Manchmal können Erwachsene echt doof sein. Diese Zellner! Es ist nicht zu fassen. Stellt sich heute früh vor die Klasse hin und macht ein Gesicht wie ein Weih­ nachtsengel. Ganz feierlich. Ich denke, jetzt gibt sie unsere Deutschaufsätze heraus oder verrät endlich, wohin wir am Wandertag fahren werden. Aber nein: Sie stellt sich hin und erzählt von meiner Oma! Dass ich unter „seelischem Druck“ stehe und dass man mir daher manches nachsehen müsste! Und dass sie mich deshalb auch nicht für mein – „zugegebenermaßen völlig indiskutables“ – Verhalten von gestern bestrafen würde. Das mit dem Verhalten habe ich mir extra ge­­ merkt und aufgeschrieben, als ich wieder klar denken konnte. Was es heißt, weiß ich nicht, da muss ich erst Oma fragen. Aber zunächst einmal war ich völlig von den Socken. Was denkt sich diese Frau eigentlich dabei? Und wo soll ich mich in der Pause verstecken, wenn die ande­ ren über mich herfallen? Die werden doch gleich min­ destens fünf neue Spitznamen für mich haben! Ich höre sie schon: „Dampfkesselchen, wie geht’s dir heu­ te? Was macht der Überdruck?“ Am liebsten würde ich im Boden versinken. Wenn irgendwo eine Ackerfurche wäre, würde ich mich hi­­ neinwerfen wie damals bei dem Gewitter. Doch leider

gibt’s die weder in unserem Klassenzimmer noch auf dem Pausenhof. Ich habe so eine Wut in mir. Ich bin sauer auf die Zellner und auf alle anderen, sogar auf Kathrin. Die kann zwar nichts dafür, aber helfen kann sie mir auch nicht. Dabei habe ich ihr schon hundertmal geholfen. Die Konsequenzen heute Nachmittag mit dem Brech­ berg habe ich auch ihr zu verdanken. In der Pause gehe ich schnell aufs Klo und schließe mich ein. Sollen die doch ärgern, wen sie wollen – mich kriegen sie nicht. Es ist zwar öde, allein auf dem mie­ figen Klo zu sitzen und das Pausenbrot zu essen, aber besser, als sich den Quatsch der anderen anzuhören. Wenn die Zellner wüsste, was sie da angerichtet hat! Plötzlich klopft jemand an die Tür. „Naddi? Ich weiß, dass du da drin bist. Komm endlich raus. Oder ist dir schlecht?“, fragt Kathrin. „Mir ist nicht schlecht. Mir wird höchstens schlecht, wenn ich euch alle sehe!“, fauche ich zurück. Aber Kathrin gibt nicht nach. „Sophie hat nach dir gefragt“, erzählt sie. „Sie hat Kirschen dabei und will dir welche geben, ganz süße Schwarzkirschen. Sebas­ tian hat dir einen Schokoriegel auf den Tisch gelegt. Und Jana tauscht mit dir die Spielkarten, die du schon so lange haben willst.“ Mir bleibt der Mund offen stehen. Zum Glück sieht mich keiner in der Klokabine. Ich sehe bestimmt ziem­

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9. Kapitel: Anders als gedacht

lich doof aus, wie ich so dastehe mit offenem Mund. Dann nehme ich mich zusammen und gehe hinaus zu Kathrin. „Ist das wahr?“, frage ich sie. „Natürlich. Sie wollen dir doch helfen. Was hast du denn gedacht?“ Ich erzähle ihr lieber nicht, was ich gedacht habe. Ehrlich gesagt, schäme ich mich für das, was ich vor­ hin gedacht habe. Kathrin führt mich auf den Pausen­ hof wie eine Schwerkranke. Tatsächlich bringt mir Sophie eine Handvoll Kirschen und Jana tauscht mit mir die Spielkarten. Ich kann es nicht fassen. So süße Kirschen habe ich noch nie gegessen. Die Schokolade von Sebastian packe ich in meine Schultasche, die bringe ich morgen Oma mit. Sie soll auch etwas davon haben.

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10. Kapitel: Nachsitzen und ein paar Antworten Nun ist es also so weit – ich bin am Nachmittag in der Schule und sitze nach. Allein im Musiksaal. Obwohl es mir heute Vormittag echt gut ging, als sich alle so lieb um mich gekümmert haben, ist meine Laune jetzt schon wieder im Keller. Dieser Brechberg nervt mich. Ich ärgere mich über ihn und natürlich über Tanja, schließlich hat die mir das alles eingebrockt. Der ein­ zige Lichtblick ist, dass es angefangen hat zu regnen – da kann Tanja Kathrin weder ersäufen noch aus dem Schwimmbad verjagen. Außerdem kann Kathrin nicht sauer auf mich sein, weil ich sie nicht ins Schwimmbad begleite. Als der Brechberg kommt, habe ich das Gefühl, mir sträuben sich die Haare. Man sagt das so, aber sie sträuben sich wirklich. Bei Katzen habe ich das schon beobachtet, die werden fast doppelt so dick, wenn sie sich sträuben. Ich bin mindestens auch doppelt so dick, zumindest innerlich. Mir sträubt sich innerlich jedes einzelne Haar. Aber der Brechberg merkt es nicht. Er setzt sich vor mir auf den Tisch. Das kann ich auf den Tod nicht leiden! Er redet von oben auf mich herunter. Er fragt: „Was willst du jetzt machen?“ Hat man so was schon mal gehört? Erst verdonnert er mich zum Nachsitzen – oder eigentlich Nacharbei­ 43

ten – und dann soll ich entscheiden, was ich machen will! Ich will nur raus hier und sonst gar nichts! Für einen Moment frage ich mich, ob ich ihm das sagen soll. Aber dann muss ich vielleicht die halbe Nacht hierbleiben, zur Strafe wegen frecher Antwor­ ten. Also lasse ich es lieber und schaue bloß vor mich hin. Da sagt er: „Du willst am liebsten raus hier, das ist mir klar. Nach allem, was mir Frau Zellner erzählt hat, würde ich dich auch gern gehen lassen. Aber das kann ich nicht, weil dann die anderen Schüler, die hier zwei Stunden lang Aufsätze geschrieben haben, mit Recht fragen würden: ‚Warum kriegt Naddi eine Sonder­ behandlung?‘ Also müssen wir wenigstens annähernd zwei Stunden hier absitzen, wir zwei.“ Wir zwei? Ich habe noch gar nicht darüber nachge­ dacht, dass der Brechberg auch nachsitzen muss, wenn er mich nachsitzen lässt. Schön blöd – bestraft sich sel­ ber. Aber vielleicht macht es ihm Spaß? Vielleicht ist er einer, der sich tagelang freut, wenn er Schüler quälen kann? Im Moment sieht er allerdings nicht aus, als ob er sich mordsmäßig freuen würde. „Die anderen mussten wohl immer Aufsätze schrei­ ben?“, frage ich, nur um überhaupt etwas zu sagen. Der Brechberg sagt nämlich nichts mehr und es ist unangenehm still. Man hört meinen Magen, der das Mittagessen verdaut. In dem leeren Musiksaal klingt das wie Wuschl, wenn er knurrt.

„Ja“, antwortet er. „Meistens zu Themen wie ‚Zehn Gründe, warum ich mich nicht prügeln soll‘ oder ‚Ge­­ walt löst keine Probleme, sondern schafft neue‘. Oft nicht einfach für euch. Aber ich habe natürlich geholfen. Manchmal haben wir mehr geredet als geschrieben.“ Allmählich bekomme ich ein neues Problem mit dem Brechberg – er ist so ganz anders als sonst. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass mir die Limo hochkommt bei seinem Anblick. Er wirkt so vernünf­ tig. Er scheint sogar ein bisschen zuhören zu wollen. „Erzähl doch mal, warum du Tanja in der Pause angegriffen hast“, fordert er mich auf. Ich fange ganz vorsichtig an. Ein bisschen rechne ich immer noch damit, dass er mich gleich nach dem ersten Satz unterbricht. Aber er hört wirklich zu. Also erzähle ich ihm die Geschichte mit allem, was dazugehört. Er unterbricht mich kein einziges Mal. Am Schluss bin ich bei Kathrin und dem Gewitter und den Fragen, die ich ihr nicht stellen konnte. Noch ehe ich es richtig merke, habe ich sie alle aufgezählt. Die ganzen Fragen. Wie das mit dem Sterben ist und so. Dabei ist er nur mein Musiklehrer. Wenn er Reli­ gionslehrer oder Pfarrer wäre, dann wüsste er vielleicht eine Antwort. Aber als Musiklehrer? Für so etwas ist er doch gar nicht zuständig. Als ich fertig bin, ist er lange still. Vielleicht meint er, dass da noch etwas kommt, aber ich habe alles

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erzählt. Mehr gibt es nicht. Vielleicht denkt er auch nach. Oder er weiß keine Antwort und überlegt, wie er mir das beibringen soll, ohne dass ich ihn für dumm halte. Dann sagt er: „Ich kann dir nicht erklären, wie das bei deiner Oma ist. Aber ich kann dir von meinem Vater erzählen, der voriges Jahr gestorben ist. Willst du das hören?“

Natürlich will ich. Ich will alles hören! Vielleicht verstehe ich dann endlich ein bisschen mehr. Er erzählt. Sein Vater hatte Krebs. Er war lange krank. Er wurde immer schwächer und schwächer. Anfangs wurde er noch operiert und behandelt – bestrahlt, nennt er das – aber irgendwann war klar, dass es keine Hilfe mehr gab. „Er wusste, dass er bald sterben würde. Er hat es gefühlt. Und“, fügt Herr Brechberg hinzu, „es war dann ein großer Trost für ihn.“ „Ein Trost? Das kann ich mir nicht vorstellen, auf keinen Fall.“ „Du musst bedenken, dass er Schmerzen hatte. Er war völlig hilflos und musste den ganzen Tag im Bett liegen, so wie deine Oma. Das Leben war nicht mehr besonders schön für ihn. Es war eigentlich eher eine Belastung. Als er wusste, dass der Tod nicht mehr weit war, da war er ganz ruhig und fast heiter. So ist er dann auch gestorben. Ganz leise, im Schlaf. Er hat hinterher ausgesehen, als ob er einfach schläft. Ganz tief und fest. Und als ob er etwas Schönes träumt.“ Seltsamer Gedanke. Der Tod als ein langer Schlaf mit schönen Träumen. „Ob meine Oma Schmerzen hat? Der Doktor behauptet, dass sie keine hat.“ „Wenn ihr Arzt das sagt, wird das schon so sein. Außerdem würdest du es deiner Oma ganz bestimmt anmerken, wenn sie Schmerzen hätte, oder nicht?“

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„Bestimmt. – Aber ob sie an den Tod denkt?“ So viele Fragen, und ausgerechnet Oma, die immer eine Antwort hatte, kann mir nun nicht helfen. Jetzt muss Herr Brechberg mir antworten. „Sie denkt ganz sicher an den Tod. Jeder Mensch, der schwer krank ist, denkt darüber nach. Und du machst dir auch Gedanken darüber“, erklärt er. Da hat er recht. Und wie! Aber jetzt mag ich nicht mehr reden. Es gibt so vieles, über das ich mir klar werden muss. Herr Brechberg merkt das, setzt sich ans Klavier und fängt leise an zu spielen. Ich denke lange nach. Herr Brechberg spielt. Plötzlich sage ich ganz laut: „Aber es wird doch des­ wegen nicht einfacher für diejenigen, die übrig blei­ ben!“ Ich meine, dass es nicht reicht, wenn meine Oma mit ihrem Tod einverstanden ist. Immerhin bin ich auch noch da! Oma kann so einverstanden sein, wie sie will, ich bleibe hier zurück und muss ohne sie klar­ kommen! Herr Brechberg hört auf zu spielen. Er meint: „Nein, es wird nicht einfacher dadurch. Du hast Recht. Es ist wirklich nur ein kleiner Trost. Man kann nur langsam lernen, mit dem Verlust zu leben. Es bleibt einem nichts anderes übrig. Mit der Zeit geht es dann schon. Aber am Anfang ist es richtig schlimm.“ Also ist das so, wie mit den Konsequenzen. Mit denen soll ich auch dauernd leben lernen. Aber was für

eine Konsequenz soll das sein, wenn Oma stirbt? Sie stirbt ja nicht, um mich zu bestrafen … Vielleicht hat es doch nichts mit Konsequenzen zu tun? Man muss mit vielen Dingen leben lernen, nicht nur mit Konsequenzen. Mit Gewitter zum Beispiel. Das kommt eben einfach so. Genau wie ein Sturm, auch wenn er selten kommt und nie dann, wenn man ihn braucht. Auf einmal steht Herr Brechberg auf und sagt, dass die zwei Stunden vorbei sind. Die sind aber schnell vergangen. Das ist mir schon oft aufgefallen: Beim Denken und beim Lesen vergeht die Zeit, ohne dass man es bemerkt. Als ich gehen will, gibt er mir die Hand und sagt: „Mach’s gut, Naddi. Wenn du mich noch etwas fragen willst, dann komm einfach in der Pause zu mir. Wenn ich nicht Aufsicht habe, bin ich im Musiksaal.“ Komisch, einem Lehrer die Hand zu geben. Bis jetzt hatte ich immer das Gefühl, die haben ihre Hände bloß, um damit die Tafel von oben bis unten vollzu­ kritzeln. Na ja, und zum Klavierspielen, zumindest die Musiklehrer. Noch komischer ist es, dass ich mich bei ihm bedanke. Für das Nachsitzen. Das muss man sich mal vorstellen! Erst beim Heimgehen fällt mir auf, dass Herr Brech­ berg kein einziges Mal gesagt hat, dass ich mir keine Gedanken machen soll, weil Oma bestimmt wieder

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