A. Grundlagen

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schutzverbund, JZ 2006, 157 ff.; von Danwitz, Die Garantie effektiven Rechtsschutzes im Recht der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1993, 1108; ders., Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, Tübingen, 1996; Dörr, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, in: Sodan/Ziekow (Hg.), Nomos-Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, Baden-Baden, Stand 2003; ders., Der europäisierte Rechtsschutzauftrag der deutschen Gerichte, Tübingen, 2003; ders./Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR 125 (2000) 386; Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht unter europäischem Einfluss, Berlin, 2003; Durner, Die Unabhängigkeit nationaler Richter im Binnenmarkt, EuR 2004, 547; Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Köln, 1999; Everling, Überlegungen zum Verfahren vor den Gerichten der Europäischen Gemeinschaften in: FS Rodríguez Iglesias, S. 537; Gundel, Rechtsschutzlücken im Gemeinschaftsrecht? – Der Fall des Sekundärrechts ohne nationale Vollzugsakte, VwArch 92 (2001), 81 ff.; Heß, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, RabelsZ 66 (2002), 470; Hirsch, Euopäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht – Kooperation oder Konfrontation, NJW 1996, 2457 ff.; Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im europäischen Verwaltungsverbund, 2004; Huber, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, BayVBl. 2001, 577 ff.; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, Tübingen, 1998; König/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Tübingen, 2. Aufl. 2002; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, Berlin, 1997; Nettesheim, Effektive Rechtsschutzgewährleistung im arbeitsteiligen System europäischen Rechtsschutzes, JZ 2002, 928; Oppermann, Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, DVBl. 1994, 901; Pache, Keine Vorlage ohne Anfechtung?, EuZW 1994, 615; Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, 27; Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl. München, Rideau/Picod, Code des procédures juridictionnelles de l´Union européenne, 2. Aufl. Paris, 2002; Röhl, Die anfechtbare Entscheidung nach Art. 230 Abs. 4 EGV, ZaöRV 60 (2000), 331; Ruffert, Dogmatik und Praxis des subjektiv öffentlichen Rechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, DVBl. 1998, 69 ff.; ders., Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, Heidelberg, 1996; Ruthig, Transformiertes Gemeinschaftsrecht und die Klagebefugnis des § 42 Abs. 2 VwGO, BayVBl. 1997, 289; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 9. Aufl. Heidelberg 2004; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. Den Haag, 2001; Schoch, Individualrechtsschutz im deutschen Umweltrecht unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, NVwZ, 1999, 457; ders., Europäisierung der Verwaltungsrechtsordnung, VBlBW 1999, 241; ders., Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts und des Verwaltungsprozessrechts, NordÖR 2002, 1; ders., Impulse des Europäischen Gemeinschaftsrechts für die Fortentwicklung der innerstaatlichen Rechtsordnung, VBlBW 2003, 297; ders., Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts; in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, S. 279; Schwarze, Europäische Rahmenbedingungen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 2000, 241; Triantafyllou, Zur Europäisierung des vorläufigen Rechtsschutzes, NVwZ 1992, 129 ff.; Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Köln, 1997; Wegener, Rechte des Einzelnen, Baden-Baden, 1998; Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der EU, JZ 1994, 1 ff.; ders., Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, 545 ff.

A. Grundlagen I.

Grundprinzipien des europäischen Rechtsschutzverbundes

Die Europäische Gemeinschaft ist „eine Rechtsgemeinschaft (...), in der weder die Mitgliedstaaten noch die 1 Gemeinschaftsorgane der Kontrolle daraufhin entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem EG-Vertrag stehen, und ... mit diesem Vertrag (ist) ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden.., innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe übertragen ist.“ Mit diesen Worten betont der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung und in Übereinstimmung mit der Literatur die Gewährleistung umfassenden und effektiven Rechtsschutzes in der gemeinschaftsrechtlichen Verfassungsordnung.1 Soweit es um einen individualrechtlichen Justizgewährleistungsanspruch geht, bilden Art. 6 und 13 EMRK und die nationalen Rechtstraditionen die maßgebliche Grundlage.2 In den Beziehungen zwischen den Organen muss der Gerichtshof zur Sicherung des institutionellen Gleichgewichts die Kontrolle der Beachtung der Befugnisse der Organe sicherstellen.3 Der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes enthält eine Reihe von – teilweise gegenläufigen – Aussagen.4 So 2 wird einerseits die Möglichkeit der vollen Überprüfung einer Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gefordert. Dem Wesen einer spezifisch rechtlichen Kontrolle entsprechend kennt diese Überprüfbarkeit andererseits Grenzen in Form von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen (vgl. auch Rn. 37). Diesen Spielräumen korrespondiert die Verpflichtung der Entscheidungsträger, ihre Entscheidungen sachgerecht 1 2

3 4

EuGH, Rs C-314/91 (Weber), Slg. 1993, I-1093, Rn. 8; Rs C-15/00 (Kommission/EIB), Slg. 2003, I-7281, Rn. 75; fast identisch zuvor schon Rs 224/83 (Les Verts), Slg. 1986, 1339, Rn. 23. Dazu auch Scheuing, § 6, Rn. 20, 49 ff. EuGH, Rs 222/84 (Johnston), Slg. 1986, 1651, Rn. 18; Rs 222/86 (Unectef), Slg. 1987, 4097, Rn. 14; Rs C-50/00 P (UPA), Slg. 2002, I-6677, Rn. 39; Rs C-263/02 P (Jégo Quéré), Slg. 2004, I-3425 Rn. 30. Sogar nationale Gerichte können sich, wenn ihre Aufgaben durch Rechtsverstöße von Gemeinschaftsorganen beeinträchtigt werden, an den EuGH wenden; s. zur Weigerung der Kommission, ein nationales Strafverfahren zu unterstützen, EuGH, Rs C-2/88 Imm. (Zwartveld), Slg. 1990, I-3365, Rn. 21 ff. EuGH, Rs C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041 Rn. 23; ausführlich dazu Koenig/Pechstein/Sander, Rn. 3 ff. Dazu etwa Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Einleitung, Rn. 152 ff.

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Rechtsschutz

zu begründen. Fristen für die Möglichkeit der Anfechtung von Entscheidungen oder auch für bestimmtes Vorbringen im Rahmen eines Gerichtsverfahrens sind einerseits grundsätzlich zulässig, weil nur sie das Ziel eines Gerichtsverfahrens, Rechtssicherheit zu bewirken, auch tatsächlich gewährleisten. Andererseits müssen diese Fristen so lang bemessen sein, dass dem Betroffenen die reale Chance der Anrufung eines Gerichtes bleibt (vgl. auch Rn. 121). Ebenso muss in zeitlicher Hinsicht einerseits, wenn endgültiger Rechtsschutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist, vorläufiger Rechtsschutz gewährleistet werden. Andererseits darf die Gewährung von Rechtsschutz nicht die Durchsetzung getroffener Entscheidungen unangemessen behindern (vgl. auch Rn. 91 ff., 124 ff.). Diese Spannungsverhältnisse müssen in einen sachgerechten Ausgleich gebracht werden. 3 Bereitgestellt wird der Rechtsschutz zum Teil durch die europäischen Gerichte, im Übrigen durch die nationalen Gerichte. Da die europäische Rechtsordnung keine in sich geschlossene Ordnung darstellt, sondern für ihre Anwendung und ihrenVollzug vielfach ergänzend nationale Rechtsvorschriften herangezogen werden müssen, können die Zuständigkeiten beider Gerichtsbarkeiten nicht nach pauschalen Kriterien abgegrenzt werden. Vielmehr definieren die Verträge nach dem Enumerationssprinzip die – insoweit ausschließlichen – Zuständigkeiten der europäischen Gerichte. Zugleich verlangen die eingangs genannten Anforderungen, dass europäisches und nationales Prozessrecht einen kohärenten Rechtsschutzverbund gewährleisten.5 Wenn und soweit der vom Gemeinschaftsrecht geforderte Rechtsschutz auf europäischer Ebene nicht vorgesehen ist, muss er von den nationalen Gerichten gewährleistet werden; bei diesen liegt die Regelzuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten.6 Sie müssen dabei die allgemeinen Grundsätze beachten, die für die Anwendung und den Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch nationale Stellen gelten: Das EG-Recht muss diskriminierungsfrei behandelt werden, und es muss Effektivität gesichert sein – die des Rechtsschutzes ebenso wie die des materiellen Rechts (Rn. 115). 4 Die grobe Linie der Zuständigkeitsverteilung zwischen nationalen und europäischen Gerichten lässt sich wie folgt skizzieren: Für die institutionellen, „verfassungsrechtlichen“ Streitigkeiten zwischen europäischen Institutionen, zwischen diesen und Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten sind die europäischen Gerichte zuständig, und zwar konkret (überwiegend) der EuGH. Für Klagen von natürlichen und juristischen Personen direkt gegen administratives Gemeinschaftshandeln sind ebenfalls die europäischen Gerichte zuständig, und zwar im Grundsatz das Europäische Gericht erster Instanz. Im Übrigen ist Rechtsschutz Sache der nationalen Gerichte. Klagen gegen nationale Rechtsakte, die Gemeinschaftsrecht vollziehen, müssen daher, auch wenn sie auf Gemeinschaftsrecht gestützt sind, hier erhoben werden. Mangels Zuständigkeit eines europäischen Gerichts sind die nationalen Gerichte auch gefordert, Rechtsschutz gegen solche unmittelbar wirkenden Normativakte der Gemeinschaft zu gewährleisten, die weder einen europäischen noch einen nationalen Umsetzungsakt nach sich ziehen.7 Der Verfassungsentwurf verpflichtet sogar die nationalen Gerichte ausdrücklich zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes im Anwendungsbereich des Unionsrechts (Art. I-29), erweitert aber zugleich die Möglichkeiten, gegen europäische Normativakte Rechtsschutz auf europäischer Ebene zu erlangen (Art. III-365 Abs. 4; siehe Rn. 29). 5 Gemeinschaftliche und nationale Gerichte stehen allerdings nicht beziehungslos nebeneinander. Im Rahmen des Vorlageverfahrens nach Art. 234 EG können, ja müssen sie gegebenenfalls in einen Dialog miteinander eintreten. Allein dadurch wird gewährleistet, dass in gemeinschaftsrechtlichen Fragen der Europäische Gerichtshof letztverbindlich entscheidet. Daher dürfen etwa nationale Gerichte, auch wenn sie zur Gewährung von Rechtsschutz berufen sind, bestehendes EG-Recht nicht außer Anwendung lassen. Halten sie es für ungültig, müssen sie die Frage unabhängig davon dem Gerichtshof vorlegen, ob sie letztinstanzlich entscheiden oder nicht.8 Dem EuGH kommt damit zugleich – jenseits der einzelnen Rechtsstreitigkeiten – eine wichtige Orientierungsfunktion für die Anwendung des europäischen Rechts durch die nationalen Gerichte insgesamt zu. Ferner erfasst die allgemeine Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EG-Vertrag trotz der 5 6 7 8

Zur Kohärenz s. EuGH, Rs 314/85 (Foto-Frost), Slg.1987, 4199, Rn. 16; Rs C-92/89 (Süderdithmarschen), Slg. 1991, I-415, Rn. 18. S. ferner allg. Zuleeg, JZ 1994, 1 ff.; Pernice, EuR 1996, 27 ff.; Classen, JZ 2006, 157 ff. EuGH, Rs C-50/00 P (UPA), Slg. 2002, I-6677, Rn. 40; Rs C-263/02 P (Jégo Quéré), Slg. 2004, I-3425 Rn. 31. Ausführlich Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997. Nachweise in vorheriger Fn. EuGH, Rs 314/85 (Foto-Frost), Slg. 1987, 4199, Rn. 11 ff.; dazu näher Rn. 77, 125.

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A. Grundlagen

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richterlichen Unabhängigkeit im Grundsatz auch die nationalen Gerichte (dazu auch Marauhn, § 7, Rn. 41). Hierdurch werden weitere Kooperationspflichten, insbesondere auch mit der Kommission, begründet.9 Soweit es umgekehrt im Kern um nationales Handeln geht, ist Rechtsschutz Sache der nationalen Gerichte. Daher kann die europäische Gerichtsbarkeit insbesondere in den Fällen, in denen EG-Rechtsakte auf der Grundlage vorbereitender nationaler Akte ergehen, nicht inzident die Rechtmäßigkeit nationalen Handelns am Maßstab des nationalen Rechts überprüfen. In diesen Fällen ist Rechtsschutz direkt auf nationaler Ebene zu suchen.10 Da die Fragen der Gewährung von Rechtsschutz vielfach auch mit dem jeweils anwendbaren Recht zusammenhängen, finden sich zahlreiche Ausführungen zu spezifischen Problemen auch in zahlreichen Beiträgen des Besonderen Teils dieses Handbuches. II. Struktur der europäischen Gerichtsbarkeit Die europäische Gerichtsbarkeit ist mittlerweile dreistufig strukturiert (dazu auch Bieber, § 1, Rn. 87 ff.). 6 An der Spitze steht der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Lange Zeit bildete er die einzige Rechtsschutzinstanz der EG. Ihm wurde 1989 das Gericht erster Instanz beigeordnet. Seit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza ist dieses für alle von Individuen erhobenen Klagen zuständig (Art. 225 EG i.V.m. Art. 51 Satzung). Dem EuGH sind vor allem zugewiesen die Vorabentscheidungen, wenn auch nur im Grundsatz, die Rechtsmittelverfahren gegen Entscheidungen des EuG und die von Organen und den Mitgliedstaaten erhobenen Klagen. Der Vertrag von Nizza hat die Möglichkeit der Einrichtung gerichtlicher Kammern geschaffen, denen Streitigkeiten in bestimmten Sachgebieten zur Entscheidung übertragen werden können und gegen deren Urteile dann ein Rechtsmittel zum Europäischen Gericht erster Instanz möglich sein soll (Art. 225a EG); der Verfassungsentwurf ersetzt diese durch europäische „Fachgerichte“ (Art. I-29). In diesem Sinne wurde jüngst das Gericht für den öffentlichen Dienst der europäischen Union kreiert (Beschluss des Rates vom 2. 11. 2004, 2004/752/EG, Euratom, ABl. 2004 L 333/7; dazu noch Rn. 68 und 106). Zusammengesetzt ist der Europäische Gerichtshof aus einem Richter je Mitgliedstaat, seit dem Jahre 2004 7 also aus 25 Richtern. Damit wird gewährleistet, dass alle nationalen Rechtskulturen der Gemeinschaft im EuGH vertreten sind. Allerdings judiziert der Gerichtshof praktisch durchweg nicht als Plenum. Im Regelfall sind Kammern von 3 oder 5 Richtern zur Urteilsfindung berufen (Art. 16 Satzung; zur Bildung der Kammern und ihrer Besetzung mit Richtern siehe Art. 11a ff. VfO EuGH). Die mit 13 Richtern besetzte Große Kammer entscheidet, wenn ein Mitgliedstaat oder ein Gemeinschaftsorgan am Verfahren beteiligt ist und dies beantragt. Das Plenum ist nur zuständig für Amtsenthebungsverfahren gegen Mitglieder eines Gemeinschaftsorgans sowie für Rechtssachen, denen nach Ansicht des Gerichtshofes eine außergewöhnliche Bedeutung zukommt. Die Kammern werden jeweils für drei Jahre gebildet. Die bei der Verteilung der Rechtssachen (Art. 221 Abs. 2 EG, 16 Satzung, 44 Abs. 3 VfO) in der Praxis herangezogenen Kriterien sind in ihrer Verbindlichkeit allerdings mit deutschen Geschäftsverteilungsplänen nicht vergleichbar, da von ihnen je nach Geschäftsanfall oder zur Sicherung des Sachzusammenhangs abgewichen werden kann. Dies stellt kein Problem dar, da der Grundsatz des gesetzlichen Richters in der Gemeinschaft zwar weit verbreitet, aber gerade mit Blick auf die gerichtsinterne Aufgabenteilung praktisch nirgends – und eben auch nicht in der europäischen Gerichtsbarkeit – so streng verstanden wird wie in Deutschland.11 Der Gerichtshof wird von (derzeit 8) Generalanwälten unterstützt (Art. 222 EG, Art. 8 Satzung). Sie stel- 8 len ein besonderes Organ der gemeinschaftlichen Rechtspflege dar. Ihre Aufgabe liegt darin, am Ende einer mündlichen Verhandlung in voller Unabhängigkeit Schlussanträge zu stellen, in denen der Streitstoff tatsächlich und rechtlich ausführlich gewürdigt wird. Die Generalanwälte sind Mitglieder des Gerichtshofes, nicht aber Richter. Mit nationalen Institutionen wie dem deutschen Vertreter des öffentlichen Interesses oder dem französischen Commissaire du gouvernement sind sie kaum zu vergleichen.

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Dazu etwa EuGH, Rs C-234/89 (Delimitis), Slg. 1991, I-935, Rn. 13 ff.; Rs C-344/98 (Masterfoods), Slg. 2000, I-11369, Rn. 47 ff., 132. EuGH, Rs C-97/91 (Borelli), Slg. 1992, I-6313, Rn. 7 ff.; Rs C-269/99 (Carl Kühne u.a.), Slg. 2001, I-9517, Rn. 37 u.a.; dazu Rn. 118. S. etwa EuGH, Rs C-7/94 (Gaal), Slg. 1995, I-1031, Rn. 10 ff. Allg. dazu Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 2, Rn. 4; Classen, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 2005, Art. 101, Rn. 15.

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9 Ernannt werden kann zum Richter oder zum Generalanwalt, wer jede Gewähr für Unabhängigkeit bietet und im betreffenden Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllt oder Jurist von anerkannt hervorragender Befähigung ist. Ernannt werden beide durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen auf sechs Jahre (Art. 223 Abs. 1 EG). Damit weisen beide eine ausgesprochen starke mitgliedstaatliche Legitimation auf. Der Entwurf für einen Verfassungsvertrag sieht ergänzend einen siebenköpfigen Ausschuss vor, der entsprechende Empfehlungen ausspricht (Art. III-357). 10 Ähnlich ist die Rechtslage mit Blick auf das Europäische Gericht erster Instanz. Dieses setzt sich ebenfalls aus 25 Richtern zusammen, kennt allerdings keine eigenständigen Generalanwälte. Auch hier werden für die Alltagsarbeit Kammern mit 3 und 5 Richtern gebildet. Einfache Sachen können sogar einem Einzelrichter übertragen werden; besondere Umstände rechtfertigen eine Verweisung an die Große Kammer (13 Richter) oder das Plenum (Art. 50 Satzung, Art. 10 ff. VfO EuG). Auch die Voraussetzungen und Verfahren der Richterernennung sind im Grundsatz ähnlich wie beim EuGH formuliert (Art. 224 Abs. 2 EG). Wird die gleiche Frage vor EuG und EuGH parallel aufgeworfen, sieht Art. 54 Abs. 3 Satzung für beide Gerichte die Möglichkeit der Aussetzung bis zur Entscheidung des anderen Gerichts vor; das EuG kann sich auch für unzuständig erklären und damit den Fall an den EuGH abgeben. Da natürliche und juristische Personen in den am EuG zu führenden Verfahren besser mitwirken können, dort auch eine überzeugendere Tatsachenaufklärung möglich ist und zum Teil die Entscheidungskompetenzen bei der Ermessenskontrolle weiter gehen,12 setzt in der Praxis allerdings umgekehrt der EuGH häufig das Verfahren bis zur Entscheidung des EuG aus. 11 Beide Gerichte verfügen über einen von ihnen ernannten Kanzler, der die jeweilige Gerichtsverwaltung leitet. Die maßgeblichen rechtlichen Grundlagen für Organisation und Verfahren der europäischen Gerichtsbarkeit finden sich in den Verträgen, in der vertraglich von den Mitgliedstaaten vereinbarten Satzung und in den von den jeweiligen Gerichten mit Zustimmung des Rates, im Fall der EuG-Satzung auch mit Zustimmung des EuGH beschlossenen Verfahrensordnungen. III. Die Stellung der europäischen Gerichtsbarkeit im europäischen Institutionengefüge 12 Die Stellung der europäischen Gerichtsbarkeit im Kreis der europäischen Institutionen entspricht im Grundsatz der aller Gerichte im modernen gewaltenteilenden demokratischen Rechtsstaat. Zwar lässt sich die institutionelle Struktur der EG insgesamt nicht mit der eines Staates vergleichen. Vor allem legislative und exekutive Funktionen sind deutlich vom „Normalmodell“ abweichend auf die Gemeinschaftsorgane verteilt;13 insoweit zeigt aber auch der Rechtsvergleich große Unterschiede. Demgegenüber ist die Rechtsprechung im Wesentlichen in allen Mitgliedstaaten ähnlich organisiert. Art. 6 EMRK gibt insoweit ohnehin gewisse Vorgaben. Dementsprechend ist auch die europäische Gerichtsbarkeit mit den entsprechenden institutionellen Garantien ausgestattet, nämlich persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Richter (einschließlich der Generalanwälte) einerseits, besondere Förmlichkeit des Verfahrens andererseits. Im Verhältnis zu den anderen Institutionen betont der Gerichtshof regelmäßig seine Aufgabe einer spezifisch rechtlichen Kontrolle; er dürfe seine Beurteilungen nicht an die Stelle der anderen Gemeinschaftsorgane setzen, ohne gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts zwischen den Organen zu verstoßen (Rn. 37)14 – ein Begriff, der funktional dem der Gewaltenteilung auf staatlicher Ebene ähnelt.15 13 Aufgabe der europäischen Gerichtsbarkeit ist die Rechtsprechung, also die letztverbindliche Entscheidung von Streitigkeiten allein am Maßstab des Rechts. Bewusst weit ausgreifend formuliert der Vertrag dabei die Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages“ (Art. 220 EG). Trotz dieses Hinweises allein auf den Vertrag bildet den Maßstab für eine Entscheidung des EuGH das gesamte Gemeinschaftsrecht. Anders als etwa beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag gibt es allerdings keine klare rechtsquellenmäßige Begrenzung (vgl. insoweit Art. 38 Abs. 1 des IGH-Statuts). Daher gehören hierher neben dem Vertragsrecht als solchem auch die in Art. 249 EG aufgeführten Rechtsakte sowie 12 13 14 15

Dazu GA Cosmas, EuGH, Rs C-344/98 (Masterfoods), Slg. 2000, I-11369, Rn. 26; Nemitz, DÖV 2000, 437. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 2, Rn. 8 ff. EuGH, Rs 191/82 (Fediol), Slg. 1983, 2913, Rn. 29 f.; ferner EuGH, Rs 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161, Rn. 9; Rs C-70/88 (Parlament/Rat), Slg. 1990, I-2041, Rn. 21 f.; dazu auch Scheuing, § 6, Rn. 17. Vgl. auch Bieber (§ 1, Rn. 9, aber kritisch zum Begriff Rn. 19); in der Sache zurückhaltend demgegenüber aber etwa Zuleeg, NJW 1994, 545, 548.

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B. Verfahren vor der europäischen Gerichtsbarkeit

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die von der Gemeinschaft abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge (dazu Art. 300 Abs. 7 EG), soweit sie in der Gemeinschaftsrechtsordnung unmittelbar anwendbar sind.16 Weiterhin enthält Art. 220 EG die ausdrückliche Legitimation, über das geschriebene Recht hinauszugehen und richterrechtlich allgemeine Rechtsgrundsätze zu entwickeln. Von dieser im Grundsatz auch schöpferischen Aufgabe hat der Gerichtshof regen Gebrauch gemacht (dazu Borchardt, § 15, insbesondere Rn. 57 ff.). Er befindet sich dabei in guter Übereinstimmung mit der europaweit weitgehend konsentierten Rolle der Justiz,17 wie sie in Deutschland, allerdings nicht überall in der Europäischen Gemeinschaft, unter dem Stichwort „Rechtsfortbildung“ auch terminologisch eigenständig definiert ist. Zur sachlichen Rechtfertigung seines Vorgehens verweist der Europäische Gerichtshof dabei regelmäßig auf das Verbot der Rechtsverweigerung. In der Sache hat er sich vor allem darum bemüht, europarechtliche Bestimmungen auch praktisch wirksam werden zu lassen18 und zudem dort, wo erkennbar Regelungslücken bestehen – genannt seien vor allem die Grundrechte19 und das allgemeine Verwaltungsrecht20 –, tragfähige Lösungen zu finden. Der Vertrag fungiert insoweit als Grenze. Inhaltlich orientiert sich der Gerichtshof vor allem an den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen im Sinne einer „wertenden Rechtsvergleichung“.

B. Verfahren vor der europäischen Gerichtsbarkeit Da wie erwähnt die Zuständigkeit der europäischen Gerichtsbarkeit nach dem Enumerationsprinzip be- 14 stimmt ist, lassen sich eine Reihe von Verfahrensarten unterscheiden. Zunächst gibt es solche Verfahren, die unmittelbar auf rechtsverbindliche Entscheidung eines Streites ausgelegt sind (Rn. 16 ff.), und solche ohne Streitentscheidungsfunktion (Rn. 71 ff.). Bei den streitentscheidenden Verfahren lassen sich solche unterscheiden, bei denen gemeinschaftliches Handeln, und solche, bei denen mitgliedstaatliches Handeln den Streitgegenstand bildet. Mitgliedstaatliches Handeln kann nur im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens auf den Prüfstand eines Gemeinschaftsgerichts gestellt werden, und zwar allein auf Antrag der Kommission oder eines Mitgliedstaates; im Übrigen sind die nationalen Gerichte zur Rechtsschutzgewähr aufgerufen. Im Einzelnen lassen sich auf europäischer Ebene je nach Zielrichtung im Wesentlichen unterscheiden die 15 Nichtigkeitsklage, wenn ein gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakt aufgehoben werden soll, die Untätigkeitsklage, wenn ein Gemeinschaftsorgan überhaupt nicht tätig geworden ist, und die Schadensersatzklage, wenn ein Amtshaftungsanspruch geltend gemacht wird. Andere Rechtsschutzziele können abgesehen von Sonderfällen (Rn. 87 ff.) nicht verfolgt werden, doch geht der EuGH davon aus, dass mit diesen drei Klagearten umfassender Rechtsschutz gewährt werden kann: Begehrt man einen Realakt, ist zunächst – mittels Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklage – eine entsprechende Entscheidung herbeizuführen.21 Bei den Entscheidungen, die nicht unmittelbar auf eine rechtliche Entscheidung abzielen, sind vor allem das Vorabentscheidungsverfahren zu nennen, das einen richterlichen Dialog mit den nationalen Gerichten ermöglicht, sowie das für in Aussicht genommene völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft vorgesehene Gutachtenverfahren. I.

Nichtigkeitsklage

Mit der Nichtigkeitsklage kann der Kläger rechtserhebliches Handeln eines oder mehrerer Organe der Gemein- 16 schaft oder sonstiger Stellen der EG für nichtig erklären lassen. Dementsprechend ist sie ihrer Rechtsnatur nach eine Gestaltungsklage: Ein bestehender Rechtsakt wird aufgehoben.

16 17 18 19 20 21

Dazu etwa EuGH, Rs 104/81 (Kupferberg), Slg. 1982, 3641, Rn. 18 ff.; Rs C-104/97 P (Atlanta), Slg. 1999, I-6983, Rn. 17 f.; Rs C-149/96 (Portugal/Rat), Slg. 1999, I-8395, Rn. 34 ff. David/Jauffret-Spinosi, Les grands systèmes de droit contemporains, 2000, Rn. 78, 88 ff., ferner zum Common Law Rn. 287 ff.; aus deutscher Sicht BVerfG – 8. April 1987 – 2 BvR 687/85 – BVerfGE 75, 223, 242 ff.; s. ferner Zuleeg, JZ 1994, 1, 6. EuGH, Rs 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1, 25, zur unmittelbaren Wirkung des EG-Vertrages; Rs 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, 1279, zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht; Rs 41/74 (van Duyn), Slg. 1974, 1337, Rn. 12 ff., zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien. EuGH, Rs 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125, Rn. 3; Rs 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491, 573. EuGH, verb. Rs 7/56 und 3 – 7/57 (Algera), Slg. 1957, 83, 118 zur Rücknahme von Verwaltungsakten und Rs C-6/90 (Francovich), Slg. 1991, I-5357, Rn. 31 ff. zur Haftung von Mitgliedstaaten wegen Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht. S. etwa für einen Zahlungsanspruch EuGH, Rs 44/81 (Deutschland/Kommission), Slg. 1982, 1855, Rn. 6.

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1. Streitgegenstand 17 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs müssen vier Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Akt vor der europäischen Gerichtsbarkeit nach Art. 230 EG angefochten werden kann. Zunächst muss überhaupt eine Handlung gegeben sein. Dies ist regelmäßig immer der Fall. Eine Ausnahme bilden nur so genannte „Nichtakte“. Dabei handelt es sich um (ausgesprochen seltene) Akte, die an einem so offenkundigen und schwerwiegenden Mangel leiden, dass sie nicht einmal dem Anschein nach als Rechtsakt angesehen werden können.22 18 Weiterhin muss die Handlung einem Organ oder einer anderen Stelle der Gemeinschaft zuzurechnen sein. In Betracht kommen das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission und die EZB. Nicht ausdrücklich in Art. 230 EG genannt sind weitere Stellen. In der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist jedoch anerkannt, dass alles rechtserhebliche Handeln einer Stelle der Gemeinschaft angefochten werden kann (vgl. Rn. 1). Nicht verlangt wird, dass das betreffende Organ auch tatsächlich für die Gemeinschaft gehandelt haben muss. Daher ist – allein mit Blick auf den Streitgegenstand – die Nichtigkeitsklage auch zulässig, wenn eines der Organe für andere als die EG, etwa im Wege der Organleihe für die EU oder einen Mitgliedstaat tätig geworden ist.23 Prüfungsmaßstab ist allerdings – vorbehaltlich von Sonderregelungen – allein der EG. 19 Entscheidende Voraussetzung für die Anfechtbarkeit einer Handlung eines Gemeinschaftsorgans ist, dass sie rechtliche Wirkung erzielt. Neben Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen sind daher gegebenenfalls – unabhängig von ihrer Rechtsnatur oder Form – auch sonstige Beschlüsse anfechtbar.24 Genannt werden können etwa Beschlüsse über bestimmte Förderprogramme25 oder – trotz des in Art. 300 Abs. 6 EG vorgesehenen Gutachtenverfahrens (Rn. 85 ff.) – die Entscheidung, einem völkerrechtlichen Vertrag zuzustimmen,26 ferner solche Entscheidungen, die rechtsverbindliche Feststellungen zum Gegenstand haben. Rechtliche Wirkungen haben schließlich nur solche Handlungen, die ein bestimmtes Verfahren verbindlich abschließen27 oder sonst eine besondere verbindliche Wirkung erzielen. Hierzu gehört etwa nicht die Entscheidung, eine bestimmte Person anzuhören. Durchweg nicht anfechtbar sind Stellungnahmen und Empfehlungen (Art. 249 Abs. 5 EG). Streitgegenstand ist der Rechtsakt in der Form, in der er zum Zeitpunkt der Klagerhebung bestanden hat. Eine nachträgliche Heilung von Mängeln, wie sie etwa aus dem deutschen Verwaltungsrecht (§ 45 VwVfG) bekannt ist, gibt es nicht.28 Ersetzt die beklagte Institution den angegriffenen Rechtsakt durch einen neuen, kann allerdings aus Gründen der Prozessökonomie die Klage auf den neuen Akt umgestellt werden (Rn.113).29 20 Ziel der Nichtigkeitsklage ist die – vollständige oder teilweise30 – Aufhebung des angegriffenen Rechtsaktes. Dieses Verfahren ist auch dann zu wählen, wenn der Kläger nicht eine ersatzlose Aufhebung begehrt, wenn also ein Gemeinschaftsorgan zwar gehandelt hat, der Kläger aber letztlich erreichen möchte, dass in anderer Weise gehandelt wird, etwa wenn der Kläger nach Ablehnung eines Antrags einen positiven Bescheid begehrt. Dem Gerichtshof steht nämlich – von Ausnahmefällen (Rn. 38) abgesehen – nicht nur nicht die Befugnis zu, Gemeinschaftsrechtsakte zu ändern oder Gemeinschaftsrechtsakte selbst zu erlassen. Vielmehr kann er auch nicht ein Organ zum Erlass eines bestimmten Rechtsaktes verpflichten. Erstrebt der Kläger ein solches Ziel, wie es etwa in Deutschland mit der Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage zu 22 23 24 25 26 27 28 29 30

EuGH, Rs C-137/92 P (BASF), Slg. 1994, I-2555, Rn. 49; zum Kostenrisiko auch EuG, Rs T-64/89 (Automec), Slg. 1990, II-367, Rn. 62. EuGH, Rs C-316/91 (Parlament/Rat), Slg. 1994, I-625, Rn. 9; Rs C-170/96 (Kommission/Rat), Slg. 1998, I-2763, Rn. 12 ff. Kritisch dazu Koenig/Pechstein/Sander, Rn. 348, mit dem Argument, dass damit Art 36 Abs. 6 EU überflüssig gemacht werde. Die Kritik verkennt, dass erst diese Bestimmung den Prüfungsmaßstab des EUV eröffnet. EuGH, Rs 135/84 (F. B.), Slg. 1984, 3577, Rn. 6; Rs C-58/94 (Niederlande/Rat), Slg. 1996, I-2169, Rn. 28 ff., aber auch Rn. 24; Rs C-57/95 (Frankreich/Kommission), Slg. 1997 I-1627, Rn. 7. Ausführliche Rechtsprechungsnachweise bei Schermers/Waelbroeck, Rn. 676 ff.; Koenig/Pechstein/Sander, Rn. 350 ff. sowie Brealy/Hoskins, S. 271 ff. EuGH, Rs 242/87 (Rat/Kommission) (Erasmus-Programm), Slg. 1989, 1425, Rn. 1. EuGH, Rs C-327/91 (Frankreich/Kommission), Slg. 1994, I-3641, Rn. 14; Rs C-122/95 (Deutschland/Rat), Slg. 1998, I-973, Rn. 41 ff. EuGH, Rs 60/81 (IBM), Slg. 1981, 2639, Rn. 19 ff.; Rs C-282/95 P (Guérin automobiles) Slg. 1997, I-1503, Rn. 34; ausführlich dazu Schermers/Waelbroeck, Rn. 706 f. EuGH, verb. Rs 15/76 und 16/76 (Frankreich/Kommission), Slg. 1979, 321, Rn. 7 f. EuGH, Rs 14/81 (Alpha Steel), Slg. 1982, 749, Rn. 9 ff. Dazu Schermers/Waelbroeck, Rn. 696.

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erreichen ist, muss er vielmehr gegen den aus seiner Sicht fehlerhaften Bescheid klagen. Bekommt er Recht, muss das vorgängige Verwaltungs- oder Rechtsetzungsverfahren von der Stelle fortgesetzt werden, deren Beschluss aufgehoben wurde (Rn. 39). 2. Klagegrund Nach Art. 230 Abs. 1 EG muss eine Klage auf bestimmte Gründe gestützt werden: Unzuständigkeit, Verlet- 21 zung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des (materiellen) Gemeinschaftsrechts oder Ermessensmissbrauch. Vergleichbare Regelungen gibt es im deutschen Prozessrecht nicht. Damit wird zugleich der Streitgegenstand (einschließlich der Rechtskraft, siehe Rn. 104) stärker begrenzt als in Deutschland, wo dieser allein als durch den Sachverhalt verbunden mit dem Klageziel bestimmt verstanden wird und den Richter in diesem Rahmen zu einer umfassenden Prüfung verpflichtet.31 Demgegenüber verlangt das gemeinschaftsrechtliche Prozessrecht (in Anlehnung an französische Traditionen) auch eine Zuordnung des tatsächlichen Vorbringens zu einem der genannten – rechtlichen! – Gesichtspunkte. Praktische Bedeutung kommt diesen Klagegründen vor allem deswegen zu, weil der Richter einen Rechtsakt im Grundsatz allein im Rahmen eines vorgebrachten Klagegrundes, also nicht umfassend auf seine Rechtmäßigkeit überprüft (Rn. 110). Im Rahmen der Zulässigkeit muss ein Klagegrund nur substantiiert dargelegt werden; seine entscheidende Bedeutung entfaltet er erst bei der Begründetheit (Rn. 33 ff.). 3. Beteiligte a) Organe und sonstige Stellen der Gemeinschaft sowie Mitgliedstaaten als Kläger Mit Blick auf den möglichen Kläger einer Nichtigkeitsklage kennt der EG-Vertrag drei Kategorien. Ein um- 22 fassendes Klagerecht wird den so genannten privilegierten Klägern zugesprochen: Kommission,32 Rat, Mitgliedstaaten und seit dem Vertrag von Nizza auch dem Europäischen Parlament. Diese Kläger können gegen alle Rechtsakte im Sinne von Rn. 17 ff. Klage erheben (Art. 230 Abs. 1 EG). Rechnungshof und Europäische Zentralbank (ausführlich zu letzterer Gaitanides, § 31, Rn. 69) können in gleicher Weise Klage erheben, aber nur, wenn und soweit der angegriffene Rechtsakt in Rechte des betreffenden Organs eingreift (Art. 230 Abs. 3 EG). Dies kann durch einen materiell rechtswidrigen Rechtsakt geschehen, aber auch durch Missachtung von Zuständigkeiten und Verfahrensvorschriften, insbesondere, indem die in einer Ermächtigungsgrundlage vorgesehene Beteiligung bei dessen Verabschiedung unterbleibt oder indem zu Unrecht eine Ermächtigungsgrundlage gewählt wird, die im Gegensatz zur korrekten Ermächtigungsgrundlage eine entsprechende Beteiligung nicht vorsieht. Ob weitere Institutionen der Gemeinschaft wie etwa der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Aus- 23 schuss der Regionen über ein Klagerecht verfügen, wenn sie zu Unrecht nicht beteiligt wurden, ist unklar. Aus dem Wortlaut von Art. 230 EG ergibt sich insoweit kein Anhaltspunkt. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in der Vergangenheit, als das Europäische Parlament ebenfalls noch nicht zu den klagebefugten Institutionen gehörte, aus allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ein Klagerecht dieses Organs zumindest insoweit abgeleitet, wie es um die Wahrung eigener Rechte ging. Manche Argumente sprechen für eine Heranziehung dieses Grundsatzes auch für die genannten Institutionen.33 b) Natürliche und juristische Personen als Kläger Nach Art. 230 Abs. 4 EG können schließlich, wenn auch unter deutlich engeren Voraussetzungen, natürliche 24 und juristische Personen Klage gegen Rechtsakte von Gemeinschaftsinstitutionen erheben. Die Tatbestände „natürliche“ und „juristische“ Personen werfen dabei wenig Probleme auf. Letztere können zumindest dann

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Etwa Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 603 ff. m.w.N. Hier wie im Vertragsverletzungsverfahren (Rn. 53) muss die Kommission ihre Beschlüsse als Kollegialorgan fassen; s. EuGH, Rs C-191/95 (Kommission/Deutschland), Slg. 1998, I-5449, Rn. 35. So Koenig/Pechstein/Sander, Rn. 328; Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, EVR, Rn. 85; abl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann, § 7, Rn. 20; vgl. schon Fn. 3.

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klagen, wenn sie hierzu in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung befugt sind, nach der sie konstituiert wurden.34 25 Allerdings besteht eine Klagemöglichkeit ohne weitere Voraussetzungen nur, wenn der Betreffende Adressat des betreffenden Rechtsaktes ist. Allein bei abgelehnten Anträgen hat eine gewisse Vorsicht zu walten. Die Klage ist dann nur zulässig, wenn auch der tatsächlich begehrte Rechtsakt individuell an den Kläger zu adressieren gewesen wäre.35 Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich gelegentlich mit Blick auf Verordnungen. Manche stellen nämlich in Wirklichkeit in der Sache ein Bündel von Einzelentscheidungen dar, etwa wenn und soweit Rechtsakte eine Rückwirkung aufweisen oder sonst wie an prinzipiell nicht mehr änderbare Merkmale wie an bereits im Vorfeld gestellte Anträge, eingeleitete Vertragsverhandlungen, erteilte Lizenzen und Ähnliches36 anknüpfen. 26 Wenn ein Rechtsakt nur an Dritte adressiert ist oder tatsächlich allgemeinen Charakter hat, also an keinen bestimmten Adressaten gerichtet ist, kommt eine Klage in Betracht, wenn der Kläger unmittelbar und individuell betroffen ist.37 Dabei stellt das Erfordernis der Betroffenheit nur geringe Anforderungen; im Grundsatz reicht eine tatsächliche Betroffenheit, ohne dass es insoweit auf rechtliche Gesichtspunkte ankommt. Beim Verständnis der Unmittelbarkeit kommt es im Grundsatz, ähnlich wie nach deutschem Verständnis, darauf an, ob bereits der angegriffene Rechtsakt oder erst weitere Rechtsakte die Belastung des Klägers begründen. Allerdings legt der EuGH insoweit ein vergleichsweise wenig formales Verständnis zu Grunde.38 Ist zwar ein Umsetzungsakt notwendig, kommt der umsetzenden Stelle aber keinerlei Beurteilungs-, Gestaltungs- und Ermessensspielraum zu, wird ebenso bereits der erste Rechtsakt als unmittelbare Belastung verstanden39 wie wenn statt gegen ein Tochterunternehmen ein Rechtsakt gegen das Mutterunternehmen gerichtet wird oder umgekehrt.40 27 Zentrale Bedeutung kommt dem Merkmal der individuellen Betroffenheit zu. In ständiger Rechtsprechung knüpft der EuGH hier an seine in der Rechtssache Plaumann entwickelte Formel an, wonach eine Klage nur möglich ist, „wenn die streitige Vorschrift den Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten einer Entscheidung“.41 Hierbei legt der EuGH im Grundsatz eine ausgesprochen formale Abgrenzung zu Grunde. Ist der Kreis der Adressaten nach bestimmten Tatbestandsmerkmalen abstrakt definiert, kommt es nicht darauf an, ob und inwieweit tatsächlich nur konkrete Situationen im Auge waren oder auch bestanden haben.42

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EuGH, Rs 50/84 (Bensider), Slg. 1984, 3991, Rn. 2 ff.; Rs C-95/97 (Wallonische Region), Slg. 1997, I-1787, Rn. 11. Gelegentlich ist die Rspr. großzügiger und stellt allein auf die eigenständige Handlungsfähigkeit ab, insbesondere, wenn die Kommission die betreffende Organisation vorher als Träger von Rechten angesehen hat; s. etwa EuGH, Rs 135/81 (Groupement des Agences des Voyages), Slg. 1982, 3799, Rn. 10 f. EuGH, Rs 246/81 (Lord Bethell), Slg. 1982, 2277, Rn. 11 ff. EuGH, verb. Rs 41 – 44/70 (Fruit Company), Slg. 1971, 411, Rn. 23/29; Rs 100/74 (CAM), Slg. 1975, 1393, Rn. 14/18; Rs 11/82 (Piraiki-Patraiki), Slg. 1985, 207, Rn. 31; Rs C-354/87 (Weddel), Slg. 1990, I-3847, Rn. 19. Teilweise wird dann von „hybriden“ Rechtsakten gesprochen (etwa Rideau/Picod, S. 235; tendenziell auch Koenig/Pechstein/ Sander, Rn. 361 ff.; abl. Gaitanides, in: v.d.Groeben/Schwarze, Art. 230 EG, Rn. 60). Überzeugender erscheint es allerdings, nicht die Natur des Rechtsaktes umzuqualifizieren, sondern das Klagerecht isoliert hiervon zu betrachten (so Brealey/Hoskins, S. 286). Vgl. auch EuGH, Rs C-358/89 (Extramet), Slg. 1991, I-2501, Rn. 11 ff.; Rs C-309/89 (Codorniu), Slg. 1994, I-1853, Rn. 19 ff. (Kläger seien vom Rechtsakt individuell betroffen, ohne dass dieser dadurch seinen normativen Charakter verliere), ferner im Kontext des Haftungsrechts (vgl. Rn. 62 ff.) EuG, Rs T-480/93 und T-483/93 (Antillean Rice Miles) u. a., Slg. 1995, II-2305, Rn. 185. – Ggf. können wohl auch RL angefochten werden; siehe die Hinweise bei EuGH, Rs C-10/95 P (Asocarne/Rat), Slg. 1995, I-4149, Rn. 26 ff.; EuG, Rs T-135/96 (UEA-ME), Slg. 1998, II-2335, Rn. 60 f. Als Vergleichsmaßstab sei die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit i.S.v. § 90 Abs. 1 BVerfGG genannt. EuGH, verb. Rs 41 – 44/70 (Fruit Company), Slg. 1971, 411, Rn. 16/22; Rs 132/77 (Société pour l’exportation des sucres SA), Slg. 1978, 1061, Rn. 23/27; Rs C-188/92 (TWD), Slg. 1994, I-833, Rn. 16 ff. (zu einem Unternehmen, das eine von der Kommission nicht genehmigte nationale Beihilfe erhalten sollte); zu einer entsprechenden Gebietskörperschaft, deren Subventionsvorhaben untersagt wurde, EuG, Rs T-241/95 (Vlaams Gewest), Slg. 1998, II-717, Rn. 30. EuGH, Rs 294/81 (Control Data Belgium), Slg. 1983, 911, Rn. 10; verb. Rs 228 und 229/92 (Ford), Slg. 1984, 1129, Rn. 13. EuGH, Rs 25/62 (Plaumann), Slg. 1963, 211, 238. Hervorhebung nicht im Original. EuGH, Rs 206/87 (Lefebvre), Slg. 1989, 275, Rn. 14; verb. Rs 15/91 und 108/91 (Buckl & Söhne) u.a., Slg. 1992, I-6061, Rn. 29 ff. Dies gilt auch, wenn der Kläger geltend macht, der einzige Betroffene zu sein: EuGH, Rs 231/82 (Spijker), Slg. 1983, 2559, Rn. 10; Rs C-263/02 P (Jégo Quéré), Slg. 2004, I-3425, Rn. 46.

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Solche besonderen Umstände werden ausgesprochen selten angenommen. Sie liegen etwa vor, soweit das 28 Gemeinschaftsrecht anderweitig bestimmte Verfahrensrechte für einen klar definierten Personenkreis vorsieht in Form von Beteiligungs-, Informations-, Mitwirkungs- oder Antragsrechten.43 Klagen kann auch ein Unternehmen, das – etwa bei der Festsetzung von Antidumpingzöllen – in einem Verfahren eine besondere Rolle gespielt hat, so dass es namentlich erwähnt wurde,44 dessen Preise bei den Berechnungen besonders berücksichtigt wurden45 oder das auch nur auf dem relevanten Mark eine besondere Rolle spielt.46 Konkurrentenklagen sind zulässig, wenn sich ein direkter Wettbewerb zwischen den Beteiligten nachweisen lässt,47 Verbandsklagen, wenn der Verband für einen bestimmten Kläger auftreten kann oder selbst in eigenen Positionen berührt wird.48 Anfechtbar sind auch Rechtsakte, die in eine bestimmte, eigens erworbene Rechtsposition eingreifen.49 Unerheblich ist der formale Charakter des Rechtsaktes. Besteht keine Klagemöglichkeit, verweist der EuGH regelmäßig auf den vom Gemeinschaftsrecht geforderten nationalen Rechtsschutz (mit der Möglichkeit einer Vorlage nach Art. 234 EG; siehe Rn. 4). Die dargestellte Rechtsprechung hat in der Literatur, aber auch innerhalb des Gerichtshofes immer wieder 29 Kritik hervorgerufen, weil sie als zu engherzig angesehen wird.50 Die Konflikte mit dem gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzgebot lassen sich jedoch, worauf der EuGH jüngst mehrfach hingewiesen hat, über eine entsprechend großzügige Gewährleistung nationalen Rechtsschutzes sachgerecht bewältigen (Rn. 117). Der Verfassungsentwurf erweitert zudem die Klagemöglichkeiten insoweit, als untergesetzliche Normativakte, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, bei unmittelbarer Betroffenheit direkt vor der europäischen Gerichtsbarkeit angegriffen werden können (Art. III-365 Abs. 4). c) Beklagter Schließlich muss die Klage gegen den richtigen Beklagten gerichtet werden, nämlich das Organ, das den 30 fraglichen Rechtsakt erlassen hat. Im Fall einer Delegation von Befugnissen auf nachgeordnete Stellen ist das eigentlich zuständige Organ zu verklagen.51 Sind mehrere Gemeinschaftsorgane verantwortlich, wie vor allem bei Rechtsakten der Fall, die im Mitentscheidungsverfahren beschlossen wurden, ist die Klage gegen alle Organe zu richten. 4. Form und Frist Formal sind bei einer Klageerhebung die in Art. 21 der Satzung angesprochenen und in Art. 38 der Verfahrens- 31 ordnung des Gerichtshofes näher konkretisierten Angaben zu beachten (dazu noch Rn. 100).52 Die Klagefrist beläuft sich nach Art. 230 Abs. 5 EG auf zwei Monate. Sie beginnt mit der Bekanntgabe des angegriffenen Rechtsaktes bzw. ihrer Mitteilung an den Kläger oder, falls dies nicht vorgesehen ist, mit dem Zeitpunkt, zu dem der Kläger von der Handlung Kenntnis erlangt hat.53 Bei Rechtsakten, die im Amtsblatt veröffentlicht werden, ist ergänzend Art. 81 § 1 der Verfahrensordnung zu beachten, wonach die Frist erst 15 Tage nach dem

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EuGH, Rs 191/82 (Fediol), Slg. 1983, 2913, Rn. 28 ff.; Rs 264/82 (Timex), Slg. 1985, 849, Rn. 15 f.; Rs 196/84 (Cofaz), Slg. 1986, 391, Rn. 26; Rs C-225/91 (Matra), Slg. 1993, I-3203, Rn. 14 ff. EuGH, verb. Rs C-239/82 und 275/82 (Allied Corporation u.a.), Slg. 1984, 1005, Rn. 12; Rs C-156/87 (Gestetner), Slg. 1990, I-781, Rn. 17 ff. EuGH, Rs 118/77 (ISO), Slg. 1979, 1277, Rn. 6; verb. Rs C-305/86 und 160/87 (Neotype), Slg. 1990, I-2945, Rn. 19. EuGH, Rs 264/82 (Timex), Slg. 1985, 849, Rn. 15; Rs C-358/89 (Extramet), Slg. 1991, I-2501, Rn. 11 ff. Dazu auch Boysen/Oeter, § 32, Rn. 110 ff. EuG, Rs T-3/93 (Air France), Slg. 1994, II-121, Rn. 80 ff.; verb. Rs. T-371/94 und 394/94 (British Airways), Slg. 1998, II-240; Beljin, § 28, Rn. 249; ausführlich Koenig/Pechstein/Sander, Rn. 429 ff.; Brealey/Hoskins, S. 296 ff. EuGH, Rs 191/82 (Fediol), Slg. 1983, 2913, Rn. 31; EuG, verb. Rs T-447, 448 und 449/93 (Aitec u.a.), Slg. 1995, II-1971, Rn. 60 ff. EuGH, Rs 309/89 (Codorniu), Slg. 1994, I-1853, Rn. 20 ff. S. etwa EuG, Rs T-177/01 (Jégo Quéré), Slg. 2002, II-2365, Rn. 41 ff.; vgl. auch GA Jacobs, in: EuGH, Rs C-50/00 P (UPA), Slg. 2002, I-6677, Rn. 37 ff.; v. Danwitz, NJW 1993, 1111; Arnull, CMLR 38 (2001), 7, 51; Everling, in: FS Rodríguez Iglesias, 540, 577; Scheuing, § 6, Rn. 50; a.A. Koenig/Pechstein/Sander, Rn. 412. EuG, Rs T-84/97 (BEUC), Slg. 1998, II-795, Rn. 48; dazu auch Schermers/Waelbroeck, Rn. 728, 832. Soweit diese rein formalen Charakter aufweisen, können sie nachgeholt werden (Art. 38 § 2 Abs. 3, § 7 VfO EuGH). Im Übrigen, und dies gilt vor allem für den inhaltlichen Sachvortrag, ist der Kläger ggf. präkludiert. Zu Einzelheiten der Fristberechnung s. Art. 80 ff. VfO EuGH, Art. 101 ff. VfO EuG.

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Erscheinen des Amtsblatts zu laufen beginnt. Ferner ist generell die pauschale Entfernungsfrist von 10 Tagen zu beachten (Art. 81 § 2 VfO EuGH, Art. 102 § 2 VfO EuG; vgl. auch Art. 45 Satzung). 32 Soweit einem Kläger unstreitig eine Klagemöglichkeit zusteht, bewirkt der Ablauf der Frist zugleich eine Bestandskraft des betreffenden Rechtsaktes mit der Folge, dass dessen Rechtswidrigkeit auch in anderen Verfahren nicht inzident geltend gemacht werden kann. Dies gilt etwa, wenn ein Rechtsakt eine Umsetzungspflicht des Mitgliedstaates begründet und sich dieser säumig zeigt, sodass die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet,54 oder für Unternehmen, die sich der Pflicht zur Rückzahlung einer von einem Mitgliedstaat erhaltenen Subvention wegen der Weigerung der Kommission, diese zu genehmigen, ausgesetzt sehen; war die negative Entscheidung der Kommission dem Unternehmen bekannt, kann die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung nicht erst inzident im Rahmen einer Klage gegen den nationalen Rückforderungsbescheid geltend gemacht werden.55 Anderes gilt, wenn die Zulässigkeit einer Klage nach Art. 230 Abs. 4 EG nicht offenkundig gegeben war, weil der Rechtsakt etwa Normativcharakter besaß oder an Dritte adressiert war.56 5. Begründetheit 33 Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn der angefochtene Rechtsakt des beklagten Gemeinschaftsorgans im Zeitpunkt seines Erlassens57 mit einem der in Art. 230 Abs. 2 EG genannten Nichtigkeitsgründe behaftet ist und dieser gemeinschaftsrechtliche Verstoß vom Kläger geltend gemacht oder von Amts wegen (dazu Rn. 110) aufgegriffen wurde.58 Trotz ihres enumerativen Charakters erfassen die nachfolgend erläuterten Nichtigkeitsgründe letztlich umfassend alle Aspekte einer möglichen Rechtswidrigkeit. 34 Unzuständigkeit liegt vor, wenn entweder die Gemeinschaft insgesamt oder aber das betreffende Organ nicht zuständig ist.59 Ferner nimmt der Gerichtshof eine sachliche Unzuständigkeit an, wenn die gewählte Handlungsform dem tätig gewordenen Organ in diesem Rechtsetzungsverfahren nicht zur Verfügung steht.60 Räumliche Unzuständigkeit liegt vor, wenn ein Gemeinschaftsorgan außerhalb des Jurisdiktionsbereiches der Gemeinschaft tätig geworden ist.61 35 Bei der Verletzung wesentlicher Formvorschriften geht es insbesondere auch um Vorschriften, die das Verfahren betreffen. Wesentlichkeit ist gegeben, wenn der Fehler geeignet war, den Inhalt eines Rechtsaktes zu beeinflussen,62 oder wenn die fragliche Vorschrift zum Schutz von dessen Adressaten ergangen ist.63 Dabei wird bei Verfahrensverstößen bei der Beantwortung der Frage nach der Alternativlosigkeit der Sachentscheidung eine wesentlich weniger intensive Sachprüfung vorgenommen als in Deutschland.64 Unbeachtlich ist ein Verfahrensfehler nur dann, wenn sich nachweisen lässt, dass bei korrektem Verfahren kein anderes Ergebnis hätte herauskommen können. Zu den wesentlichen Formvorschriften gehört ferner die Pflicht zur Begründung. Diese muss dem Betroffenen die Wahrnehmung seiner Rechte, dem Gericht die Ausübung der Rechtskontrolle ermöglichen.65 Die unterbliebene Bekanntgabe hingegen stellt keine Formvorschrift in diesem Sinne dar; vielmehr liegt bis zur Bekanntgabe überhaupt kein Rechtsakt vor. 36 Der Klagegrund der Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm hat Auffangcharakter66 und erfasst alle Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht (dazu Rn. 13), die nicht unter einen speziellen Nichtigkeitstatbestand fallen. Im Kern geht es um objektive Verstöße gegen materielles 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

EuGH, Rs 130/83 (Kommission/Italien), Slg. 1984, 2849, Rn. 1 ff.; Rs 226/87 (Kommission/Griechenland), Slg. 1988, 3611, Rn. 12 ff. Vgl. noch Rn. 60. EuGH, Rs C-188/92 (TWD), Slg. 1994, I-833, Rn. 15 ff. Dazu Pache, EuZW 1994, 615 ff. EuGH, Rs 216/87 (Universität Hamburg), Slg. 1983, 2771, Rn. 10; Rs C-241/95 (Accrington Beat), Slg. 1996, I-6699, Rn. 15. Dazu jüngst Pechstein/Kubicki, NJW 2005, 1825 ff. EuGH, verb. Rs 15/76 und 16/76 (Frankreich/Kommission), Slg. 1979, 321, Rn. 7 f. Koenig/Pechstein/Sander, Rn. 525. Zu Ersterem etwa EuGH, Rs C-376/98 (Deutschland/Rat) (Tabakwerbung), Slg. 2000, I-8419, Rn. 83 ff.; zu Letzterem EuGH, Rs 332/85 (Deutschland/Kommission), Slg. 1987, 5143, Rn. 19. EuGH, verb. Rs 228/82 und 229/82 (Ford), Slg. 1984, 1129, Rn. 22. EuGH, verb. Rs 89/85 u.a. (Ahlström u.a.), Slg. 1988, 5193, Rn. 11 ff. EuGH, Rs 117/81 (Geist), Slg. 1983, 2191, Rn. 7. EuGH, Rs 34/77 (Oslizlok), Slg. 1978, 1109, Rn. 37; Rs 264/82 (Timex), Slg. 1985, 849, Rn. 24. Etwa EuGH, Rs 68/86 (Vereinigtes Königreich/Rat), Slg. 1988, 855, Rn. 49. EuGH, Rs C-288/96 (Deutschland/Kommission), Slg. 2000, I-8207, Rn. 82. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 7, Rn. 99.

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B. Verfahren vor der europäischen Gerichtsbarkeit

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Gemeinschaftsrecht. Unter Ermessensmissbrauch versteht der Gerichtshof die Vornahme einer Rechtshandlung durch ein Gemeinschaftsorgan ausschließlich oder zumindest überwiegend zu anderen als zulässigen Zwecken oder mit dem Ziel, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen.67 Dementsprechend kommt diesem Nichtigkeitsgrund nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung zu; zudem sind dessen Voraussetzungen kaum zu beweisen.68 Damit ist dieser Tatbestand deutlich enger als die auch alle objektiven Fehler umfassende deutsche Ermessensfehlerlehre, die im Gemeinschaftsrecht als Verletzung des Vertrages angesehen werden. Bei der Prüfung ist zu beachten, dass der EuGH – in weitergehendem Umfang als im deutschen Recht – nicht 37 nur rechtsfolgenbezogene Ermessensspielräume anerkennt, sondern den jeweils handelnden Organen auch im Übrigen einen weitgehenden Beurteilungsspielraum zugesteht. Dies ist vor allem der Fall, soweit es um normative Rechtsakte geht oder, wenn und soweit eine besondere Sachkompetenz zur Beurteilung komplexer Sachverhalte erforderlich ist.69 Grundlage ist sein spezifisches Rollenverständnis (Rn. 12). Nach Art. 229 EG können allerdings Verordnungen, soweit es um Zwangsmaßnahmen geht, dem Gerichtshof die 38 Zuständigkeit übertragen, Ermessensentscheidungen uneingeschränkt nachzuprüfen oder auch getroffene Entscheidungen zu ändern. Praktischer Anwendungsfall sind die Bestimmungen, die dem Gerichtshof gestatten, – insbesondere im Wettbewerbsrecht – von der Kommission festgesetzte Sanktionen herabzusetzen. 6. Wirkungen eines Urteils Ist die Klage zulässig und begründet, erklärt der Gerichtshof die Handlung für nichtig und hebt sie mit all- 39 gemeiner Wirkung und im Grundsatz rückwirkend auf.70 In Ausnahmefällen kann er anordnen, dass – etwa aus Gründen des Vertrauensschutzes, weil an sich noch weitergehende Vorschriften zu erlassen sind u.ä. – bestimmte Wirkungen einer Verordnung, aber auch anderer Rechtsakte, fortbestehen (Art. 231 Abs. 2 EG).71 Über weitergehende Entscheidungsmöglichkeiten verfügt er nicht. Ergänzend postuliert Art. 233 EG die Verpflichtung des beklagten Organs, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenen Maßnahmen zu ergreifen. Hieraus wird insbesondere auch abgeleitet, dass bei Aufhebung der Ablehnung einer bestimmten Maßnahme, deren Erlass der Kläger beantragt hatte, eine Verpflichtung des beklagten Organs besteht, den Kläger erneut zu bescheiden. Anderenfalls wird gegen die Rechtskraft der Entscheidung verstoßen. 7. Klagen im Anwendungsbereich des Unionsvertrages Soweit auf Titel VI des Unionsvertrages gestützte Maßnahmen gerichtlich kontrolliert werden sollen, ist der 40 EuGH nach Art. 35 Abs. 6 EU für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit zuständig. Im Kern ist das Verfahren der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EG nachgebildet. Wichtige Einschränkungen bestehen allerdings bei den möglichen Klägern, weil weder dem Europäischen Parlament noch natürlichen und juristischen Personen ein Klagerecht eingeräumt ist. Dies ist aber auch rechtsstaatlich nicht zu beanstanden, da Rechtsakte nach Titel VI EU gemäß Art. 34 Abs. 2 in jedem Fall keine unmittelbare Wirkung zu Lasten eines Einzelnen entfalten können. Da keine Parallelbestimmung zu Art. 231 EG besteht, der als Rechtsfolge eine Nichtigkeitserklärung vorsieht, spricht vieles dafür, dass sich der EuGH hier mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit begnügen muss.72

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EuGH, Rs C-84/94 (Vereinigtes Königreich/Rat), Slg. 1996, I-5755, Rn. 69; Rs C-180/96 (Vereinigtes Königreich/Kommission), Slg. 1998, I-2265, Rn. 64. Schermers/Waelbroeck, Rn. 820; Rideau/Picod, S. 260; Brealy/Hoskins, S. 323. Schermers/Waelbroeck, Rn. 805. Eine Ausnahme gilt insoweit für VO, soweit sich diese der Sache nach nur als Bündelung von Einzelentscheidungen erweist (vgl. Fn. 36); diese werden nur mit Wirkung für die Kläger aufgehoben: EuGH, Rs 240/84 (Toyo), Slg. 1987, 1809, Rn. 4 ff. Bsp. für VO: EuGH, Rs 264/82 (Timex), Slg. 1985, 849, Rn. 32; Rs C-22/86 (Parlament/Rat), Slg. 1998, I-3231, Rn. 41 ff.; verb. Rs C-164 und 165/97 (Parlament/Rat), Slg. 1999, I-1139, Rn. 21 ff. Zur analogen Anwendung bei anderen Rechtsakten etwa Rs C-21/94 (Parlament/Rat), Slg. 1995, I-1827, Rn. 29 ff.; Rs C-271/94 (Parlament/Rat), Slg. 1996, I-1689, Rn. 40. Classen, in: Müller-Graff/Schwarze (Hg.), 73, 83; Brechmann, in: Callies/Ruffert, Art. 35, Rn. 6; a.A. Röben, in: Grabitz/Hilf, Art. 35, Rn. 22; Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386, 417; offen Wasmeier, in: v.d.Groeben/Schwarze, Art. 35 EU, Rn. 21. Praktische Bedeutung hat die Frage bislang nicht erlangt.

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