Achtsam und erfolgreich im Beruf

PAUL E. FLAXMAN, FRANK W. BOND & FREDRIK LIVHEIM Mit ACT die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz stärken V e r l a g REIHE AKTIVE LEBENSGESTALTU...
Author: Heidi Böhme
5 downloads 2 Views 145KB Size
PAUL E. FLAXMAN, FRANK W. BOND & FREDRIK LIVHEIM

Mit ACT die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz stärken

V e r l a g

REIHE

AKTIVE LEBENSGESTALTUNG • ACT am Arbeitsplatz

Achtsam und erfolgreich im Beruf

Ein Trainingsmanual Junfermann

Prävalenz und Folgen psychischer Beschwe rden in der Arbeitswelt · 19

problem am Arbeitsplatz ist, von dem durchschnittlich 22 Prozent der Erwerbstätigen in 27 Ländern betroffen sind. Die Daten aus Großbritannien belegen schließlich, dass einer von sechs Arbeitnehmern zu irgendeinem Zeitpunkt unter typischen psychischen Problemen, wie etwa Depression, Angst oder stressbedingten Beschwerden, leiden wird. Diese Zahl erhöht sich auf einen von fünf Arbeitnehmern, wenn zusätzlich Drogen- oder Alkoholmissbrauch eine Rolle spielen. Im Gegensatz dazu treten schwerwiegende psychische Probleme, wie zum Beispiel psychotische oder bipolare Störungen, bei schätzungsweise 1 bis 3 Prozent der Erwerbstätigen auf (Seymour & Grove, 2005). Auch wenn diese Angaben gewisse Schwankungen aufweisen (teilweise aufgrund unterschiedlicher Methoden zur Datengewinnung bzw. der Klassifizierungskriterien), liegen die Gemeinsamkeiten auf der Hand. Alles in allem geht aus den Ergebnissen dieser (und vieler anderer) groß angelegter Untersuchungen klar hervor, dass psychische Beschwerden unter den Arbeitnehmern der industrialisierten Welt enorm verbreitet sind. Die Schlussfolgerungen daraus sind für uns eindeutig: Die Arbeitswelt bietet einen idealen Kontext für die Verbesserung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung. Diese Auffassung wird zusätzlich untermauert durch die nachfolgend erörterten Erkenntnisse, aus denen hervorgeht, dass die meisten der unter den genannten Problemen leidenden Arbeitnehmer nur dann in den Genuss einer psychologischen Intervention kommen, wenn sie am Arbeitsplatz erfolgt.

Behandlungsraten bei psychischen Erkrankungen von Arbeitnehmern Bei einer Befragung australischer Arbeitnehmer werteten Hilton et al. (2008) die Behandlungsprävalenz der am stärksten belasteten Arbeitnehmer aus. Dabei fanden sie heraus, dass lediglich 22 Prozent der Erwerbstätigen mit klinisch relevanten Beschwerden sich aktuell in Behandlung befanden. Diese niedrige Behandlungsrate wurde durch folgende Faktoren beeinflusst: „ 31 Prozent der psychisch stark belasteten Arbeitnehmer waren sich nicht darüber im Klaren, dass sie möglicherweise unter seelischen Beschwerden leiden. „ 29 Prozent der betroffenen Mitarbeiter war bewusst, dass sie unter seelischen Beschwerden leiden, ohne sich jedoch in Behandlung zu begeben. „ 19 Prozent der betroffenen Beschäftigten befanden sich bereits früher – jedoch nicht aktuell – in Behandlung, obwohl ihre Beschwerden eine Intervention erfordert hätten.

20 · Ach t sa m un d e r folg re ic h im B e r uf

Ähnlich geringe Behandlungsraten wie bei den psychisch belasteten australischen Arbeitnehmern sind auch in anderen Nationen wiederzufinden. So werden schätzungsweise drei Viertel der britischen Beschäftigten mit gängigen psychischen Beschwerden (Angstzustände und / oder Depressionen) keinerlei Interventionen zuteil (Seymour & Grove, 2005). Zusätzlich zu den von Hilton et al. (2008) ermittelten Einflussfaktoren wird eine Reihe von anderen Gründen angeführt, die möglicherweise dazu beitragen, dass derart wenige betroffene Arbeitnehmer sich um psychologische Intervention bemühen oder diese erhalten. Zum einen ist es den Beschäftigten möglicherweise unangenehm, im Kollegenkreis psychische Probleme einzugestehen, und sie schrecken davor zurück, sich für einen Besuch beim Psychologen frei zu nehmen (Black, 2008). Darüber hinaus gehen manche der Betroffenen vielleicht davon aus, dass die einschlägigen Therapeuten hauptsächlich schwerwiegendere psychische Erkrankungen behandeln, und verkennen, dass professionelle Hilfe durchaus auch bei leichteren seelischen Beschwerden angeraten ist (Sainsbury Centre for Mental Health, 2007). Und schließlich gibt es auch bestimmte Gruppen von Beschäftigten, etwa junge Männer, die sich generell schwertun, bei gesundheitlichen Problemen Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies gilt umso mehr bei psychischen Beschwerden (siehe dazu z. B. Oliver, Pearson, Coe & Gunnell, 2005). Alles in allem können wir aus diesen Beobachtungen schließen, dass psychologische Interventionen häufig nicht bei jenen Arbeitnehmern ankommen, die an den gängigsten Formen seelischer Beschwerden leiden. Selbstverständlich sehen wir ACT-Gruppentrainings für Beschäftigte keineswegs als Allheilmittel für die Problemkombination aus psychischen Beschwerden und geringen Behandlungsraten an. Am Ende des Kapitels erörtern wir weitere wichtige Interventionsansätze innerhalb der Arbeitswelt, die vor dem Hintergrund der hier dargestellten Prävalenz- und Kostenstatistiken ebenfalls Beachtung finden sollten. Aufgrund der hohen Zahl von Beschäftigten, die anderweitig keine geeignete psychologische Hilfe aufsuchen oder erhalten, gehen wir dennoch davon aus, dass gruppenbezogene ACT-Programme am Arbeitsplatz eine wichtige Rolle spielen können, um Wohlbefinden, Verhaltenswirksamkeit und Lebensqualität einer Vielzahl von Menschen zu verbessern. Diese Annahme wird durch die wissenschaftlichen Forschungen in Bezug auf ACT und psychische Flexibilität gestützt, über die wir im letzten Teil dieses Buches informieren (siehe Kapitel 9). Bei der Durchführung und Auswertung von ACT-Maßnahmen in britischen Betrieben richten wir unser Augenmerk zunehmend besonders auf jene Arbeitnehmer, die sich durchaus darüber im Klaren sind, dass sie unter psychischen Beschwerden leiden und (aus welchem Grund auch immer) ansonsten keine Behandlung erhalten. Aus der Vielzahl von mäßig bis schwer psychisch belasteten Arbeitnehmern, die sich freiwillig für unsere ACT-Programme anmelden, ist zu schließen, dass die Betroffe-

Prävalenz und Folgen psychischer Beschwe rden in der Arbeitswelt · 21

nen durchaus auf psychologische Angebote eingehen, sofern diese für sie leicht zugänglich sind (und beispielsweise nicht als Therapie sondern als Kurs oder Training und während der Arbeitszeit stattfinden). Diesem Thema wenden wir uns noch einmal detaillierter zu, wenn es darum geht, wie sich ACT-Trainingsprogramme den Beschäftigten nahebringen lassen und welche Arbeitnehmer sich typischerweise dafür anmelden (siehe Kapitel 4).

Die Kosten psychischer Beschwerden von Erwerbstätigen für die Wirtschaft Die seelischen Beschwerden von Mitarbeitern verursachen Unternehmen beträchtliche Kosten. Diese resultieren hauptsächlich aus verstärkter Personalfluktuation, erhöhtem Krankenstand und verringerter Produktivität der betroffenen Beschäftigten. Nachfolgend stellen wir dies anhand von Zahlen genauer dar. Der in den USA herausgegebene Annual Survey of Occupational Injuries and Illnesses sammelt Daten aus der Privatwirtschaft über die Gründe und Dauer der Arbeitsunfähigkeit von Beschäftigten. Daraus geht hervor, dass Angst, Stress und neurotische Störungen einen erheblich höheren Anteil an der Gesamtzahl der langfristigen Krankschreibungen ausmachen als Verletzungen oder andere Erkrankungen. Insbesondere im Jahr 2001 hatten 42,1 Prozent der Arbeitsausfälle psychische Gründe und schlugen mit 31 oder mehr Krankheitstagen zu Buche. Die Anzahl der Ausfalltage von US-amerikanischen Arbeitnehmern aufgrund von gängigen psychischen Beschwerden war damit durchschnittlich viermal höher als die Anzahl der Ausfalltage aufgrund aller anderen nicht tödlich verlaufenden Verletzungen und Erkrankungen zusammen (National Institute for Occupational Safety and Health, 2004). In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass psychische Beschwerden im Gegensatz zu Verletzungen oder physischen Erkrankungen häufig lange Zeit unerkannt und unbehandelt bleiben, bis sie so akut werden, dass der Betroffene längerfristig ausfällt, um wieder zu genesen (Black, 2008). In Großbritannien haben Wissenschaftler vom Sainsbury Centre for Mental Health eine aufschlussreiche Wirtschaftlichkeitsbetrachtung für das Problem der Gesundheitsbeschwerden am Arbeitsplatz durchgeführt. Ihrer Schätzung nach bescheren psychische Beschwerden der britischen Wirtschaft pro Jahr Kosten in Höhe von 26 Milliarden Pfund (ca. 30 Milliarden Euro). Diese Gesamtsumme setzt sich wie folgt zusammen: „ 8,4 Milliarden Pfund (10 Milliarden Euro) pro Jahr aufgrund von Krankschreibungen (wovon ca. 40 % auf psychisch bedingte Beschwerden entfallen);

22 · Ach t sa m un d e r folg re ic h im B e r uf

„ „

15,1 Milliarden Pfund (18 Milliarden Euro) pro Jahr aufgrund von verminderter Produktivität am Arbeitsplatz; 2,4 Milliarden Pfund (knapp 3 Milliarden Euro) pro Jahr aufgrund von Personalwechsel, um Mitarbeiter zu ersetzen, die wegen psychischer Beschwerden ausgeschieden sind.

Interessant an den oben angeführten Zahlen ist besonders, dass die verringerte Arbeitsproduktivität infolge von psychischen Beschwerden finanziell erheblich schwerer wiegt als die Kosten für krankheitsbedingten Arbeitsausfall. Hier kommt das Phänomen des „Präsentismus“ ins Spiel, das durch arbeitsmedizinische Forschung und Politik mit Interesse wahrgenommen wird (siehe dazu z. B. Johns, 2010). Als Präsentismus wird das Bestreben von Beschäftigten bezeichnet, trotz Krankheit am Arbeitsplatz zu erscheinen, obwohl ihre Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt ist. Dies tritt besonders bei psychischen Problemen auf, da die Betroffenen befürchten, aufgrund ihrer emotionalen oder seelischen Beschwerden stigmatisiert zu werden. Je nach Herkunftsland sind die daraus resultierenden Kosten für die Wirtschaft 1,5mal bis ein Vielfaches höher als die Kosten durch Krankschreibungen. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Präsentismus besonders stark unter Büroangestellten und hoch qualifizierten (und somit besser bezahlten) Mitarbeitern verbreitet ist (Sainsbury Centre for Mental Health, 2007). Obwohl auf diesem Gebiet definitiv Fortschritte zu verzeichnen sind, ist es wichtig, dass Unternehmer und sonstige betriebliche Entscheidungsträger weiterhin auf die, durch psychische Leiden, entstehenden Kosten für die Arbeitgeberseite aufmerksam gemacht werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen psychologische Trainingsprogramme am Arbeitsplatz, die das seelische Wohlbefinden und die Verhaltenswirksamkeit verbessern sollen, nicht mehr als Luxusangebot, sondern vielmehr als sinnvolle Investition mit erheblichem Einsparpotenzial. Daten aus Australien belegen, dass Arbeitgeber, die in die psychologische Gesundheitsförderung – beispielsweise in Form von Vorsorgeuntersuchungen und Förderung der Inanspruchnahme von Hilfsangeboten – investieren, mit dem fünffachen Ertrag dieser Investition rechnen können (Hilton, 2005). Oder, um es mit dem Autor einer großen britischen Studie zum Thema Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu sagen: „Good mental health is good business“ („Eine stabile Psyche rechnet sich“, Black, 2008).

Prävalenz und Folgen psychischer Beschwe rden in der Arbeitswelt · 23

Die Kosten psychischer Beschwerden von Erwerbstätigen für die Gesellschaft Die durch psychische Leiden von Berufstätigen verursachten Kosten wirken sich unweigerlich auch auf die Gesamtgesellschaft und -wirtschaft aus. Dies schlägt sich zum Beispiel in erhöhten Aufwendungen für Gesundheitswesen und staatliche Sozialleistungen nieder, um die große Zahl von psychisch erkrankten Personen im erwerbsfähigen Alter zu unterstützen. Darüber hinaus wird auch die gesamtwirtschaftliche Leistung durch die verringerte Produktivität der betroffenen Arbeitnehmer geschmälert. Eine groß angelegte Studie mit US-amerikanischen Arbeitnehmern kam zu dem Ergebnis, dass die Gesundheitsausgaben für Beschäftigte mit hoher Stressbelastung 46 Prozent höher waren als bei Arbeitnehmern mit geringer Stressbelastung (Goetzel et al., 1998). In den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geht man davon aus, dass psychische Probleme durchschnittlich Kosten in Höhe von 3 bis 4 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) verursachen. Darin eingerechnet sind Behandlungskosten und Ertragseinbußen infolge von Krankschreibungen und verringerter Produktivität von Mitarbeitern (Seymour & Grove, 2005). In Großbritannien geraten jährlich 200.000 Erwachsene im erwerbsfähigen Alter aufgrund von psychischen Beschwerden in Abhängigkeit von Sozialleistungen (Black, 2008). Und schließlich hat das Centre for Mental Health (2010) unlängst den Anstieg der Kosten für Wirtschaft und Gesellschaft infolge von psychischen Erkrankungen zwischen 2002 / 2003 und 2009 / 2010 in England ermittelt. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten lagen demnach 2009 / 2010 bei schätzungsweise 105,2 Milliarden Pfund (126 Milliarden Euro), was einer Steigerung von 36 Prozent seit 2002 / 2003 entspricht. Dabei entfiel der größte Anstieg auf die Ausgaben für Gesundheits- und Sozialleistungen, der bei 70 Prozent lag. Dabei ist außerdem zu beachten, dass die Ertragseinbußen im genannten Bericht eher zu gering angesetzt sind, da Produktivitätsverluste aufgrund von Präsentismus nicht berücksichtigt wurden. Die Autoren dieser Studie zeichnen mit ihren Zahlen ein bestürzendes Bild im Hinblick auf die gesamtgesellschaftlichen Kosten: Psychische Beschwerden stellen für die britische Allgemeinheit eine stärkere Belastung dar als die Kriminalität.