstieg. Kontrollen sind erforderlich. Den Patienten ist davon abzuraten, große Mengen tyraminreicher Nahrungsmittel zu sich zu nehmen [1 und Fachinformation].

Quelle: 1. Ramsey TD, Lau TT, Ensom MH: Serotonergic and adrenergic drug interactions associated with linezolid: a critical review and practical management approach. Ann Pharmacother 2013; 47 (4): 543–60

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DELEGATION

STANDPUNKT

Muss der Arzt unterschreiben? Immer wieder werden Kollegen nach Rückkehr ihrer Patienten aus dem Krankenhaus mit „Delegationserklärungen“ konfrontiert. KLAUS HOLLMANN

In einem Fall übergab die Ehefrau eines Patienten – kurz vor dessen Entlassung aus der Reha-Klinik – dem Hausarzt ein solches Schreiben mit der Bitte um Unterschrift. Ihr Mann litt an Schluckstörungen nach Schlaganfall. Die Anlage einer PEG-Ernährungssonde war bereits in der Akutklinik erfolgt. Nach Aussage der Ehefrau hatte die Reha-Klinik einen Versorgungsdienst eingeschaltet. Die erste Lieferung mit Sondennahrung, Beuteln, Überleitungsbestecken sowie PEG-Verbandsets sei bereits auf dem Weg. Deshalb müsse der weiterbehandelnde Arzt zeitnah unterschreiben. Mit besagter Delegationserklärung sollte der Arzt bestätigen, dass er sich von den fachlichen und praktischen Voraussetzungen von Mitarbeitern des Dienstes überzeugt habe. Er sollte weiterhin bestätigen, dass gegen die Durchführung der enteralen Ernährungstherapie durch das Unternehmen keinerlei (!) ärztliche Bedenken bestünden.

Nachweisbare Qualifikationen Ärzte, die solche Delegationserklärungen vorgelegt bekommen, sind begreiflicherweise irritiert. Im vorliegenden Fall war weder der Name des Mitarbeiters auf dem Vordruck vermerkt, noch suchte der Versorgungsdienst den direkten Kontakt zum Arzt. Soll beziehungsweise darf ein solches Dokument unterschrieben werden? Schließlich kann sich der Arzt zum Zeitpunkt der eingeforderten Unterschrift nicht oder nur mit erheblichem Aufwand über die Qualifikationen der Mitarbeiter solcher Versorgungsdienste – in der Regel „HomecareDienste“ – vergewissern. Dagegen ist bei regulären Pflegediensten eine Delegation im Sinne der Übertragung von Zuständigkeiten auf nichtärztliches Personal grundsätzlich unproblematisch. Pflegediensten kann der behandelnde Arzt Tätigkeiten der Behandlungspflege über eine Verordnung von häuslicher Krankenpflege (HKP-Rl, Muster 12) übertragen. Eine gesonderte Delegationsvereinbarung ist dazu nicht erforderlich.

Aufgaben des Arztes Ein regulärer Pflegedienst erbringt dabei rahmenvertraglich festgelegte Leistungen und rechnet diese per Verordnung häuslicher Krankenpflege mit der jeweiligen gesetzlichen Krankenkasse ab. Voraussetzung hierfür ist eine Kassenzulassung des jeweiligen Pflegedienstes. Diese gewährleistet, dass die fachlichen Voraussetzungen für die Einrichtung und deren Personal geprüft und erfüllt sind. Aufgabe des Arztes bleibt es, bei den regelmäßig stattfindenden Arzt-Patienten-Kontakten (z. B. Hausbesuch) oder bei der Kommunikation mit dem Pflegedienst zu prüfen, ob die angeordneten Maßnahmen angepasst werden müssen und ob sie in seinem Sinne erbracht werden.

Homecare-Dienste Im oben genannten Fall war der Versorgungsdienst kein zugelassener Pflegedienst, sondern ein sogenannter Homecare-Dienst. Diese können, anders als zugelassene Pflegedienste, keine Verordnung zur Erbringung von häuslicher Krankenpflege annehmen. Ihr Interesse gilt im Wesentlichen der Lieferung von Medizinprodukten. Die Produkte werden dem Arzt in der Regel auf Rezeptvordrucken sehr genau „vorgeschlagen“. Das Personal solcher Homecare-Dienste braucht zudem nicht über entsprechende Qualifikationen, zum Beispiel die examinierter Pflegekräfte, zu verfügen. Der weiterbehandelnde Hausarzt sollte mit der Delegationserklärung im Wesentlichen dazu gebracht werden, die Produktauswahl zu delegieren, und zwar unmittelbar an das Trägerunternehmen. Oft ist dies ein Großhändler von Medizinprodukten.

Fazit Delegationserklärungen an Homecare-Dienste führen meist nicht zur Entlastung des behandelnden Arztes. Sie können ihn aber in eine rechtlich sehr problematische Situation bringen. 쮿

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FLIBANSERIN

STANDPUNKT

Pharmamarketing made in USA Drohen uns in Europa auch Kampagnen für die Zulassung eines früheren Antidepressivums als Medikament gegen die sexuelle Unlust von Frauen? DR. MED. JOACHIM SEFFRIN

Quellen: 1. Werner K.: Ich will!, Süddeutsche Zeitung, 3./4.Juni 2015 2. http://gutepillenschlechtepillen.de/ausgabe/nr-4-juliaugust2015/. kvh.link/1603019 3. eventhescore.org/ 4. https://www.change. org/p/womendeserveequal-treatment-whenit-comes-to-sex 5. http://www.jwatch.org/ na38866/2015/08/27/fli banserin-approved-lowsexual-desire-premenopausal-women

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Es gibt sicherlich niemanden, der nicht schon einmal und zum Teil aus mehreren Quellen darüber informiert wurde, dass es jetzt auch Viagra für die Frau gebe.1 Wobei fein zu unterscheiden ist, dass Viagra lediglich eine Wirkung auf die Schwellkörper des Mannes hat, während der neue Wirkstoff namens Flibanserin dafür gedacht ist, das sexuelle Verlangen bei Frauen zu steigern. Alle Kenntnisse und Erfahrungen lassen zwingend darauf schließen, dass die Informationsflut zu diesem speziellen Thema nicht zufällig über uns hereingebrochen ist, sondern von langer Hand gesteuert wurde. Die Zeitschrift „Gute Pillen – Schlechte Pillen“ hat in ihrer Ausgabe Nummer 4 Juni/Juli 2015 Hintergründe zu dieser Story gelüftet.2 So berichtet sie zum Beispiel darüber, dass Boehringer-Ingelheim mit dem Wirkstoff beim Versuch der Zulassung durch die FDA dreimal gefloppt ist. 2011 wurde der Wirkstoff an die Firma Sprout verkauft. Diese eigens von Investoren und Pharmamanagern gegründete US-Firma kümmert sich seither weiter um die Vermarktung des Präparats.2 Im Jahr 2013 scheiterte ein erneuter Antrag bei der FDA mit der Indikation „mangelndes sexuelles Verlangen der Frau“ (HSDD – Hypoactive Sexual Desire Disorder), da der Nutzen als eher gering und der Schaden als erheblich beurteilt wurde. Die Firma entwickelte im Anschluss daran eine Kampagne, um ihre Ziele und Investitionen doch noch erfolgreich umzusetzen. Wie macht man so etwas? Nun, es gibt genügend Beschreibungen, wie man z. B. erfolgreich Persönlichkeiten „engagiert“, die sich für eine Firma und deren Präparat einsetzen. Im konkreten Fall gelang es Sprout, die langjährige Vorsitzende eines Verbandes von 200 US-Frauenorganisationen, Susan Scanlan, einzuspannen, um eine Aktion unter dem Titel „Even the Score“3, frei übersetzt: „den Ausgleich schaffen“, zu unterstützen. Mittlerweile hat die Aktion höhere Wellen geschlagen, eine Petition wurde initiiert und eine Homepage3

erstellt. Diese zeigt Frauen, wie sie „der Sache“ durch Unterstützung einer Petition und dem Angehen von Kongressabgeordneten nachhelfen können. Sogar eine Internetaktivistenseite, die üblicherweise für moralisch hochwertige Ziele einsteht, ließ sich für den Konzern einspannen (change.org).4 Ganz nebenbei: Nach den Informationen von „Gute Pillen – Schlechte Pillen“ scheint der Wirkstoff schlecht verträglich und mit häufigen unerwünschten Wirkungen verbunden zu sein. Und der Effekt ist nach Aussage der vorliegenden Informationen wohl eher mager. Frau kann davon ausgehen, von etwa drei zufriedenstellenden sexuellen Akten pro Monat auf viermal befriedigenden Sex im Monat zu kommen. Bei der Zeitschrift „Gute Pillen – Schlechte Pillen“ handelt es sich um ein Projekt der Macher von arznei-telegramm, Der Arzneimittelbrief und Pharmabrief. Das Journal richtet sich an Laien. Ebenso wie die vorgenannten Zeitschriften ist auch „Gute Pillen – Schlechte Pillen“ frei von Werbung und dem Einfluss der pharmazeutischen Industrie. Vielfältige Laienthemen werden in kritischer Weise und informativ aufbereitet. Auch der erfahrene Arzt kann hier immer wieder wertvolle Informationen sammeln (siehe Flibanserin!), die bei der täglichen Beratung seiner Patienten hilfreich sein können. Es gibt die Möglichkeit, ein kostenloses Ansichtsexemplar beim Westkreuz Verlag zu beziehen. Alle weiteren Informationen finden sich auf der Internetseite.2 Ein Abonnement zum Auslegen im Wartezimmer kostet eine Arztpraxis 49 Euro im Jahr. 쮿

STANDPUNKT

Anders als Viagra muss Flibanserin täglich eingenommen werden. Zudem wirkt es nicht auf die Klitoris oder vaginal, sondern im Gehirn. Bei eher geringem Effekt: Der Unterschied zu Placebo lag in Studien bei weniger als einem zufriedenstellenden sexuellen Akt pro Monat.

NACHTRAG Mittlerweile ist der Stoff in den USA für HSDD unter dem Namen Addyi zugelassen.5 Als Nebenwirkungen werden Benommenheit, Hypotonie und Synkopen beschrieben. Der gleichzeitige Gebrauch von Alkohol oder starken CYP3A4Inhibitoren ist von einer exzessiven Erhöhung des Risikos dieser und anderer Nebenwirkungen begleitet. Dazu gehören zum Beispiel Leberfunktionsstörungen. Während etwa 35 Prozent der Placebonutzerinnen einen Effekt gespürt haben

wollen, meinen 45 Prozent der Verumanwenderinnen, eine Besserung wahrzunehmen. Andere Untersuchungen kommen auf noch schlechtere Ergebnisse. Nach Informationen von journalwatch.org sollen nur Ärzte und Apotheker, die einen Onlinekurs absolviert haben, befugt sein, dieses Medikament zu verordnen. Ob bzw. wann der Wirkstoff in Europa auf den Markt kommt, ist nicht bekannt. Journalwatch5 kann als kostenloser täglicher E-Mail-Letter abonniert werden.

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FORSCHUNG & PRAXIS

SACUBITRIL/VALSARTAN (ENTRESTO)

Der neue Standard bei Herzinsuffizienz? Bei der Interpretation der PARADIGM-Zulassungsstudie gehen die Expertenmeinungen auseinander. Das Präparat Entresto (Sacubitril-ValsartanFixkombination, Novartis) wurde im November 2015 zugelassen für die Behandlung einer symptomatischen, chronischen Herzinsuffizienz mit reduzierter Es bedarf umfangreicher Ejektionsfraktion. Entresto wird Untersuchungen, bevor man beworben als neuer Therapiestandard bzw. als Paradigmenbei Sacubitril/Valsartan vom wechsel in der Therapie der therapeutischen Standard Herzinsuffizienz mit 20 Prozent für eine Herzinsuffizienz geringerer kardiovaskulärer Mortalität. In der Zulassungssprechen kann. studie PARADIGM-HF1 wird der primäre WirksamkeitsProf. Dr. med. Bernd Mühlbauer endpunkt „kardiovaskuläre Sterblichkeit und/oder herzschwächebedingte Klinikeinweisungen“ in der Sacubitril/Valsartan-Gruppe um absolut 4,7 Prozent reduziert. Im Einzelnen vermindert sich die kardiovaskuläre Sterblichkeit um 3,2 Prozent. Quelle: Darüber hinaus werden Krankenhausaufenthalte 1. McMurray JJV, Packer M, Desai AS, et al.: um 2,8 Prozent reduziert, jedoch nicht in schweAngiotensin-Neprilysin ren NYHA-Stadien. Dagegen treten Hypotonien Inhibition versus Enalaunter Sacubitril/Valsartan um 5 Prozent häufiger pril in Heart Failure. N Engl J Med 2014; auf. Die Ergebnisse begründeten den frühzeitigen 371: 993–1004 Abbruch dieser einzigen Zulassungsstudie: Hier2. Institut für Qualität und durch wurde die mittlere Beobachtungszeit von Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: geplanten 32 auf 27 Monate verringert.

Sacubitril/Valsartan – Nutzenbewertung gemäß § 35a SGB V. IQWiG 2016; Dossierbewertung A15-60. kvh.link/1603021 3. Mühlbauer B: Paradigmenwechsel ARNI? Immer langsam mit den jungen Pferden! AVP 2016; 43: 67–9. kvh.link/1603020 4. BÄK, KBV, AWMF: Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische Herzinsuffizienz, Version 7, Dezember 2009, zuletzt geändert: August 2013

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Besonderheiten der Zulassungsstudie Die PARADIGM-Kontrollgruppe erhielt eine Wirkstoffkombination aus ACE-Hemmern (2 x 10 mg Enalapril-Äquivalent) und Betablockern. Trotz des auf Optimierung der medikamentösen Therapie ausgelegten Protokollkonzeptes erhielten die Kontrollpatienten allerdings in 43 Prozent keine Aldosteron-Antagonisten, in 20 Prozent keine Diuretika sowie in 7 Prozent keine ß-Blocker (Tabelle 1 in 1). Mangels stadienspezifischer Angaben im Originalartikel ist nicht überprüfbar, ob das therapeutische Potenzial besagter Wirkstoffe (Diuretika, Aldosteron-Antagonisten, ß-Blocker) in der Kon-

trollgruppe tatsächlich leitliniengerecht ausgeschöpft wurde. Hierbei erwähnenswert: Die PARADIGM-Studie fiel im Wesentlichen in den Zeitraum der Gültigkeit der „Nationalen Versorgungs-Leitlinie Herzinsuffizienz“. Vor diesem Hintergrund werden die Limitationen der „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ deutlich. Als zweckmäßige Vergleichstherapie für die Dossierbewertung hatte das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) den ACE-Hemmer Enalapril sowie einen Betablocker, „sofern angezeigt“, festgelegt (Tabelle 2, Absatz 2.2 in 2). Eine Protokollbesonderheit war die sogenannte „run-in period“ von fünf bis zehn Wochen, wodurch die Verträglichkeitsrate der Testsubstanz vor Randomisierung optimiert wurde. Durch diese Run-in-Phase wurden 19,7 Prozent (!) aller für PARADIGM ursprünglich geeigneten Patienten vor Beginn der eigentlichen Vergleichsstudie wieder ausgeschlossen. Ein solches Vorgehen setzt PARADIGM dem Vorwurf einer hochoptimierten Kurzfriststudie aus. Die besondere Vorbereitung (Runin) unterläuft den Intention-to-Treat-Ansatz, dem Zulassungsstudien dieser Art üblicherweise folgen sollten. Gerade für Wirkstoffe mit geringer therapeutischer Breite erhöht sich so die Gefahr, dass ihre Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (Effectiveness) überschätzt wird. Das IQWiG stellt für Sacubitril/Valsartan wegen überwiegend positiver Effekte den Zusatznutzen als beträchtlich fest (Anmerkung zur Begriffshierarchie: erheblicher, beträchtlicher, geringer Zusatznutzen).2 Die dokumentierten nicht-schweren Nebenwirkungen (Hypotonien) würden dies nicht infrage stellen.

Eingeschränkte Aussagesicherheit Allerdings sei die eingereichte Dokumentation im Hinblick auf wirkstoffspezifische schwere Ereignisse nicht abschließend interpretierbar. Insgesamt werde ein „Hinweis auf beträchtlichen

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Zusatznutzen“ festgestellt. Ein solcher „Hinweis“ deutet auf eine eingeschränkte Aussagesicherheit der Daten im Herstellerdossier hin. Im vorliegenden Fall baute das auf lediglich einer einzigen Studie auf: eben der PARADIGM-Studie. Eine höhere Stufe wäre der „Beleg“. Ein Beleg stellt aber nochmals erhöhte formale Anforderungen an Einzelstudien-Dossiers. Diese sah das IQWiG bei PARADIGM offenbar nicht erfüllt. In einer lesenswerten Übersicht für die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) weist Bernd Mühlbauer auf offene Fragen zur Langzeitsicherheit des neuen Wirkprinzips der Neprilysin-Hemmung hin.3 Neprilysin sei am Abbau von Amyloid beteiligt, dessen unlösliche Form bei der Alzheimer-Demenz eine Rolle spiele. Ebenso sei der Langzeiteffekt von Sacubitril bei einer altersbedingten Makula-Degeneration unklar. Gleichwohl gebe es mit der SacubitrilValsartan-Fixkombination erstmals seit Jahren eine zusätzliche Behandlungsoption der Herzschwäche, die aber – gemäß der Evidenzlage – vorerst nur für eine sehr eingeschränkte Patientengruppe infrage komme.

Fazit Bei sorgfältig vorselektierten Patienten mit symptomatischer Herzinsuffizienz kann Sacubitril/Valsartan (Entresto) einem gängigen Kombinationstherapie-Regime kurzzeitig überlegen sein. Andererseits könnten Patienten, die der PARADIGMKontrollgruppe entsprechen, von einer Optimierung ihrer Kombinationstherapie profitieren: Bei systolischer Herzinsuffizienz ist dies nach wie vor der konsequente (!) Einsatz von ACE-Hemmern, ß-Blockern und Diuretika (H 6.2.1 in 4). ß-Blocker sind zu titrieren und auch niedrigstdosiert wirksam. Sartane sollten nur bei Prilat-Unverträglichkeit

gegeben werden, Spironolacton erst ab NYHA III unter Laborkontrollen. Die Anleitung zur selbstständigen Dosisanpassung des Diuretikums nach Körpergewicht und Symptomatik ist notwendig, genauso wie eine Schulung zur frühzeitigen Erkennung der akuten Dekompensation mit dem Ziel der raschen parenteralen Eskalation mit Schleifendiuretika und gegebenenfalls sequenzieller Nephronblockade mit z. B. Furosemid und Thiazid. Die Studiendokumentation von PARADIGM lässt hier eine Unterversorgung vermuten. Andererseits birgt Entresto bei unkritischer Verschreibung Potenzial für geschätzt 10–15 Prozent Therapieabbrüche (etwa 10 Prozent Run-in-Ausschlüsse plus circa 5 Prozent Hypotonie). Neben einer robusten Adhärenz der jeweiligen Patienten – auch im Anschluss an kurzzeitige Blutdruckeinbrüche – muss die enge Führung durch Kardiologe und Hausarzt sichergestellt sein, um das Potenzial des neuen Präparats auch unter Alltagsbedingungen tatsächlich realisieren zu können. 쮿

Definition Zusatznutzen Die unbestimmten Rechtsbegriffe „erheblich“, „beträchtlich“ und „gering“ des IQWiG mögen für Juristen in ihrer Bedeutung eindeutig abstufend sein. Der Nichtjurist könnte „erheblich“ und „beträchtlich“ jedoch ebenso gut als gleichwertig verstehen. Dass die Note „beträchtlich“ oft schon für ein Prozent mehr Wirkung vergeben werden kann – wer weiß das schon? Hier nutzt die Pharmawerbung bei G-BA-Zitaten geschickt Watzlawicks viertes Axiom: „Analoge Kommunikation ist mehrdeutig.“

DR. MED. STEFAN GRENZ INFO

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NUTZENBEWERTUNG Hier finden Sie die Stellungnahme der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) zu Empagliflozin (Jardiance) und zur Kombination Empagliflozin/Metformin (Synjardy):

kvh.link/1603022 INTERNET

Literatur: 1. UKPDS 33, The Lancet, Volume 352, Issue 9131, 12 September 1998, Pages 837–853 2. UKPDS 34, The Lancet, Volume 352, Issue 9131, 12 September 1998, Pages 854–65 3. Zinman B, et al. Empagliflozin, Cardiovascular Outcomes, and Mortality in Type 2 Diabetes, NEJM, 17. Sept. 2015, 73: 2117–28; DOI: 10.1056/NEJMoa1504 720 4. Wanner C, et al. Empagliflozin and Progression of Kidney Disease in Type 2 Diabetes, NEJM, 14.6.2016; DOI: 10.1056/NEJMoa1515 920 5. Marso SP, et al. Liraglutide and Cardiovascular Outcomes in Type 2 Diabetes, NEJM, 13.6.2016; DOI: 10.1056/NEJMoa1603 827 6. Comparative Effectiveness of Sulfonylurea and Metformin Monotherapy on Cardiovascular Events in Type 2 Diabetes Mellitus, Ann Intern Med. 2012; 157: 601–610

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Eine Frage der Methodik Warum uns die Bewertung des IQWiG im Praxisalltag nicht immer weiterhilft. Dargestellt am Beispiel aktueller Diabetes-Studien. DR. MED. JOACHIM FESSLER Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bewertet den Nutzen eines neuen Wirkstoffs gegenüber einer Vergleichssubstanz, die in der Alltagstherapie etabliert ist. Sie beurteilt also nicht, ob ein Medikament gegen Placebo wirkt, wie wir Ärzte es für unsere Therapie fordern, sondern wie es gegenüber einem bereits etablierten Medikament wirkt, dessen Nutzen anerkannt ist. Der Sinn der Nutzenbewertung des IQWiG ist nicht primär, uns Hilfestellung in der Therapie zu geben, sondern sie dient als Grundlage für die Preisfindung (AMNOG) einer neuen Substanz. Diese darf nur bei Überlegenheit teurer sein.

Daraus ergeben sich zwei Probleme: 1. Die Auswahl der Vergleichstherapie ist oft umstritten und entspricht nicht immer unserer hausärztlichen Praxis bzw. den gängigen Leitlinien. Zudem kommen viele Studien aus den USA und dort sind teils andere Substanzen etabliert (z. B. Warfarin im Gegensatz zu Phenprocoumon bei uns). 2. Oft wird als Behandlungsziel vom IQWiG ein Surrogatparameter gewählt, wie zum Beispiel das HBA1C. Allerdings ist die HBA1C-Senkung bekanntermaßen bei Diabetes nur eingeschränkt repräsentativ für die Endpunkte Mortalität und Morbidität. Es gibt nur wenige Endpunktstudien in der Diabetologie. Eine der ältesten ist die UKPDS-Studie (Metformin, Sulfonylharnstoff, Insulin)1, 2, die einen Überlebensvorteil für Metformin und Insulin gegenüber Placebo zeigen konnte. Ob ein Zusatznutzen in der IQWiG-Bewertung für den Surrogatparameter HBA1C besteht oder nicht – egal ob im Vergleich zu Metformin oder Sulfonylharnstoff –, ist für die Behandlung in der Praxis ohne Bedeutung. Wichtig ist für uns die Frage, ob Mortalität oder Morbidität gebessert werden. Diese Endpunkte wurden in den aktuellen Studien

EMPAREG-OUTCOME (Empagliflozin)3,4 oder LEADER (Liraglutid)5 untersucht und gegen Placebo kontrolliert und nicht gegenüber einer Vergleichssubstanz. Beide Studien zeigen eine signifikante Besserung der Endpunkte. Diese Endpunktbesserung wurde vom IQWiG jedoch nicht bewertet, da die Nutzenbewertung von Natur aus darauf ausgelegt ist, gegenüber einer etablierten Therapie zu bewerten. Somit wurde angeführt, dass ein Zusatznutzen nicht vorliege, da es keine Studie gegen die geforderte Vergleichssubstanz gebe. Es gibt jedoch keine etablierte Therapie mit positiven Endpunkten, die UKPDS ist eine historische Studie, deren Studiendesign in der heutigen Zeit so nicht mehr akzeptiert würde.6 Also sind die beiden neuen Endpunktstudien nach dem Design (Methodik) des IQWiG nicht zur Nutzenbewertung geeignet. Über diesen Formalismus mag man sich in der Praxis die Haare raufen und nur hoffen, dass der G-BA (Gemeinsame Bundesausschuss), der auf Grundlage der IQWiG-Bewertung sein Urteil fällt, mehr den Blick auf die Anforderungen der Praxis hat. Denn was hilft uns der im AMNOG angedachte gute Gedanke, dass wir an der „Behandlungsfront“ eine neutrale, frühe Bewertung der Innovationen erhalten, wenn auf unsere Fragestellungen nicht eingegangen wird? Meine Fragen sind einfach: Sind die Studienergebnisse zuverlässig? Wurden die richtigen statistischen Methoden angewendet oder sind die Ergebnisse geschönt? Entspricht die Studienpopulation in etwa der in meiner Praxis? Wann und wie soll ich mit diesen neuen Substanzen umgehen, wann sind sie medizinisch indiziert und wie erfolgt der Einsatz wirtschaftlich? Hierzu gibt es zurzeit keine gültige Antwort. Wie handhaben Sie es in Ihrer Praxis? Bitte lassen Sie uns diskutieren, wenn uns schon in der Bewertung nicht sonderlich geholfen wird. 쮿

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NOAK

Erhöhtes Blutungsrisiko bei Multimedikation Die Therapiesicherheit neuer oraler Antikoagulanzien (NOAK) wird durch gängige Wirkstoffe stärker beeinflusst als bisher DR. MED. STEFAN GRENZ angenommen. Neue orale Antikoagulanzien zeigen in multinationalen Zulassungsstudien Vorteile gegenüber dem Vitamin-K-Antagonisten Warfarin (VKA). Diese Vorteile umfassen sowohl die Wirksamkeit als auch die Rate an schweren Blutungen. Der Expertenstreit zur Übertragbarkeit solcher Studienergebnisse auf die allgemeine Versorgungspraxis hält bei den NOAK gleichwohl an. Einerseits sollen besagte Vorteile infolge durchgehend mäßiger INR-Einstellungen der Warfarin-Studiengruppen überbewertet gewesen sein.1, 2 Andererseits halten Versprechen wie ein unter NOAK obsoletes Labormonitoring oder die Unempfindlichkeit von NOAK gegenüber äußeren Einflüssen der Praxisrealität wohl doch nicht stand.

Risiko Begleitmedikation Eine niederländische Studie hat hierzu den Einfluss der Begleitmedikation auf die Sicherheit einer Therapie mit Apixaban (Eliquis) untersucht. Es wurden dazu Originaldaten der ARISTOTLEZulassungsstudie nachanalysiert.3 Demnach ist die Multimedikation generell ein Risikofaktor für schwere Blutungen – unabhängig von dem verwendeten Antikoagulanz. Bei der Einnahme von fünf oder mehr verschiedenen Wirkstoffen stieg die Blutungsrate unter Apixaban tendenziell sogar stärker an als unter Warfarin. Die Teilnehmer der untersuchten ARISTOTLE-Studie nahmen im Mittel sechs verschiedene Präparate ein. Unterstellt man die leitliniengerechte Therapie der aufgeführten Erkrankungen, nahm die Mehrheit der Studienteilnehmer folglich einen oder mehrere Wirkstoffe, die den hepatischen Cytochrom-3A4-Abbauweg (CYP3A4) verzögern. Diese Tatsache ist entscheidend, da alle NOAK im Wesentlichen über das Isoenzym CYP3A4 inaktiviert werden.

Einflussfaktor Wirkdauer Außerdem ist zu beachten, dass die Kontrollgruppen aller NOAK-Studien mit dem international üblichen Warfarin (z. B. Coumadin) behandelt wurden. Dagegen wird in Deutschland bevorzugt Phenprocoumon (z. B. Marcumar) eingesetzt. Die Eliminationshalbwertszeiten dieser beiden VKA unterscheiden sich erheblich. Für Phenprocoumon werden etwa 160 Stunden, für Warfarin nur etwa 35–45 Stunden angegeben. Auch VKA werden hepatisch abgebaut, wobei für Phenprocoumon neben CYP3A4 der alternative Weg über CYP2C9 angegeben wird.4

Fazit Die meisten kardiovaskulären Standardpräparate sind CYP3A4-Verzögerer: Atorvastatin, Simvastatin, Amlodipin, Nifedipine, Verapamil, Amiodaron, Eplerenone oder Propranolol. Aber auch Clarithromycin, Ciprofloxacin, Zolpidem sowie der „gesunde“ Pampelmusensaft sind problematisch. Insbesondere der Trend zu Statin-Hochdosistherapien könnte dieses Problem verschärfen. Die Abhängigkeit der NOAK-Sicherheit von Art und Anzahl der Comedikation und der Nierenfunktion macht es fragwürdig, wenn ein Monitoring der NOAKAntikoagulation generell als überflüssig dargestellt wird. Die Behauptung, NOAK seien bei schlechter VKA-Compliance automatisch die bessere Wahl, sollte vor dem Hintergrund dieser Studie kritisch hinterfragt werden. Ob die längere Wirkdauer von Phenprocoumon (Marcumar) gegenüber Warfarin relevante sicherheitsbezogene Vor- oder Nachteile hat, ist derzeit freilich ebenso unklar. 쮿

Die Ergebnisse der Nachanalyse der ARISTOTLE-Zulassungsstudie zu Apixaban sind kostenlos einsehbar unter:

kvh.link/1603023 INFO

Literatur: 1. IQWiG: Dossierbewertung A12–20 Apixaban. 2.1 Kurzfassung: Ergebnisse der VKAPopulation (Seite 6) 2. Therapie mit CumarinAntikoagulantien. arznei-telegramm 2015; 46: 48 3. Focks JJ, et al. Polypharmacy and effects of apixaban versus warfarin in patients with atrial fibrillation: post hoc analysis of the ARISTOTLE trial. BMJ 2016; 353: i2868–78 4. MEDA Pharma GmbH: Fachinformation Marcumar. Mai 2015

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ESUS

Neue Ideen zum Apoplex Die Ursache eines Viertels aller ischämischen Schlaganfälle ist unklar. Eine industrienahe Expertengruppe weiß es besser und wirbt ohne Studienbeleg für neue Therapiestandards.

Nach Zulassung eines neuen Wirkstoffs wird der Markt bisweilen für zusätzliche Indikationen vorbereitet. Hilfreich sind hierzu neue Begrifflichkeiten, die dann von sogenannten Meinungsbildnern vermittelt werden. Der Kunstbegriff „ESUS“ (Embolic Stroke of Undetermined Source) verspricht, eine solche Neuindikation zu werden. Die Sache hat nur zwei Haken: Klinische Belege für die „ESUS-Hypothese“ gibt es nicht. Außerdem ist die vorhandene Studienlage mit dieser Hypothese nicht vereinbar.

TOAST definiert „kryptogen“ Bei ischämischen Schlaganfällen kennt die Literatur drei Hauptgründe: arteriosklerotischmakroangiopathische Ursachen (etwa 25 Prozent), arteriosklerotisch-mikroangiopathische Ursachen (lakunäre Infarkte – ebenfalls etwa 25 Prozent) sowie Vorhofflimmern (derzeit auf ungefähr 20 Prozent Bis auf Weiteres hat kein geschätzt). Hinzu kommen weiNOAK eine Zulassung für die tere 5 Prozent bekannte, aber Indikation „Sekundärpräven- seltene Gründe. Dagegen bleibt beim restlichen Viertel aller tion nach ischämischem ischämischen Schlaganfälle die Schlaganfall ohne Nachweis Ursachensuche erfolglos – diese von Vorhofflimmern“. werden als kryptogene Schlaganfälle bezeichnet. Nach den TOAST-Kritierien1 darf ein ischämischer Schlaganfall dann als „kryptogen“ bezeichnet werden, wenn eine kardiogene oder nichtkardiogene Ursache nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Es darf demnach kein Vorhofflimmern vorliegen (Mindestforderung: 24-h-Langzeit-EKG). Außerdem müssen ein persistierendes Foramen ovale (untersucht im Dopplerechokardiogramm), lakunäre Infarkte (im CT/MRT) und hämodynamisch relevante Stenosen der hirnversorgenden Arterien (im Duplex oder CT-/MRAngiogramm) ausgeschlossen worden sein.

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Ist (fast) alles embolisch? In diesem Kontext taucht nun der ESUS-Begriff auf: embolischer Schlaganfall aus nichteindeutiger Quelle. Geprägt wurde er durch eine LANCETVeröffentlichung der „Internationalen Arbeitsgruppe kryptogener Schlaganfall“ aus dem Jahr 2014.2 Nach der „ESUS-Hypothese“ sind alle kryptogenen Insulte im Wesentlichen embolischer Genese. Hieraus wird abgeleitet, dass eine Antikoagulation als Sekundärprävention für Insultpatienten ohne lakunäre Hirninfarkte bzw. ohne relevante Stenosen der hirnversorgenden Arterien einer Aggregationshemmung prinzipiell überlegen sei. Ginge es nach der Arbeitsgruppe, würden nach einem ischämischen Schlaganfall nahezu drei Viertel aller Patienten mit NOAK antikoaguliert (im Wesentlichen nur interventionspflichtige Karotisstenosen ausgenommen). Lediglich bei einem Viertel der Betroffenen bliebe es – infolge des Nachweises lakunärer Infarkte – bei einer Aggregationshemmung mit ASS.

Ist Embolus gleich Embolus? Die Empfehlungen der ESUS-Arbeitsgruppe basieren nicht auf neuen, eigenen Interventionsstudien. Vielmehr werden historische Veröffentlichungen neu bewertet: z. B. die renommierte WARSS-Studie von 2001.3 Als bislang einzige randomisierte Erhebung verglich WARSS (Warfarin-Aspirin Recurrent Stroke Study) Warfarin und ASS als Sekundärprävention nach ischämischem Erstereignis. Ausschlusskriterien waren hochgradige Karotisstenosen und Vorhofflimmern. Kernaussage der WARSS-Autoren: Antikoagulation mit Warfarin wirkt nicht besser als Aggregationshemmung mit ASS. Sogar die protokollkonforme Analyse der Untergruppe kryptogener Insulte zeigte keinen Vorteil für Warfarin: Eine 1,5-prozentige Differenz zugunsten Warfarin war nicht signifikant (p = 0,68).

Fragliches Engagement Dessen ungeachtet empfiehlt die ESUS-Arbeitsgruppe aktuell nichts weniger als eine Art Wiederholung der WARSS-Studie. Es gebe mittlerweile neue Antikoagulanzien, die sicherer und wirksamer seien als Warfarin. Die Gruppe wird hierin unterstützt von Boehringer-Ingelheim, von Bayer und von Bristol-Myers Squibb.2 Mitglieder der Gruppe haben mittlerweile die Beschreibung einer entsprechenden Studie publiziert. Demnach soll Dabigatran (Pradaxa) gegen ASS getestet werden.5 Dabigatran, ein zweimal am Tag einzunehmender Thrombinhemmer (die anderen drei derzeit verfügbaren NOAK sind Faktor-Xa-Hemmer), ist das NOAK mit der geringsten renalen Sicherheit. Gleichwohl ist es für die Mitglieder der Arbeitsgruppe offenbar ein Antikoagulanz der Wahl für makroangiopathische Insultpatienten. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Hauptautor und mehrere Mitautoren der Arbeitsgruppe vom Dabigatran-Hersteller, der Firma Boehringer-Ingelheim, wirtschaftlich unterstützt wurden: R. G. Hart erhielt Forschungsgelder.2 S. J. Connolly (Hauptautor der RELY/Dabigatran-Studie) erhielt Beraterhonorare, genauso wie H. C. Diener (Mitautor von RELY).6 Auch C. B. Granger (Hauptautor der ARISTOTLE /Apixaban-Studie) erhielt unter anderem Bezüge der Firma Boehringer-Ingelheim.7

klinischen Wirklichkeit befreit. Bis auf Weiteres hat kein NOAK eine Zulassung für die Indikation „Sekundärprävention nach ischämischem Schlaganfall ohne Nachweis von Vorhofflimmern“. Der Therapiestandard in der Sekundärprophylaxe ist gemäß der WARSS-Studie die Aggregationshemmung mit ASS. 쮿 DR. MED. STEFAN GRENZ

Literatur: 1. Adams HP, Bendixen BH, Kappelle LJ, et al. Classification of subtype of acute ischemic stroke. Definitions for use in a multicenter clinical trial. TOAST. Trial of Org 10172 in Acute Stroke Treatment. Stroke 1993; 24, 1: 35–41 2. Hart RG, Diener HG, Granger CB, Sacco RL, Conolly SJ, et al. The case for a new clinical construct. Lancet Neurol 2014; 13: 429–38 3. Mohr JP, Thompson JLP, Lazar RM, et al. A Comparison of Warfarin and Aspirin for the Prevention of Recurrent Ischemic Stroke. N Engl J Med 2001; 345: 1444–51. kvh.link/1603024 4. Sacco RL, Prabhakaran S, Thompson JLP, et al. Comparison of Warfarin versus Aspirin for the prevention of recurrent stroke or death: subgroup analyses from the Warfarin-Aspirin Recurrent Stroke Study. Cerebrovasc Dis 2006; 22: 4–12 5. Diener HC, Granger CB, Sacco RL, et al. Design of randomized, double-blind, Evaluation in secondary stroke prevention comparing the efficacy and safety of the oral thrombin inhibitor dabigatran etexilate vs. acetylsalicylic acid in patients with Embolic Stroke of Undetermined Source. Int J Stroke 2015; 10 (8): 1309–12 6. Connolly SJ, et al. Dabigatran versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med 2009; 361: 1139–51 7. Granger CB, et al. Apixaban versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med 011; 365: 981–92

FORSCHUNG & PRAXIS

Merkwürdigerweise sieht die ESUS-Arbeitsgruppe in denselben Studiendaten „überzeugende Belege“ für die Überlegenheit der Antikoagulation. Die Begründung: Ein Mitglied der Gruppe (R. L. Sacco) errechnete vor zehn Jahren aus WARSS-Daten einen signifikanten Vorteil für Warfarin in einer kleinen, radiologisch definierten Subgruppe. Allerdings stehen Nachanalysen dieser Art, insbesondere im verwendeten multivariaten Schrotschussverfahren, generell in der wissenschaftlichen Kritik, nicht beweiskräftig zu sein. Entsprechend klar fiel seinerzeit das Urteil des Autors R. L. Sacco zur eigenen Arbeit aus: Aggregationshemmer seien weiterhin das Mittel der Wahl für Patienten nach Schlaganfall ohne Vorhofflimmern (noncardioembolic stroke).4

Mehr zum Thema „Wie entstehen wohlwollende Beiträge über neue Medikamente?“ (Publication Planning) können Sie auch in KVH aktuell 1/2014, Seite 7 bis 10, lesen. Den Artikel erhalten Sie gerne in der Redaktion. INFO

Fazit Die Zeitschrift LANCET hatte die besagte Veröffentlichung2 von Diener et al. in der Rubrik „Persönliche Meinungen“ abgedruckt. Das ist wohl die übliche Vorgehensweise dieser renommierten Fachzeitschrift, wenn eine neu geschaffene Studiengruppe ohne neue Studie (aber mit freundlicher Unterstützung der Branche) ein Wunschergebnis vom Zwang der

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CHOOSING WISELY: IM PRAXISALLTAG

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Klug entscheiden Im Rahmen unserer Serie zur Choosing-wisely-Kampagne stellen wir Ihnen in dieser Ausgabe die Top-5-Empfehlungen auf dem Gebiet der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (HNO) vor. Ziel ist es wieder, überflüssige diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu vermeiden. Alle Angaben sind eine weitgehend wörtliche Übersetzung der US-amerikanischen Originalformulierungen. Die Kosten-Nutzen-Überlegungen stellen dabei nicht die Prioritäten der Redaktion dar:

1. Bei plötzlich auftretendem Hörverlust sollte kein CT von Schädel oder Gehirn angefordert werden! 쐍 Computertomografie ist teuer und stellt eine Strahlenbelastung des Patienten dar. Bei dieser Fragestellung ist keine nützliche Information zu erwarten, die zu einer Änderung des Vorgehens führen würde. 쐍 Ein CT des Kopfes mag bei Patienten mit fokal-neurologischen Befunden zweckmäßig sein oder bei einer Vorgeschichte mit Schädeltrauma oder chronischer Erkrankung des Ohres. 2. Verschreiben Sie keine oralen Antibiotika bei einer unkomplizierten akuten Otitis media sowie bei unkompliziertem Sekretfluss aus dem Paukenröhrchen! 쐍 Orale Antibiotika haben nennenswerte Nebenwirkungsrisiken und bieten keine adäquate Abdeckung der Keime, die hier für die meisten Infektionen zu erwarten sind. Die Vermeidung von oral angewandten Antibiotika kann das Ausbreiten von Antibiotikaresistenzen und die Gefahr von opportunistischen Infektionen mindern.

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쐍 Im Gegensatz dazu decken lokal wirksame Produkte die meisten infrage kommenden Keime ab.

4. Keine Routine-Röntgenaufnahmen bei Patienten, die die diagnostischen Kriterien für eine unkomplizierte Rhinosinusitis (Schnupfen) aufweisen. 쐍 Röntgenbilder der paranasalen Sinus, inklusive einfacher Röntgenaufnahmen und CT (sowie MRT), sind bei Patienten, die die klinischen diagnostischen Kriterien für einen akuten Schnupfen haben, unnötig. Die Definition einer akuten Rhinosinusitis (Schnupfen) bedeutet bis zu vier Wochen anhaltenden eitrigen Ausfluss (aus der Nase, in den Rachen oder beides), auch begleitet von verstopfter Nase, Schmerz-, Druckge-



5. Veranlassen Sie kein CT oder MRT bei Patienten mit Heiserkeit vor einer Untersuchung des Larynx. 쐍 Bei Heiserkeit besteht die primäre Untersuchungstechnik in der Spiegelung des Larynx oder einer Untersuchung mittels Fiberoptik. Bei den meisten Patienten ist eine Bildgebung unnötig. Sie ist einerseits teuer und setzt andererseits Patienten einer wahrscheinlich unnötigen Strahlenbelastung aus. 쐍 Nach der Laryngoskopie kann Bildgebung weiterhelfen, um eine Stimmbandlähmung oder Raumforderungen oder andere Läsionen des Larynx abzuklären.

Das Original Für die Initiative „Choosing wisely“ haben US-Fachgesellschaften und Patientenorganisationen Listen zusammengestellt, in denen Ärzte und Patienten (Laien) recherchieren können, welche geplanten Untersuchungen und Therapien nutzlos sein könnten. Hier finden Sie die wichtigsten zwecklosen oder teilweise gefährlichen Maßnahmen, geordnet nach Fachbereichen beziehungsweise Testverfahren oder Beschwerden:

DIALOG

3. Setzen Sie keine Paukenröhrchen bei ansonsten gesunden Kindern, die nur eine Episode von Paukenerguss von weniger als drei Monaten hatten! 쐍 Flüssigkeit in der Paukenhöhle wird in aller Regel spontan resorbiert. Das Kind sollte unter Kontrolle bleiben, um sicherzustellen, dass die Flüssigkeit resorbiert wurde. 쐍 Bei Kindern mit Komorbiditäten oder Sprachverzögerung kann eine frühzeitigere Versorgung mit Paukenröhrchen sinnvoll sein.

fühl und anderen Beschwerden im Gesichtsbereich. Bildgebung ist teuer und setzt die Patienten einer Strahlenbelastung aus. Röntgendiagnostik kann bei Komplikationen im Rahmen einer akuten Rhinosinusitis zweckmäßig sein, bei Patienten mit Komorbiditäten, die ein Risiko für Komplikationen darstellen, oder wenn andere Diagnosen zur Diskussion stehen.

DR. MED. JOACHIM SEFFRIN

kvh.link/1603025

INTERNET

MITARBEITEN ALS AUTOR? Wenn Sie … 쐍 interessiert sind an hausärztlichen und internistischen Themen, 쐍 viermal jährlich an Redaktionssitzungen in Frankfurt/Main teilnehmen können, 쐍 Themen aktiv diskutieren und Wissen aus Ihrem Praxisalltag einbringen möchten, 쐍 bereit sind, regelmäßig Texte für KVH aktuell zu verfassen,

... dann sollten wir uns kennenlernen! Machen Sie direkt einen Termin mit Petra Bendrich aus. Sie organisiert für Sie ein Treffen mit dem Redaktionsteam: Telefon: 069 24741-6988 E-Mail: [email protected]

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Rezept des Monats

DIALOG

Patient Jahrgang 1929, männlich, wurde kürzlich im Altenheim aufgenommen. Der mitgegebene Arztbrief enthielt Angaben zur Anamnese (Zustand nach multiplen Stents wegen instabiler Angina Pectoris, paroxysmales Vorhofflimmern und Hypertonie) sowie zur bisherigen Medikation:

Der Patient lebt jetzt bei akzeptablem Allgemeinbefinden mit einem Bruchteil der Tabletten. Aktuelle Medikation:

Apixaban 2,5 mg

1-0-1

Tilidin 50/4 mg

1-0-1

ASS 100 mg

1x1

Novaminsulfon 500 mg

Clopidogrel 75 mg (für 3 Monate)

1x1

Tbl. bei Rückenschmerzen bis 3/Tag

Pantoprazol 40 mg

1-0-0

Torasemid 10 mg

1-0-0

HCT 12,5 mg

1-0-0

Ramipril 10 mg

1-0-0

Amlodipin 5 mg

1-0-0

Amlodipin 10 mg

1-0-0

Simvastatin 40 mg

0-0-1

Tamsulosin 0,4 mg

1-0-0

Tamsulosin 0,4 mg

1-0-0

Pantoprazol 20 mg

1-0-0

Citalopram 10 mg

1-0-0

Phenprocoumon nach Wert

Allopurinol 150 mg

0-0-1

Alfacalcidol 0,25

1-0-0

Calciumacetat 475

1-0-1

Valsartan 160 mg

½-0-0

Torasemid 10 mg

1-0-0

Wegen starker Rückenschmerzen erhält der Patient Tilidin, dessen Gabe nach Möglichkeit beendet wird. Bei entsprechendem Blutdruck und stabilem Gewicht ist vorgesehen, Torasemid zu pausieren bzw. zu beenden. Pantoprazol wird auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten vorläufig weiterverordnet, allerdings ohne rationale Grundlage.

IMPRESSUM Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Europa-Allee 90, 60486 Frankfurt am Main [email protected] | Tel.: 069 24741-6988 | www.kvhessen.de Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Christian Albrecht, Petra Bendrich, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld, Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Joachim Seffrin, Dr. med. Gert Vetter, Dr. med. Michael Viapiano

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Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseigenen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenoder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Ausgabe des Magazins eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung des Magazins entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Verlag: wdv Gesellschaft für Medien mbH & Co. OHG, Siemensstraße 6, 61352 Bad Homburg. Objektleitung: Karin Oettel; Redaktionskoordination: Dr. med. Detlef v. Meien-Vogeler; freie Mitarbeit: Dr. phil. nat. Andreas Häckel, Gestaltung: Steffen Klein, Udo Schankat; Bildredaktion: Corinna Gab; Herstellung: Dieter Kempiak; Vertrieb: Brigitte Hoemberg

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KVH aktuell 3|2016

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Redaktionsschluss: 31. August 2016

PATIENTENINFORMATION

Nehme ich zu viele Medikamente ein? Liebe Leserin, lieber Leser,

Wie kommt es zur Multimedikation?

richtig eingesetzt helfen Medikamente, Krankheiten vorzubeugen, Beschwerden zu lindern und Krankheiten zu heilen. Wer aber wegen vieler Beschwerden dauerhaft behandelt wird, muss oft eine Menge Tabletten schlucken. In der Fachsprache heißt die gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente „Multimedikation“ oder „Polypharmazie“. Problematisch dabei ist, dass mit steigender Anzahl der eingenommenen Medikamente auch mehr unerwünschte Wirkungen auftreten. In dieser Information erfahren Sie, warum Patienten viele verschiedene Arzneimittel erhalten und welche Risiken damit verbunden sind. Sie können selbst dazu beitragen, nur die Medikamente zu nehmen, die Sie wirklich benötigen.

Es gibt etliche Gründe für die gleichzeitige Einnahme von vielen verschiedenen Medikamenten: 쐽 Ein Patient leidet an mehreren Erkrankungen,

die dauerhaft mit Medikamenten behandelt werden müssen. Da mit zunehmendem Lebensalter meist mehr gesundheitliche Probleme auftreten, nehmen insbesondere ältere Menschen gleichzeitig viele verschiedene Medikamente ein. 쐽 Im Laufe der Jahre kommen neue Arzneimittel

hinzu, aber die „alten“ werden nicht verändert. 쐽 Erfolglose Behandlungen werden nicht beendet. 쐽 Aufgrund plötzlicher Beschwerden oder Krank-

heiten werden zusätzliche Medikamente verschrieben. Obwohl es dem Betroffenen später

Auf einen Blick: Was ist Multimedikation? 쐽 Unter Multimedikation versteht man die

wieder gut geht, werden diese nicht abgesetzt. 쐽 Ein Patient wird von verschiedenen Ärzten

behandelt. Diese wissen nicht oder nur unzu-

gleichzeitige Anwendung verschiedener

reichend von den Medikamentenverordnungen

Arzneimittel.

der anderen Ärzte.

쐽 Verschiedene Medikamente können sich

쐽 Es treten Nebenwirkungen auf, die nicht als

gegenseitig beeinflussen und mehr uner-

solche erkannt werden. Statt das auslösende

wünschte Wirkungen hervorrufen, wie

Medikament abzusetzen oder die Dosis zu verrin-

Übelkeit, Verstopfung, Kopfschmerzen,

gern, bekommt der Patient ein weiteres Medika-

Benommenheit oder Blutungen. Auch eine Behandlung im Krankenhaus und schlimmstenfalls der Tod können Folge der Multimedikation sein. 쐽 Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, die

ment, das die Nebenwirkung lindern soll. 쐽 Der Patient nimmt selbstständig Medikamente

ein, die frei verkäuflich sind. Der Arzt weiß nichts davon. 쐽 Häufig meinen Patient oder Arzt, dass jede

Zahl der einzunehmenden Arzneimittel und

gesundheitliche Störung mit Arzneimitteln

damit der unerwünschten Wirkungen zu

behandelt werden muss. Viele Beschwerden sind

verringern: zum Beispiel nicht mehr notwen-

jedoch nur vorübergehend, geben sich von

dige Medikamenteneinnahmen beenden

allein wieder oder bedürfen keiner Behandlung

oder unwirksame Arzneimittel absetzen. 쐽 Das Wichtigste ist: Reden Sie mit Ihrem Arzt. Er muss genau wissen, welche Medikamente Sie nehmen. Mit Ihnen gemeinsam kann er

mit Medikamenten. 쐽 Die Erwartungen an den Nutzen einer Arznei-

mittelbehandlung sind zu hoch. 쐽 Behandlungsziele sind zu streng, zum Beispiel

dann entscheiden, welche Arzneimittel Sie

sehr niedrige Blutzucker- oder Blutdruckwerte.

einnehmen sollten – und welche nicht.

Deshalb werden mehr Medikamente oder zu hohe Dosierungen eingesetzt.

Verantwortlich für den Inhalt: Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Bundesärztekammer (BÄK) www.patinfo.org www.aezq.de

PATIENTENINFORMATION

Welche Folgen hat die Multimedikation? Die regelmäßige und korrekte Einnahme von Medikamenten ist für eine erfolgreiche Behandlung von Beschwerden oder Erkrankungen entscheidend. Medikamente nach Vorschrift einzunehmen, ist aber oft nicht einfach. Wer viele Medikamente anwendet, verliert schneller den Überblick über das richtige Medikament und die richtige Dosierung zur richtigen Zeit. Ein zu umfangreicher Medikamentenplan kann daher dazu führen, dass Sie Arzneimittel nicht richtig einnehmen. Mit jedem weiteren Medikament steigt das Risiko, dass unerwünschte Wirkungen auftreten. Meist treten allgemeine Beschwerden wie Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Schwindel, Übelkeit, Verwirrtheitszustände oder Benommenheit auf. Auch Stürze und

쐽 Vereinbaren Sie einen gesonderten Termin in der

Praxis, zu dem Sie alle Arzneimittel, auch die selbst gekauften, und Packungsbeilagen von zu Hause mitbringen. 쐽 Nehmen Sie 5 oder mehr Arzneimittel oder haben

Sie mindestens 3 chronische Erkrankungen, ist es empfehlenswert, dass Ihr Arzt die Medikamente mit Ihnen zusammen einmal jährlich überprüft. 쐽 Führen Sie eine Liste aller Medikamente, die Sie

einnehmen – verordnete und selbst gekaufte. In dieser Aufstellung sollten Sie nicht nur Tabletten vermerken, sondern zum Beispiel auch Sprays, Tropfen oder Salben. Auch pflanzliche Mittel, Vitamine und so weiter gehören dazu. 쐽 Tragen Sie diese Medikamentenliste immer bei

schwere Verletzungen können die Folge sein. Unter

sich. Legen Sie sie bei jedem Arztbesuch, in der

Blutverdünnungsmitteln kann es zu spontanen,

Apotheke oder bei einem Klinikaufenthalt vor.

verstärkten oder verlängerten Blutungen kommen.

쐽 Wenn bei einer Behandlung mit einem Arznei-

Manche Patienten müssen wegen Arzneimittelneben-

mittel neue Beschwerden auftreten, sprechen

wirkungen im Krankenhaus behandelt werden.

Sie Ihren Arzt darauf an.

Insgesamt gilt: Bei der Einnahme mehrerer Arznei-

쐽 Fragen Sie Ihren Arzt ruhig, ob Sie wirklich noch

mittel ist nicht mehr vorhersehbar, was im Körper

alle Medikamente brauchen. Studien zeigen: Je

an Wirkungen, Wechselwirkungen und uner-

weniger Tabletten Patienten einnehmen müssen,

wünschten Wirkungen passiert. Weniger ist deshalb manchmal mehr!

Was Sie selbst tun können Nicht immer lässt sich die Einnahme vieler Arzneimittel vermeiden, aber manchmal sind einige unnötig. Folgende Tipps sollen Sie dabei unterstützen, zusammen mit Ihrem Arzt die Behandlung mit Medikamenten nach Ihren persönlichen Bedürfnissen zu gestalten: 쐽 Einer Ihrer behandelnden Ärzte sollte Ihr Haupt-

ansprechpartner bei allen Fragen zu Arzneimitteln sein. Vertrauen Sie ihm. Er muss genau wissen, welche Medikamente Sie wie einnehmen – und welche Sie trotz Verordnung nicht oder anders einnehmen. 쐽 Erklären Sie Ihrem Arzt Ihre Wünsche, Ängste

und Sorgen. Gemeinsam können Sie entscheiden, welche Beschwerden oder Erkrankungen am dringlichsten gelindert werden sollten.

Über diesen Kurzlink können Sie ein PDF der Patienteninformation „Nehme ich zu viele Medikamente ein?“ (Multimedikation) herunterladen:

umso besser klappt die Einnahme. 쐽 Setzen Sie kein Medikament ohne Rücksprache

mit Ihrem Arzt ab. Verändern Sie auch nicht eigenmächtig die Menge der Medikamente, die Sie einnehmen. 쐽 Nicht jede gesundheitliche Störung muss mit

Medikamenten behandelt werden. Oft hören Beschwerden ohne Behandlung von allein wieder auf oder lassen sich anders lindern. Besprechen Sie mit Ihrem Arzt, ob Sie einfach abwarten können oder ob beispielsweise Bewegung oder eine andere Maßnahme hilft.

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