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Deutsche Ausgabe

Mittwoch, 6. Mai 2015

Die monatlichen Beilagen erscheinen in verschiedenen Sprachen in führenden internationalen Tageszeitungen: The Daily Telegraph, Le Figaro, The New York Times.

Diese bezahlte Sonderveröffentlichung wird dem HANDELSBLATT beigelegt. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines (Russland) verantwortlich. Die Handelsblatt-Redaktion ist bei der Erstellung der bezahlten Sonderveröffentlichung nicht beteiligt.

70 JAHRE NACH KRIEGSENDE: wohin steuern Berlin und Moskau

SERGEJ LARENKOW

PERSÖNLICHE GESCHICHTEN, UNBEKANNTE FAKTEN UND EXPERTENMEINUNGEN ÜBER DEN KRIEG FINDEN SIE IN SONDERRUBRIK de.rbth.com/70_jahre_kriegsende

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70 JAHRE KRIEGSENDE

Lawrow und Steinmeier versuchen einen neuen Dialog

Politik

Seit fast zwei Jahren verhandeln die beiden Außenminister über die Ukraine-Krise, manchmal bis an die Grenze des Diplomatischen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2015 warf Lawrow dem Westen vor, zur Eskalation der Krise beizutragen. Steinmeier entgegnete, dass es „eine gute Zukunft Russlands nur mit und nicht gegen Europa gibt“. Ihr nächstes Treffen ist vorläufig für den 7. Mai in Wolgograd geplant.

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EPA

INTERVIEW SERGEJ LAWROW

„Deutsche und Russen dürfen sich nicht entfremden“ RUSSLANDS AUSSENMINISTER ÜBER DAS DEUTSCH-RUSSISCHE VERHÄLTNIS, DIE ROLLE DER UNTERNEHMER UND DIE VISION EINES GEMEINSAMEN WIRTSCHAFTSRAUMES MIT DER EU.

ZURAB DZHAWACHDZE / TASS

Der siebzigste Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges ist nicht nur ein Anlass, der Opfer zu gedenken, sondern auch, die Versöhnung der beiden ärgsten Gegner in diesem Krieg, der Russen und der Deutschen, zu würdigen. Die beiden Länder haben einen langen Weg über die erste Aufnahme wirtschaftlicher Beziehungen bis hin zu einer neuen strategischen Partnerschaft zurückgelegt. Heute befinden sich die Beziehungen angesichts der Ukraine-Krise auf einem neuen Tiefpunkt. Auf beiden Seiten macht sich Enttäuschung breit. Was bleibt von der jahrzehntelangen Anstrengung zur Aussöhnung zwischen den beiden Völkern? Welche Rolle können Unternehmen und Wirtschaft spielen, um die negative Tendenz im Verhältnis zwischen Russland und Deutschland zu brechen, und welche gemeinsamen Interessen verbinden die beiden Länder in Europa heute trotz der aktuellen politischen Krise? RBTH bat den russischen Außenminister Sergej Lawrow zum Gespräch. Den Beziehungen zu Deutschland wurde in Russland schon immer eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt — wir verfügen über langjährige und tiefgehende Beziehungen in Politik, Kultur und natürlich auch in der Wirtschaft. Welche Rolle können und müssen Wirtschaft und Unternehmer spielen, um das Vertrauen zwischen unseren beiden Ländern wieder zu stärken, vor allem in Zeiten des Abbaus politischer Kontakte, wie es in jüngster Zeit wegen der vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen zu beobachten ist?

Über viele Jahrzehnte hinweg waren die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten ein wichtiger Faktor der europäischen Politik. In den letzten Jahren hatten unsere Beziehungen einen tatsächlich facettenreichen Charakter und erstreckten sich praktisch auf alle Bereiche der Zusammenarbeit – angefangen bei Politik und Wirtschaft bis hin zu Kultur und Wissenschaft. Wir stellen mit Bedauern fest, dass Berlin unter dem Vorwand der internen Ukraine-Krise die wichtigsten bilateralen Mechanismen der Zusammenarbeit zurückgefahren und eine Reihe bedeutender gemeinsamer Projekte und anderer Ausrichtungen der Zusammenarbeit eingestellt hat. Erstmals seit vielen Jahren ist der Warenumsatz zurückgegangen – nach russischen Angaben um 6,5 Prozent auf 70,1 Milliarden USDollar. Es ist klar, dass bei diesem deutlichen Rückgang der Intensität des politischen Dialogs – zu dem es nicht auf unser Betreiben hin gekommen ist – den Wirtschaftskreisen beider Staaten eine größere Rolle zukommt, und zwar vor allem, um die Atmosphäre des Vertrauens und des gegenseitigen Verständnisses zu erhalten, eine positive Agenda durchzusetzen und die Grundlagen für unsere zukünftigen Beziehungen zu schaffen, die – dessen bin ich mir sicher – über ein riesiges, schier unerschöpfliches Potenzial verfügen. Unsererseits führen wir einen regelmäßigen Dialog mit der Geschäftswelt in Deutschland, erörtern die Aussichten für die gemeinsame Arbeit und konkrete Projekte. Ich habe mich im vergangenen Halbjahr zweimal – in

ZAHLEN

68 Milliarden Euro betrug in etwa der Handel zwischen Deutschland und Russland im vergangenen Jahr. Das entspricht einem Minus von etwa 11,7 Prozent gegenüber den Vorjahreswerten.

18 Prozent betrug das Minus bei den Exporten nach Russland. Als Gründe nennen Experten Sanktionen, sinkende Ölpreise und Rubelverfall.

800 Milliarden Euro beträgt der jährliche Außenhandel der Eurasischen Wirtschaftsunion. Der Binnenhandel beträgt rund 52,5 Milliarden Euro.

175 Millionen Einwohner haben die Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) Russland, Weißrussland, Kasachstan und Armenien gemeinsam. Im Vergleich dazu kommt die EU auf über 500 Millionen Einwohner. Gemessen an der Fläche allerdings ist die EAWU mehr als viermal so groß wie ihr europäisches Vorbild.

Moskau und München – mit den „Kapitänen“ der deutschen Wirtschaft getroffen. Die Chefs führender deutscher Unternehmen, die sich in Russland engagieren, machten keinen Hehl aus ihrer Besorgnis über die von der Europäischen Union in Gang gesetzte Sanktionsspirale und erklärten ihre Bereitschaft, die Arbeit mit den russischen Partnern fortzuführen. Ich möchte daran erinnern, dass Anfang der fünfziger Jahre, noch vor der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland, es eben deutsche Unternehmer waren, die eine Vorreiterrolle bei der Wiederaufnahme der gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit gespielt haben. Dies bezieht sich in vollem Maße ebenso auf die Ära des Kalten Krieges, als das berühmte „Gas-Röhren-Geschäft“ abgeschlossen wurde, das sinngemäß die Grundlagen für unsere Energiepartnerschaft geschaffen hat. Ich bin überzeugt, dass die Logik einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil auch heute wieder die Oberhand gewinnen wird. Gerade ein solcher Ansatz entspricht den Grundinteressen der Geschäftswelt, der Völker Russlands und Deutschlands, ja auch der gesamten Europäischen Union. Welche gemeinsamen Interessen verbinden Moskau und Berlin bei ihrem Bestreben, die Ukraine-Krise zu überwinden und die negativen Tendenzen in der Entwicklung der internationalen Lage aufzuhalten? Die interne Ukraine-Krise nimmt eine vorrangige Stellung im au-

ßenpolitischen Dialog zwischen Russland und Deutschland ein. Wir sind uns darüber einig, dass eine Eskalation der Spannungen sowohl für die Ukraine selbst als auch für das gesamte System der europäischen Sicherheit äußerst negative Folgen haben würde. Eben deshalb sind unsere beiden Länder an einer schnellstmöglichen und allumfassenden Beilegung der Krise interessiert, und zwar auf der Grundlage der strikten Umsetzung sämtlicher Punkte der Minsker Abmachungen vom 12. Februar, und arbeiten im Rahmen des sogenannten „Normandie-Quartetts“ (Russland, Deutschland, Frankreich und die Ukraine, Anm. der Red.) eng zusammen. Am 13. April hat in Berlin ein Außenministertreffen der Staaten im Normandie-Format stattgefunden. Im Ergebnis des Treffens wurde in einer Erklärung die Einhaltung der Minsker Vereinbarungen bekräftigt und die Notwendigkeit unterstrichen, den Beschluss über die Feuereinstellung sowie über den Abzug schwerer Waffen vollständig umzusetzen, die dringendsten humanitären Probleme anzugehen, den politischen Prozess und die Verfassungsreform unter Berücksichtigung der Interessen aller Regionen und Bürger der Ukraine voranzutreiben. Es sei zu hoffen, dass Berlin, ähnlich wie Moskau, nicht an einer neuen tiefen Spaltung Europas interessiert ist, welche die Möglichkeiten der Völker für die Suche nach zuverlässigen Quellen einer nachhaltigen Entwicklung sowohl im Westen als auch im Osten des Kontinents deutlich einschränken würde. Es ist vollkommen klar, dass die

Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) Wirtsc ist eine ne eW Wirtschaftsgemeinschaft i nach dem Vorbild der Europäischen Union. Neben Russland gehören Belarus und Kasachstan zu den GrünUn nio ion. Neb dungsstaaten. Das entsprechende Abkommen ist Anfang 2015 in Kraft d du ungsstaa Auch Armenien und Kirgisistan traten der Union bei. Laut dem getreten. A soll ein Binnenmarkt entstehen mit einheitlichen Zöllen und ReVertrag so geln. Pläne für eine gemeinsame Währung bleiben allerdings noch vage.

BIOGRAFIE ALTER: 65 POSITION: AUSSENMINISTER DER RUSSISCHEN FÖDERATION

Sergej Lawrow wurde 1950 in Moskau geboren. 1972 absolvierte er das berühmte Moskauer Institut für internationale Beziehungen (MGIMO), bis heute eine der wichtigsten Kaderschmiden für die russische Politik. Seine ersten Erfahrungen sammelte Lawrow als Praktikant in der sowjetischen Botschaft auf Sri Lanka. Anschließend arbeitete er im Moskauer Außenministerium in der Abteilung für internationale Wirtschaftsbeziehungen. Anfang der 1980er-Jahre wechselte er zur sowjetischen Vertretung bei der UN nach New York. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit in Moskau in der wirtschaftlichen Abteilung des Außenministeriums übernahm er 1994 schließlich den Vorsitz der russischen UN-Vertretung. 2004 wurde er nach einer Regierungsumbildung aus New York abgezogen und als neuer Außenminister ins Kabinett von Ministerpräsident Michail Fradkow berufen. Nach nunmehr fast elf Jahren im Amt ist er der dienstälteste Minister in der aktuellen Regierung. Neben Russisch spricht Lawrow fließend Englisch, Französisch und Singhalesisch.

Zerrüttung in den europäischen Angelegenheiten sich negativ auf die Fähigkeit der führenden Staaten der Welt auswirkt, fruchtbar im Interesse der Lösung internationaler Probleme zusammenzuarbeiten, einschließlich der Fragen der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Rüstungskontrolle sowie der Bekämpfung des Extremismus und des Terrorismus. Das gilt ebenso für regionale Konflikte, vor allem für die explosive Lage im Nahen Osten und in Nordafrika. Denn heutzutage zeigt uns die gesamte Logik der Entwicklung in der Welt, dass wir nur dann eine effektive Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen und Gefahren finden können, wenn wir unsere Anstrengungen bündeln. Nach unserer Überzeugung ist es notwendig, von der Gewohnheit wegzukommen, jedes Problem separat zu betrachten, denn sonst sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Unsere interdependente Welt durchläuft zurzeit eine komplizierte und turbulente Phase. Unter diesen Bedingungen führt das Fehlen einer strategischen globalen Vision dazu, dass wir Gefahr laufen, nicht mehr in der Lage zu sein, entsprechende angemessene Entscheidungen zu treffen. Wir verzichten nicht auf die Zusammenarbeit. Zumal Russland ein ständiges Mitglied des UNSicherheitsrats ist und deshalb eine besondere Verantwortung für die Wahrung des internationalen Friedens und der Sicherheit trägt. Wir rechnen damit, dass der gesunde Menschenverstand letztendlich die Oberhand gewinnen wird.

Zur Überwindung der Meinungsverschiedenheiten mit Berlin über solche Fragen wie die Angliederung der Krim an Russland und die Lösung des innerukrainischen Konflikts ist es notwendig, neue Anknüpfungspunkte zu finden. Ihr deutscher Amtskollege FrankWalter Steinmeier sprach sich vor Kurzem für Gespräche zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) aus. Wie realistisch ist die Wiederherstellung der deutsch-russischen Partnerschaftsbeziehungen im Rahmen eines breiter angelegten Dialogs zwischen der EAWU und der EU? Wir stellen mit Genugtuung fest, dass unsere europäischen Partner, darunter auch die deutschen, immer aufgeschlossener gegenüber der Idee einer Harmonisierung der Integrationsprozesse auf dem europäischen Kontinent werden. Als erster Schritt sollte ein direkter Dialog zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion aufgenommen werden. Unsererseits unterstützen wir voll und ganz diese Haltung. Wir betrachten diese Arbeit als wichtigsten Meilenstein auf dem Weg zu einem einheitlichen wirtschaftlichen und humanitären Raum vom Atlantik bis zum Pazifik auf den Grundlagen einer gleichen und unteilbaren Sicherheit und einer breit angelegten Zusammenarbeit. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass der russische Präsident Wladimir Putin im Januar des vergangenen Jahres eine Initiative gestartet hat, mit dem Ziel, Verhandlungen aufzunehmen über die Einrichtung einer Freihandelszone zwischen den beiden Integrationsgemeinschaften bis zum Jahre 2020. Für die Annäherung zwischen der EU und der EAWU gibt es alle notwendigen Voraussetzungen, einschließlich einer hohen Komplementarität der Wirtschaften und der Einhaltung einheitlicher Handelsregeln. Die Tatsache, dass das eurasische und das europäische Integrationsmodell sich auf die Normen der WHO stützen, schafft eine gute Grundlage für eine sachbezogene Arbeit zum Abbau der Handels- und Investitionsbarrieren sowie zur Harmonisierung der rechtlichen Regelungen, der Geschäftsregeln und der technischen Standards. Es ist offensichtlich, dass die praktische Umsetzung der Idee der „Integration der Integrationen“ dazu beitragen würde, das Vertrauen in unseren gemeinsamen Kontinent zu stärken und die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf ein prinzipiell neues Niveau anzuheben. In diesem Sinne würde sie auch den deutsch-russischen Beziehungen nutzen, weil Deutschland einer der wichtigsten Handels- und Investitionspartner Russlands bleibt. Wir rechnen damit, dass den Erklärungen der europäischen Politiker, einschließlich Frank-Walter Steinmeier, konkrete Schritte seitens der EU-Institutionen zur Einrichtung direkter Arbeitskontakte mit den Exekutivbehörden der Eurasischen Wirtschaftsunion folgen.

Viele Experten sowohl von der deutschen als auch der russischen Seite sagen, Deutschland verzichte auf seine bisherige Politik gegenüber Russland. Welche langfristigen Folgen hat dies Ihrer Meinung nach für die deutschrussischen politischen Beziehungen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern? Halten Sie eine weitere Eskalation der Ukraine-Krise und in deren Folge eine militärische Auseinandersetzung in Europa für möglich? In der Geschichte der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland gab es viele scharfe Kurven – es gab tragische Seiten, aber auch beeindruckende Errungenschaften zum Wohle unserer Völker und des ganzen europäischen Kontinents. Unsere Staaten haben in der Nachkriegszeit im buchstäblichen Sinne ihre Versöhnung durchlitten. Im Ergebnis ist es uns gelungen, ein neues Niveau der strategischen Partnerschaft und einer gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit zu erreichen. Wir sehen darin das Unterpfand für die weitere erfolgreiche Entwicklung unserer bilateralen Beziehungen als auch für die Stabilität und das Gedeihen Europas im Ganzen. Es ist offensichtlich, dass ein langfristiger Abwärtstrend in der deutsch-russischen Zusammenarbeit negative Folgen nicht nur für die beiden Länder und deren Wirtschaften, sondern auch für die gesamte euroatlantische Region haben würde. Besonders besorgniserregend ist die Gefahr einer neuen „Entfremdung“ der Russen und Deutschen, denn das hohe Maß an Respekt und Vertrauen zwischen den beiden Völkern ist unser Gemeingut. Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass gemeinsame Anstrengungen mit ein wenig gutem Willen den gegenwärtigen ungünstigen Trend aufhalten können. Dann könnten wir die Arbeit an einer weiteren Entwicklung der gleichberechtigten Partnerschaft zum gegenseitigen Vorteil wiederaufnehmen. Wir sind offen für alle vernünftigen Initiativen von der deutschen Seite, die zur Gesundung der Lage beitragen. Eine wichtige Rolle bei diesen Anstrengungen spielt dabei die Öffentlichkeit unserer Länder, unter anderem im Rahmen des Petersburger Dialogs. Über die Aussichten für die Regelung der internen Ukraine-Krise habe ich bereits gesprochen – sie hängen unmittelbar von der strikten Einhaltung sämtlicher Punkte der Minsker Vereinbarungen vom 12. Februar durch alle Seiten ab. Jegliche Versuche Kiews, die Kampfhandlungen wieder aufzunehmen, wären ein kolossaler, tragischer Fehler. Ich wiederhole: Wir und unsere deutschen Partner sind uns dessen gut bewusst, welche Auswirkungen eine Eskalation des Konfliktes für das gesamte Europa und die internationale Lage im Ganzen haben könnte. Wir sind bestrebt, auch weiterhin die Anstrengungen in dieser Angelegenheit zu koordinieren.

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Politik RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

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70 JAHRE KRIEGSENDE

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Moskau-Reise von Adenauer 8. bis 14. September 1955

Wirtschaft

Die Entwicklung geregelter Beziehungen zwischen der BRD und der Sowjetunion wurde lange Zeit durch starke politische Barrieren behindert. Das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Nikita Chruschtschow und Konrad Adenauer war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen gegen die langersehnte Freilassung der übrigen rund 10 000 deutschen Kriegsgefangenen aus sowjetischer Gefangenschaft.

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HANDEL MIT HINDERNISSEN WIRTSCHAFTLICHE INTERESSEN GEGEN SANKTIONEN UND IDEOLOGISCHE BARRIEREN: DIE GESCHICHTE EINER KOMPLIZIERTEN PARTNERSCHAFT ZWISCHEN DEUTSCHEN UND RUSSEN IN DER NACHKRIEGSZEIT

VOM TODFEIND ZUM PARTNER Es war ein langer Weg vom Schützengraben an den Verhandlungstisch. Am Ende wurde Deutschland zum wichtigsten Partner erst für die UdSSR und später für Russland. OTTO SCHMIDT FÜR RBTH

Es ist eine wahrhaft epochale Feststellung: Obwohl sie den furchtbarsten Krieg der Menschheitsgeschichte gegeneinander

kämpften, wurden Deutsche und Russen danach wieder wichtige Handelspartner. Langsam fanden Sieger und Besiegte auch inmitten neuer Spannungen zur Kooperation zurück. Trotzdem galten diese Beziehungen seitdem selten als Normalität: Gehörte man zunächst entgegengesetzten geopolitischen Bündnissen an, konnten die Bundesrepublik und Russland auch nach 1990 kein „gemeinsames Haus“ aufbauen. Seit nunmehr 70 Jahren bremsen immer wieder politische Krisen den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Austausch oder stellen ihn gar komplett infrage, wie es wegen der Ukraine-Krise aktuell erneut der Fall ist.

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Der schwere Anfang des neuen Osthandels Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ruhten die Waffen zwischen den ehemaligen Alliierten in Ost und West, ihre geopolitischen Gegensätze traten aber offen zutage. Insbesondere für die USA war es entscheidend, den Ostblock wirtschaftlich klein zu halten.

Mit Embargos meinte man, die UdSSR einhegen zu können. Es wurde ein Ausschuss gegründet, der den Handel mit dem Osten überwachen sollte, das „Coordinating Commitee“ (kurz CoCom). Dieses stellte Listen von „strategisch wichtigen“ Waren zusammen, die den Sowjets vorenthalten werden sollten. Wer sich nicht daran hielt, dem drohten die Amerikaner mit Entzug der Marshall-Plan-Hilfen. Für das besetzte Westdeutschland galt eine besonders umfassende Liste. Der Handelsverweigerung konnte es sich nicht entziehen. Der Ost-West-Handel brach folglich ein: Hatten 1948 die westeuropäischen Länder noch 13 Prozent ihrer Waren nach Osteuropa exportiert, waren es 1951 nur sieben Prozent. Im Vergleich dazu erschien der Zustand vor dem Krieg fast schon märchenhaft: 1938 verkaufte man ein Drittel seiner Waren an die östlichen Nachbarn. Und zehn Jahre zuvor hatte die deutsche Industrie gar jede zweite Maschine an die Sowjetunion geliefert. Trotz der Embargopolitik gab es auf beiden Seiten den Wunsch, wieder miteinander Handel zu treiben. Die Wirtschaft der UdSSR wuchs zwar weiterhin stark, allerdings brauchte sie immer mehr Konsumgüter, deren Produktion ihr zunehmend Probleme bereitete. Westdeutschland wies 1949 seinerseits ein großes Handelsbilanzdefizit aus. Ihm gingen schlicht die Dollar aus. Der Handel mit dem Osten könnte den Ausgleich bringen, dachte man.

CHRONIK

Vom Embargo zu guten Geschäften

1949 • Gründung des Koordinationskomitees für Ost-West-Handel (kurz CoCom) mit Sitz in Paris. Ziel war die Exportkontrolle in die Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern. In der Ära des Kalten Krieges stellte die CoCom Listen von strategischen Gütern und Technologien auf, die nicht in die Staaten des Ostblocks exportiert werden durften.

1952 • Während der Kalte Krieg die Gräben vertiefte, versuchten deutsche Unternehmer, Geschäftsbeziehungen nach Osteuropa aufzubauen. Ende 1952 wurde der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft gegründet. Er sollte Handelskontakte politisch unabhängig, aber in Abstimmung mit der Bundesregierung wiederherstellen.

1951 kam schließlich Bewegung in die Sache: Die Sowjets luden die ganze Welt zu einer großen Wirtschaftskonferenz nach Moskau, „um den Frieden zu stärken“. Das westdeutsche Establishment wehrte sich gegen die „Propagandaveranstaltung“, wie man den Schachzug des Kremls einschätzte. Trotzdem weckten solche Zusammentreffen den Wunsch nach mehr. Es häuften sich kleinere Initiativen von Unternehmern, die den Handel mit den Russen auf eigene Faust

aufzunehmen suchten. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) wollte aber die Übersicht und die Kontrolle über das Russlandgeschäft behalten. So kam es zur Idee eines eigenen Gremiums für den Osthandel. Nachdem 1952 der Bundestag und später auch die Regierung Adenauer den Osthandel grundsätzlich erlaubten, wurde der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft gegründet. Der Handel wuchs beständig und erste Kontakte von deutschen Unternehmern und sowjetischen Handelsfunktionären wurden geknüpft. Mit dem Auslaufen des Marshall-Plans verloren auch die CoCom-Embargolisten allmählich an Bedeutung.

Adenauer und der erste Frühling im Russlandgeschäft 1965 • Das Röhren-Embargo des Nato-Rates gegenüber den Staaten des Ostblocks stoppte den Export von deutschen Großröhren für den Bau von Öl- und Gaspipelines. Insbesondere sollte damit der Bau der Erdölleitung „Druschba“ (zu Deutsch „Freundschaft“) verhindert werden, die die DDR mit Rohöl aus der Sowjetunion beliefern sollte.

1970 • Die deutsch-sowjetischen Röhren-Erdgas-Geschäfte begannen mit der Unterzeichnung dreiseitiger Verträge über die Lieferung von Großröhren durch deutsche Firmen und Gewährung von Krediten im Tausch gegen sowejtische Erdgaslieferungen.

In den 1950er-Jahren wurde die BRD zu einem Wirtschaftsriesen. Die UdSSR wiederum arbeitete sich von einem Fünfjahresplan zum nächsten, wobei ihre Industrie hauptsächlich extensiv wuchs – Quantität statt Qualität. Westdeutschland konnte ihr gegenüber zunehmend eine Position der Stärke einnehmen: Es war weniger auf den Warenaustausch mit dem Osten angewiesen als dessen Planwirtschaften. Bundeskanzler Konrad Adenauer versuchte denn auch, die Handelsfrage als Druckmittel einzusetzen, um den Kreml zu politischen Zugeständnissen zu bewegen. Beide Seiten waren aber zu keinem Kompromiss in essenziellen Punkten wie der Deutsch-

landfrage oder dem Status von Berlin bereit. Erst ab 1958 fanden Bonn und Moskau einen gemeinsamen Nenner in zweitrangigen Fragen wie der Rückkehr von deutschen Kriegsgefangenen und dem Austausch von Botschaftern. Der Lohn davon waren auch die ersten Wirtschaftsabkommen zwischen der BRD und der UdSSR – deutsche Maschinen und Chemieerzeugnisse gegen sowjetisches Öl, Metalle und andere Rohstoffe. Trotz der kurz nach Vertragsunterzeichnung ausgebro-

chenen Berlin-Krise wuchs der deutsch-sowjetische Handel von etwa 160 Millionen US-Dollar im Jahr 1958 auf fast 400 Millionen im Jahr 1962. Verglichen mit dem gesamten Außenhandel der beiden Staaten war dieser Umsatz zwar immer noch unbedeutend. Trotzdem erlangte das Geschäft mit Westdeutschland für den Kreml allmählich strategische Bedeutung. Regierungschef Nikita Chruschtschow hatte der sowjetischen Planwirtschaft den Umstieg von Kohle auf Öl und Erdgas verordnet, und dazu musste die Infrastruktur geschaffen werden: Pipelines für den Transport der Rohstoffe mussten her. Der Krupp-Konzern lieferte schon seit Jahren Rohre für den Pipeline-Bau, nun kamen noch weitere deutsche Firmen wie Mannesmann hinzu. Tauschgeschäfte nach dem Muster „Rohstahl für Rohre“ ließen den deutschen Export ansteigen – bis die USA wieder Sanktionen verhängten.

Streit um Röhren: Die Angst vor der roten EnergieSupermacht Seit Beginn des Kalten Kriegs standen beide Kontrahenten vor einem Dilemma: Obwohl der Handel miteinander gut für Wirtschaftswachstum und Völkerverständigung war, konnte zu viel davon die eigene Sicherheit gefährden. Die UdSSR musste fürchten, sich in wirtschaftlicher und finanzieller Abhängigkeit vom Westen zu

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Berthold Beitz zu Besuch in Moskau 1958

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Wirtschaft

Bertold Beitz, der Generalbevollmächtigte des Krupp-Konzerns, war einer der wichtigsten Förderer des deutschen Osthandels in der Adenauerzeit. In einem Interview bei seiner Ankunft in Moskau 1958 sprach er von der besonderen “Atmosphäre des Kalten Krieges”. Die amerikanischen Verbündeten - so Beitz - hätten den deutschen Osthandel stets mit einem Mißtrauen betrachtet. Die Russen hingegen immer daran interessiert. “Die Deutschen haben die Technik und das Wissen, die Russen die nötigen Ressourcen — eine enge Kooperation macht folglich Deutsche und Russen unschlagbar”, sagte er.

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GETTY IMAGES/FOTOBANK

ZAHLEN

159 000 Tonnen Großrohre lieferten 1959 die westdeutschen Produzenten in die UdSSR, 1960 180 000 Tonnen und 1961 110 000 Tonnen.

567 Millionen US-Dollar betrug der gesamte Handel zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion im Jahr 1968. Innerhalb eines Jahres stieg er auf 740 Millionen an.

15 Prozent Anteil am Außenhandel der UdSSR machten die beiden deutschen Staaten BRD und DDR Mitte der 1970er-Jahre aus und waren somit wichtigste Partner.

157-fach erhöhte sich der Handelsumsatz zwischen der Sowjetunion und Westdeutschland in den drei Jahrzehnten zwischen 1955 und 1984, als er seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte.

DPA/VOSTOCK-PHOTO (2)

verstricken; dieser sorgte sich wiederum, dass er dem kommunistischen Koloss technologisch auf die Beine helfen könnte. Das rasante Wachstum des sowjetischen Pipeline-Netzes ließ das Pendel in Washington wieder in Richtung Sicherheit ausschlagen. So bewirkten die USA 1962 ein Verbot der Lieferung von Großröhren an den Ostblock. Auch laufende Verträge sollten nicht mehr bedient werden. In der Wirtschaft war die Empörung groß: „Pacta sunt servanda“ lautet das Ehrenwort des Unternehmers, Verträge müssen eingehalten werden. Nur mit Mühe und parlamentarischen Tricks gelang es Adenauer, der amerikanischen Vorgabe zu folgen. Infolge des Röhrenembargos brach der deutsche Handelsumsatz mit der UdSSR erstmals in der Nachkriegszeit ein (um etwa 20 Prozent) und stagnierte auch in den Folgejahren. Die westeuropäischen Verbündeten waren aber weniger gehorsam als die Deutschen. Innerhalb weniger Jahre besaß die UdSSR daher trotzdem eine Pipeline nach Westen („Druschba“) und hatte zudem eine solide eigene Produktion von Großröhren aufgebaut. Die westliche Sanktionspolitik war also weitgehend erfolglos.

Die Emanzipation des Osthandels und ihr vorläufiges Ende Willy Brandt setzte zuerst als Außenminister, dann als Kanzler die Loslösung der Ostpolitik von den Sicherheitsinteressen der USA durch. Für den Ost-Handel bedeutete das, dass er nicht mehr in erster Linie als Instrument der Politik gesehen wurde. Dieser neue Stil schlug sich in mehreren internationalen Verträgen nieder: Dem historischen Gewaltverzichtsvertrag 1970 folgte zwei Jahre später endlich ein neues Handelsabkommen. Jetzt konnte auch das Röhren-fürRohstoffe-Geschäft aufgenommen werden, das zehn Jahre zuvor vom US-Embargo verhindert worden war. Diesmal wollte die UdSSR allerdings mit Erdgas bezahlen. Der Beginn der Gasimporte ab 1973 leitete eine neue Ära der deutsch-russischen Beziehungen ein, die bis heute anhält: die Energiepartnerschaft mit Russland. Das gesamte Handelsvolumen explodierte von etwa 800 Millionen Dollar im Jahr 1971 auf sechs Milliarden zum Ende des Jahrzehnts, das in Europa als Periode der Entspannung empfunden wurde. Doch die sowjetische Invasion in Afghanistan, die Verlegung moderner US-Atomraketen nach Westeuropa und Ronald Reagans US-Prä-

sidentschaft trübten das Ost-WestKlima wieder deutlich ein. Diese neue Konfrontation mündete abermals in Sanktionen vonseiten der USA. Anders als in den beiden Jahrzehnten zuvor ließ sich die BRD unter Brandts Nachfolger Helmut Schmidt aber nicht mehr ausbremsen: Zwar folgte man dem Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau, das bisher größte Gasgeschäft mit der UdSSR über Mannesmann, Ruhrgas und die Deutsche Bank wollte man trotzdem nicht aufgegeben. Und Schmidts konservativer Nachfolger Helmut Kohl hielt an dem Projekt fest: Die Pipeline „Jamburg“ nahm nach Verzögerungen 1989 ihren Betrieb auf. Schließlich war es die russische Seite, die für Entspannung sorgte. Michail Gorbatschows Reformprojekt der „Perestrojka“ räumte letztlich – sicher unabsichtlich – das größte Hindernis für das deutsche Russlandgeschäft aus dem Weg: den kommunistischen Einparteienstaat. Nach dem Zerfall der UdSSR brach der gegenseitige Handel nach stetigem Wachstum in den 1980er-Jahren zwar wieder ein, stieg aber bis 2012 auf das bisherige Allzeithoch von 80 Milliarden Euro.

Die Ukraine-Krise hat diese Entwicklung vorerst gestoppt und zu einer neuen Eiszeit zwischen Moskau und dem Westen geführt, einschließlich gegenseitiger Aus- und Einfuhrverbote. Nicht nur brechen die deutschen Exporte ein, auch

DEUTSCHLAND

Der sowjetische Außenhandelsminister Nikolai Patolitschew (l.) und Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (r.) nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Handelsabkommens am 1. Februar 1970 in Essen.

die Wirtschaft sieht sich politischen Zwängen ausgesetzt, bis hin zu Vorwürfen, mit ihrem RusslandEngagement die Sicherheit Europas zu gefährden.

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70 JAHRE KRIEGSENDE

Wiedergutmachung

Wirtschaft

Die SBZ/DDR erbrachte die höchsten im 20. Jahrhundert bekannt gewordenen Reparationsleistungen. In der SBZ und in Ost-Berlin demontierte die sowjetische Besatzungsmacht mindestens 2 000 bis 4 000 Betriebe, mehr als die Hälfte davon vollständig. Als die Demontagen 1948 endeten, betrug die Gesamtkapazität der Industrie der SBZ nur noch schätzungsweise 50 bis 70 Prozent des Standes von 1936. Die Transportleistungen schrumpften um fast die Hälfte.

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DEMONTAGE UND REPARATIONEN DER ZWEITE WELTKRIEG HAT RUSSLANDS WIRTSCHAFT DURCH DIE VERLAGERUNG DER INDUSTRIE ZU BEGINN UND SPÄTER DURCH DIE VERSUCHTE WIEDERGUTMACHUNG MITHILFE VON DEMONTAGEN LANGFRISTIG GEPRÄGT.

MICHAIL BOLOTIN FÜR RBTH

Eigentlich dürfte es diesen Koloss aus Sowjetzeiten hier in Irbit, einer 40 000-Einwohner-Stadt hinter dem Uralgebirge gar nicht geben. Doch das riesige, fast 70 Fußballfelder große Werksgelände der Motorradfabrik IMZ trotzt tapfer dem Zahn der Zeit. Einst arbeiteten hier 10 000 Menschen. Die ganze Stadt lebte von der Massenproduktion der Ural-Motorräder. Heute arbeiten gerade knapp über 100 Menschen in der Fabrik und müssen sich das graue Backsteingebäude mit Geschäften, Büros und sogar einem kleinen Indoor-Vergnügungspark teilen. „Unser einziger Standortvorteil ist, dass hier keine deutschen Bomber herkommen“, scherzt Ilja Khait. Was heute wie ein bitterer Witz klingt, hatte vor siebzig Jahren tatsächlich Sinn. Denn ohne die Deutschen hätte es die Fabrik gar nicht gegeben. Ende der 1930erJahre mangelte es der sowjetischen Armee akut an motorisierten Fortbewegungsmitteln, und Motorräder waren bei Armeen in ganz Europa im Kommen. Vor allem die Zweiräder von BMW galten als Maß der Dinge. Die sowjetische Wirtschaft kannte damals nur ein Ziel: möglichst schnelle Industrialisierung. Für eigene Entwicklungen blieb keine Zeit und so kaufte die sowjetische Handelsvertretung fünf BMW-M71Anzeige

Maschinen, um diese auseinanderzunehmen und nachzubauen. Die Produktion lief im Frühjahr 1941 in Moskau an, doch schon bald mussten die nagelneuen Sowjetmaschinen gegen ihre technischen Spender aus Deutschland an der Front antreten. Und während die Wehrmacht mit SiebenMeilen-Schritten auf Moskau zumarschierte, versuchten die sowjetischen Planer, ihre Industrie vor dem Feind zu retten. Bereits im Oktober startete die Evakuierung der Fabrik samt Anlagen, Unterlagen und Personal nach Irbit hin-

Nach Beginn des Krieges mit Deutschland verlagerte die UdSSR ganze Branchen tief ins sichere Hinterland. ter dem Ural. Auch eine BMW-M71 reiste als Muster Richtung Osten. Das neue Werk produzierte in den Kriegsjahren 10 000 Motorräder, später erreichten die Stückzahlen Hunderttausende.

Tausende Betriebe evakuiert Der überdimensionierte Betrieb in der Kleinstadt Irbit ist nur eines von Hunderten Zeugnissen, wie der Zweite Weltkrieg unmittelbar das Wirtschaftssystem des ganzen Landes veränderte. Denn viele Industriezentren Russlands lagen im Westen, konzentriert auf die alten Großstädte Moskau, Sankt Petersburg und Kiew oder auch in der Ostukraine. Bereits zwei Tage nach Kriegsbeginn tagte zum ersten Mal der Evakuierungsrat, dessen Aufgabe darin bestand, nicht nur die

Bevölkerung in Sicherheit zu bringen, sondern insbesondere die Wehrfähigkeit des Landes aufrechtzuerhalten. Es lief wohl eine der größten logistischen Operationen in der Wirtschaftsgeschichte an. „Die Evakuierung der sowjetischen Industrie kennt keine vergleichbaren Beispiele“, meint der Historiker Arsenij Ermolow von der Moskauer Higher School of Economics. Insgesamt wurden verschiedenen Angaben zufolge etwa 2 500 Betriebe fast vollständig abgebaut und in anderen Landesteilen wieder aufgebaut. So wurden etwa eine Moskauer Flugzeugfabrik nach Irkutsk, in der Nähe des Baikalsees, versetzt. Panzerwerke aus Leningrad und Charkow wurden in Nischni Tagil wieder aufgebaut, wo noch heute Russlands größter Panzerbauer UVZ seinen Sitz hat. Allein an die 60 Großbetriebe aus Zentralrussland und der Ukraine fanden in Jekaterinburg ihre zweite Heimat und machen die Stadt heute zum wichtigsten Standort für Russlands Maschinenbau. So basiert etwa Russlands größter Ausrüster für die Öl- und Gasverarbeitung Uralchimmash auf dem Kiewer Werk „Bolschewik“. Auch die russische Aluminiumbranche, heute einer der führenden Exportzweige des Landes, wurde 1941 vollständig aus dem Nordwesten des Landes in die sibirischen Städte Nowokuznetsk und Bogoslowsk verlegt. „In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde dieser Kraftakt mit großem Stolz präsentiert“, berichtet Historiker Ermolow. Dabei lief natürlich längst nicht alles glatt. Eilig mussten Großan-

Für die Ural-Motorräder dienten deutsche BWM-Maschinen (Ausschnitt) aus der Zeit vor dem Krieg als technische Urväter. LORI/LEGION MEDIA

Der Krieg hat auch wirtschaftlich tiefe Narben in Russland hinterlassen. Riesige Fabriken hinter dem Ural und sowjetische Technik mit deutscher DNA sind die stummen Zeugen dieser Zeit.

© RIA NOVOSTI

DEUTSCHES ERBE FÜR RUSSLANDS WIRTSCHAFT

lagen abmontiert und transportiert werden. Allein das 1 250 Millimeter-Walzwerk aus einer Stahlhütte in Mariupol benötigte zum Transport etwa 800 Waggons. Teile der Ausrüstungen gingen verloren. Auf dem Weg zwischen Charkow und Nischni Tagil kamen so etwa 300 Waggons mit Maschinen abhanden. Viel schwerwiegender war jedoch der Personalmangel infolge der Umzüge. „Es ist allerdings grundsätzlich sehr schwer, einen Maßstab für Erfolg oder Misserfolg einer solchen Operation anzulegen, weil Industriezentren über Jahre wachsen und nicht für eine Verlegung gedacht sind“,

bemerkt Ermolow. Unstrittig ist jedoch, dass der Umbau der sowjetischen Wirtschaft eine der Voraussetzungen für den Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland gewesen ist.

Russische Industrie mit deutschen Wurzeln Deutlich umstrittener ist dagegen eine zweite Welle der Industrieverlagerung, und zwar die Verlegung von Industriebetrieben aus dem besetzten Deutschland. Zwischen 2 000 und 3 000 Betrieben, vor allem aus der sowjetischen Besatzungszone, aber auch aus dem künftigen Westdeutschland wur-

70 JAHRE KRIEGSENDE

Sowjetische AG (SAG) Eine zentrale Rolle in der Reparationsproduktion spielten die SAG. Formal lehnten sich diese an das deutsche Aktienrecht an, produzierten jedoch Waren für die Sowjetunion. Sie waren fest in sowjetischer Hand und in die sowjetische Volkswirtschaft eingebunden. Zugleich kontrollierte die Sowjetunion mit den SAG die Schlüsselbereiche der SBZ/ DDR-Wirtschaft. Als Beispiel gilt der Uranbergbau der Wismut AG in Sachsen und Thüringen, deren Produktion für die Sowjetunion bei der Absicherung ihrer Atomrüstung höchste strategische Priorität besaß.

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Wirtschaft RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

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Zahlreiche optische Geräte und Fotoapparate basierten auf Entwicklungen der deutschen Firma Carl Zeiss, deren Anlagen größtenteils demontiert und in die UdSSR verfrachtet wurden.

F AKTEN ÜBER DIE WIRTSCHAFT IM WELTKRIEG



Um die eigene Industrie vor den heranrückenden deutschen Streitkräften zu retten, ließ die sowjetische Führung Tausende Betriebe in Einzelteile zerlegen und mit der Eisenbahn an neue Standorte, meist hinter dem Ural, verfrachten, wo sie wiederaufgebaut wurden. Experten gehen davon aus, dass dies im großen Maße dazu beigetragen hat, das wirtschaftliche Kriegspotenzial der Sowjets trotz empfindlicher Gebietsverluste zu erhalten.



Ausgehend von ihren positiven Erfahrungen mit der eigenen Industrie hielten die Sowjets eine reibungslose Demontage und den Wiederaufbau deutscher Industriebetriebe in der Sojewtunion für möglich. Doch fast ausnahmslos blieb die Produktion an neuer Stelle hinter den anfänglichen Erwartungen zurück.

Der Opel Kadett (rechts) diente als Prototyp des Moskwitsch 400 (unten), dessen Produktion nach dem Krieg begann. Bis zur LadaÄra war Moskwitsch der größte PKW-Hersteller der UdSSR.

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Nach dem Krieg wurden zahlreiche Spezialisten aus Deutschland in die Sowjetunion umgesiedelt, darunter Mitarbeiter der Raketen- und Luftfahrtindustrie, aber auch Optikspezialisten, Ingenieure und andere Experten und Forscher. Die genaue Anzahl ist nicht bekannt, wird aber auf mehrere Tausend geschätzt.

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WIKIPEDIA.ORG (3)

den nach dem Sieg der Alliierten 1945 teilweise oder komplett abmontiert und in die Sowjetunion verfrachtet. Was davon in der UdSSR angekommen ist, lässt sich heute in vielen Fällen nicht mehr mit Sicherheit sagen. Matthias Uhl, Wissenschaftler am Deutschen Historischen Institut in Moskau, hat am Beispiel der Optikbetriebe von Carl Zeiss im thüringischen Jena die sowjetischen Demontagen untersucht. Sein Ergebnis: „Der eigentliche Transport in die Sowjetunion verlief relativ reibungslos. Viel problematischer war der Wiederaufbau der Betriebe in der UdSSR“,

so der Experte. Oftmals seien Zuliefererketten deutscher Werke zerstört worden, Folgeinvestitionen an neuen Standorten in Fabrikhallen und Infrastruktur seien ausgeblieben. Im Falle von Carl Zeiss sei vor allem auch die Zersplitterung des Betriebs einer der Gründe dafür gewesen, warum das gesetzte Ziel, die sowjetische Optikproduktion mithilfe der demontierten Anlagen zu verdoppeln, gescheitert ist. „Die Sowjets haben zu sehr auf ihre Erfolge bei der Verlagerung der eigenen Industrie zu Beginn des Krieges vertraut und wichtige Standortfaktoren nicht berück-

27 MIO. Menschen kamen während des Zweiten Weltkrieges ums Leben. Mehr Opfer trug kein anderes Land mehr.

sichtigt“, sagt Uhl. Bester Beweis dafür sei der rasche Wiederaufbau von Carl Zeiss am alten Standort in Jena.

Zwiespältiges Erbe Doch auch wenn der Effekt der Demontage geringer als gedacht ausfiel, Fakt ist, dass ganze Industriezweige Nutznießer von deutschen Maschinen und Anlagen waren. So wurde nicht nur Deutschlands modernste Stahlhütte aus Essen-Borbeck, einst Teil des KruppImperiums, abmontiert. Ganze Branchen in der Sowjetunion profitierten von den neuen technischen Möglichkeiten. Mithilfe deutscher

50 % der Menschen, die sich freiwillig zur Front meldeten, waren Frauen.

Zeichnungen und der demontierten Ausrüstung in Rüsselsheim und anderen deutschen Betrieben startete die Produktion des berühmten Moskwitsch 400, eine Kopie des Opel Kadett aus der Zeit vor dem Krieg. Auch ein Großteil der sowjetischen Fototechnik der Nachkriegszeit basierte unter anderem auf deutschen Entwicklungen. Noch heute zählen die Profiteure der Zeiss-Demontagen, das Petersburger Lomo-Werk, KMZ in Kranogorsk und die Teleskopbauer in Lytkarino zu den wichtigsten und größten Optikbetrieben Russlands. Auch für Ilja Khaits Motorrad-

250.000 Reichsmark Kopfgeld lobte Hitler auf den Nachrichtensprecher Juri Levitan aus, der die Frontberichte verlas.

MEHR PERSÖNLICHE GESCHICHTEN, UNBEKANNTE FAKTEN UND EXPERTENMEINUNGEN ÜBER DEN KRIEG FINDEN SIE IN UNSERER SONDERRUBRIK D E . R BTH .CO M/ 70_ JA H R E _ K R I E G S E N D E

Ein Teil der sowjetischen Nachkriegstechnik basierte auf deutschen Entwicklungen, die nach dem Krieg in die Hände der Sowjets fielen und deren Produktion später in der UdSSR anlief. Darunter fielen Fotoapparate, Mikroskope, Autos und Raketen.

schmiede am Ural erweist sich das Erbe des Krieges heute als Fluch und Segen zugleich. Weit mehr als 90 Prozent seiner in Handarbeit gebauten Motorräder verkauft er in den USA und in Europa. Auch wenn die neuen Urals äußerlich noch immer an die Urväter aus den 40er-Jahren erinnern, stecken doch im Innern Teile ausländischer Zulieferer. „Die Logistik ist ein Alptraum“, klagt der Chef. „Andererseits, wäre die Lage besser, hätten die Vorbesitzer die Hallen wahrscheinlich einfach als Lager vermietet und niemand hätte sich die Mühe gemacht, die Produktion zu retten.“

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Schlussakte von Helsinki: Von der Konfrontation zur Zusammenarbeit

Meinung

Auf Initiative der Warschauer Vertragsorganisation fand am 3. Juli 1973 in Helsinki die erste „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) statt. Nach zweijährigen Verhandlungen einigten sich die Unterzeichnerstaaten am 1. August 1975 auf die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen, eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, einen Verzicht auf Gewaltanwendung, die Gleichberechtigung und die Selbstbestimmung der Völker sowie Achtung der Menschenrechte.

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WIE GEHT ES WEITER IN EUROPA? RUSSLAND ZWEITE GLAUBT AN CHANCE FÜR JALTA HELSINKI Fjodor Lukjanow POLITOLOGE

W

ährend des Kalten Kriegs bildete das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs eine Ausnahme von der allgegenwärtigen Konfrontationslogik. Auch bei noch so heftigen laufenden Auseinandersetzungen war es für die größten Gegner, die USA und die Sowjetunion, ein Muss, wenigstens einmal im Jahr auf die Fähigkeit zu einem Bündnis für den gemeinsamen Kampf gegen das Böse zu verweisen. Jetzt ist alles anders. Jedes weitere Jubiläum dient zum Anlass für schärfere Polemik. Der Streit um die Auslegung des Krieges in seinem Kern wird zu einem Mittel politischer Selbstidentifikation. Als ein zentraler Gast bei den Feierlichkeiten am 9. Mai in Moskau wird der Staatspräsident der Volksrepublik China, Xi Jinping, erwartet. Ein aussagekräftigeres Symbol für die Wende Russlands gen Asien – auch hinsichtlich geschichtlicher Auffassungen – ist kaum vorstellbar. Die heutige Situation hängt selbstverständlich mit der Ukraine-Krise zusammen, mit diametral entgegengesetzten Auffassungen dessen, was dort passiert. Doch das Problem sitzt tiefer. Die Kriegsdebatte, die vor siebzig Jahren anfing, ist ein Spiegel dafür, dass ein allgemeingültiges Weltbild (und damit einhergehend eine stabile Weltordnung) fehlt. Der lauteste Vorwurf heute ist der des Revisionismus. Unklar bleibt jedoch, was eigentlich revidiert wird. Eine Weltordnung im klassischen Sinn entstand das letzte Mal 1945 als Ergebnis des Krieges. So war es immer in der Geschichte. Ein großes Kräftemessen errichtet eine Hierarchie, und diejenigen, die sich an ihrer Spitze wiederfinden, stellen Verhaltensregeln für alle auf. Die führenden Weltinstitutionen, allen voran die Vereinten Nationen, sind in dieser Zeit entstanden und ihre Funktionsweise hat sich seitdem nicht geändert. Dafür änderte sich alles andere und die tatsächlichen Kräfteverhältnisse von heute weisen

mit denen aus der Zeit der UN-Gründung nur noch entfernte Gemeinsamkeiten auf. Dennoch hat die UN dazu beigetragen, dass keine neuen großen Kriege ausgebrochen sind. Dementsprechend bilden die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs weiterhin eine Grundlage nicht nur in der Frage, wer gewonnen und wer verloren hat, sondern auch für moralische Bewertungen. Im Westen wird das Verhalten Moskaus während der Ukraine-Krise als provokant und revisionistisch aufgefasst, weil es die Normen missachte, die sich im Europa der Nachkriegszeit etabliert hätten – darunter die Unveränderlichkeit der Grenzen. Dabei lehnt der Westen eine Schlüsselbedingung ab, die die europäische Nachkriegsordnung bestimmt: fixierte Einflusssphären und territoriale Aufteilungen zwischen den Siegermächten. Darauf basierte das System von Jalta und Potsdam, ein Kind des Zweiten Weltkriegs, das seine Vollendung in den Helsinki-Abkommen fand. Diese deklarierten einen edlen Verhaltenskodex und waren dabei ein Arrangement über die Nichteinmischung zweier Blöcke in die Angelegenheiten des Anderen. Die Blöcke — oder besser gesagt der Block — gingen zu Ende und mit ihnen auch die festgefügten Vereinbarungen. Für Russland aber ist die Respektierung von Interessenssphären die Stabilitätsgrundlage, die dafür sorgte, dass der Kalte Krieg nie in die heiße Phase eintrat. Die Weigerung, in solchen Kategorien zu denken, hält Moskau für die gefährlichste Erscheinungsform des Revisionismus. Und der Westen lehnt die Idee von Einflusssphären wütend ab. Mit anderen Worten, die vereinbarte Weltordnung ging 1991 zu Ende, als eine ihrer beiden Stützen verschwand. Seitdem geht das Treiben über die stürmische See ohne klare Orientierung weiter und bringt immer weitere neue Interpretationen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hervor. Fjodor Lukjanow ist Präsidiumsvorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik und Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in Foreign Affairs“.

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Stefan Meister POLITOLOGE

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eutsche und Russen verbindet eine lange Geschichte, im Guten wie im Schlechten. Die enge Verbindung deutscher Herrscherhäuser mit dem Zarengeschlecht, die Bedeutung von Deutschen in der russischen Wirtschaft, Verwaltung und im Militär waren prägend über Jahrhunderte. Der Zweite Weltkrieg ist der Tiefpunkt in den Beziehungen, verbunden mit einem enormen Blutzoll, den die Russen innerhalb der Sowjetarmee im Kampf gegen den Nazismus leisten mussten. All das haben Deutsche und Russen überwunden und trotzdem scheint die Versöhnung nicht zu einem besseren Verständnis geführt zu haben. Das Ende des Zweiten Weltkriegs sollte vor allem Anlass dazu geben, über die Nachkriegsordnung und den heutigen Zustand in den deutsch-russischen Beziehungen zu diskutieren. Die Nachkriegsordnung war geprägt von Jalta und der Neuverteilung Europas in Einflusszonen. Europas Osten verschwand hinter dem Eisernen Vorhang und tauchte 1989 wieder auf, was durch die Dissidentenbewegungen in Ostmitteleuropa, aber auch durch Perestroika und Glasnost unter Michael Gorbatschow möglich wurde. Es war vor allem die Schlussakte von Helsinki 1975, die aus deutscher Sicht ein anderes Paradigma setzte, einen Dialog mit der Sowjetunion und den Gesellschaften im Ostblock ermöglichte und damit zum Ende der Konfrontation beitrug. Das im Rahmen der KSZE-Konferenz 1994 in Budapest unterschriebene Memorandum verpflichtete Russland, die USA und Großbritannien, gegenüber Kasachstan, Belarus und der Ukraine als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht dazu, die Souveränität und bestehenden Grenzen dieser Länder zu garantieren. Wie wir mit der Annexion der Krim durch Russland und die Destabilisierungspolitik in Teilen der Ostukraine wissen, gilt dieses Abkommen für Moskau nicht mehr. Russland möchte nach mehreren EU- und Nato-Erweiterungen das Verhältnis zum „Westen“ neu verhandeln und

akzeptiert die nach dem Ende des Ost-WestKonflikts entstandene Ordnung nicht mehr. Gleichzeitig ist die Auseinandersetzung um die Ukraine zu einem Realitätscheck für die deutsch-russischen Beziehungen geworden. Eines der gravierendsten Ergebnisse dieses Konflikts ist eine tiefe Vertrauenskrise im bilateralen Verhältnis. Die Missverständnisse und Fehlperzeptionen auf beiden Seiten sind erschreckend 25 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Aus deutscher Perspektive wird deutlich, dass die Annahme, Russland könnte so werden wie wir, nicht der Realität entspricht. Die Modernisierungspartnerschaft ist gescheitert, Deutschland braucht eine neue Russland-Politik. Für Deutschland (und Europa) und Russland stellt sich die Frage: Wie kann diese Krise entschärft werden und nach welchen Prinzipien soll diese neue Ordnung ausgehandelt werden? Jalta, wie es die russische Seite fordert, also die erneute Einteilung von Einflusssphären, oder Helsinki, wie es von der deutschen Seite bevorzugt wird, auf Basis von kollektiver Sicherheit, wo die Länder zwischen der EU und Russland das Recht haben, über das künftige Verhältnis gleichberechtigt zu entscheiden. Beide Seiten sollte die Ukraine gelehrt haben: Die Gesellschaft wird weder einen korrupten Präsidenten akzeptieren noch eine Entscheidung über ihre Zukunft, ohne darauf Einfluss nehmen zu können. Damit wird deutlich, dass der Geist von Jalta nicht wiederzubeleben ist, die bipolare Welt ist von einer enormen Komplexität in den internationalen Beziehungen abgelöst worden, in der auch die USA ihre Grenzen erkennen müssen. Deutsche und Russen sollten den OSZE-Vorsitz Deutschlands 2016 nutzen, um mit den betroffenen Ländern wieder an allen Körben von Helsinki zu arbeiten. Dazu zählen auch Zusammenarbeit in Wirtschaft, Sicherheit und gesellschaftlichen Fragen zwischen Deutschland und Russland. Dr. Stefan Meister ist Programmleiter für Osteuropa, Russland und Zentralasien am Robert Bosch-Zentrum für Mittelund Osteuropa.

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Lend-Lease Act: US-Militärhilfe für sowjetische Armee

Zeitgeschichte RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

PRESSEBILD

Während des Zweiten Weltkriegs lieferten die USA im Rahmen des Leih- und Pachtgesetzes Kriegsmaterial an die Sowjetunion, darunter 14 833 Flugzeuge und 12 571 Panzerfahrzeuge sowie über 400 000 Lkw und Geländewagen. Während die UdSSR meist Kopien ziviler US-Lkw aus den 30er-Jahren produzierte, waren die Lend-LeaseLieferungen moderne militärische Entwürfe mit zweckmäßiger Geländegängigkeit. Im Zuge des Kalten Krieges wurde dieser Aspekt der Zusammenarbeit verdrängt.

Die Jalta-Konferenz Der Kampf um Einflusssphären in Europa 70 Jahre später

Der müde Geist von Jalta Churchill, Roosevelt und Stalin in Jalta wenige Monate vor Kriegsende (v.l.n.r.)

TASS

In Jalta begann die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute wird Russland vorgeworfen, die damaligen Fehler zu wiederholen. ALEXEJ TIMOFEJTSCHEW RBTH

Während sich die sowjetischen Truppen im Februar 1945 an der Oder in Stellung brachten und die Amerikaner zur Befreiung des Rheinlandes ansetzten, rollten Züge voller Luxusgüter in Richtung Krim. Edles Tischgedeck, Möbel, Teppiche und feinste Delikatessen wurden nach Jalta, einem Badeort an der Schwarzmeerküste der Halbinsel, gebracht. Dort beabsichtigten die absehbaren Siegermächte USA, Großbritannien und die UdSSR, bereits vorab über die Zukunft Europas und der Welt zu verhandeln. Den hohen Gästen sollte es an nichts mangeln. Drei prachtvolle Paläste ließ Stalin eigens für den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und den britischen Premierminister Winston Churchill herrichten. Die Treffen in Jalta und ein halbes Jahr später in Potsdam markieren den Höhepunkt der Eintracht in der Anti-Hitler-Koalition. Das Ziel: Europa sollte endlich eine stabile Ordnung erhalten. Doch schon bald folgte der Kalte Krieg und mit ihm eine jahrzehntelange Teilung Europas in Ost und We s t , d ie bi s z u m Zu s a mmenbruch des Ostblocks andauerte. Angesichts dessen zweifeln heutige Geschichtswissenschaftler an der Einheit der damaligen Alliier-

SERGEJ MICHEJEW

ten. War die Aussicht auf eine dauerhafte Einigung viel-leicht damals schon illusorisch?

Der Wille zur Einigung Nach Ansicht russischer Historiker sollte man die Suche nach einem Kompromiss zwischen den Siegermächten Anfang Februar 1945 jedenfalls nicht als bloße „Illusion“ abtun. So hätten es die Teilnehmer der Jalta-Konferenz – die Führungsspitzen der UdSSR, der USA und Großbritanniens – sicherlich nicht aufgefasst, glaubt Michail Mjagkow, wissenschaftlicher Direktor der Russischen militär-historischen Gesellschaft. „Sie (Stalin, Roosevelt und Churchill) wollten sich wirklich auf Spielregeln verständigen, darauf, wie die Welt nach dem Krieg leben sollte“, ist der Historiker überzeugt. „Ihre zentralen Aufgaben bestanden darin, die Möglichkeit einer zukünftigen Vorherrschaft Deutschlands in Europa auszuschließen, der erneuten Entstehung von Nationalsozialismus vorzubeugen, den Krieg zu beenden und so letztlich eine lange Friedensperiode herbeizuführen. Diese Aufgabe hat die Jalta-Konferenz größtenteils erfüllt“, resümiert Mjagkow mit Verweis auf die Einigkeit der „großen Troika“ in der Frage der Satzung der Vereinten Nationen, deren Gründung eines der wichtigsten Ergebnisse von Jalta darstellt.

Kontroversen schon in Jalta Doch die Atmosphäre war bei Weitem nicht so idyllisch, wie es die offiziellen Fotos der Staatschefs

Seite an Seite sitzend vermuten lassen. Obwohl in Jalta „einzelne Kompromisse erzielt werden konnten“, kamen dort nach Ansicht des deutschen Historikers Jost Dülffer „die Diskrepanzen deutlich zum Vorschein“ — sei es in der Frage nach der Zusammenstellung der Regierung Polens oder bei der Höhe deutscher Reparationszahlungen an die UdSSR. „Die Vo-raussetzungen für die Einigkeit zwischen den Verbündeten waren bis 1946/1947 praktisch erschöpft“, sagt der Historiker in einem Interview mit der Deutschen Welle. Seiner Ansicht nach hatte es in Jalta noch eine Chance gegeben, doch „die ideologische Konfrontation zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus führte dazu, dass die jeweiligen Seiten anfingen, sich ihre Einflusssphären nach eigenem Bilde zu schaffen“. Dabei nennt der Historiker eine weitere grundlegende Ursache für das Missverhältnis zwischen Moskau und dem Westen: „Die Sowjetunion befreite Osteuropa von Nazi-Deutschland und wollte konsequenterweise die Einhaltung ihrer Interessen auf den befreiten Gebieten durchsetzen“, erklärt Dülffer. Als sich der Westen faktisch auf eine Teilung Europas in Einflusssphären einließ, habe dieser nicht damit gerechnet, dass „die Herrschaft der UdSSR in ihrem Einflussbereich derart absolut sein wird“, ergänzt der russische Militärhistoriker Boris Sokolow. Seiner Ansicht nach liegt die Verantwortung für eine Abkehr von Jalta und das Entfachen des Kal-

ten Krieges bei Stalin. Westliche Vertreter hätten angenommen, in dessen Einflusssphäre werde „etwas nach dem Vorbild Finnlands entstehen, das sich trotz sowjetischen Einflusses die Un-abhängigkeit bewahrt hat“, sagt Sokolow.

Wiederholt der Kreml die „Fehler der Vergangenheit“? Nach Einschätzung von Michail Mjagkow wollte Stalin in Osteuropa entlang der Grenzen der UdSSR keine Quarantäne-Zone, sondern einen Sicherheitsgürtel schaffen aus Ländern, die der Sowjetunion freundlich gesinnt waren. Die Führungsverantwortlichen der UdSSR seien sich da-rüber im Klaren gewesen, dass im Falle einer zu autoritären Vorgehensweise in Osteuropa mit dem Widerstand des Westens zu rechnen sei. „Dabei verhandelte Moskau damals gerade über weitere amerikanische Hilfen für den Wiederaufbau des zerstörten Landes in der Nachkriegszeit“, bemerkt Mjagkow, dessen Ansicht nach der Westen und die Sowjetunion gleichermaßen die Verantwortung für den Beginn des Kalten Krieges tragen. Nach Ansicht von einigen Geschichtswissenschaftlern, die sich mit der Nachkriegsära befassen, können zwischen der damaligen Politik der UdSSR und der gegenwärtigen Strategie des Kremls gewisse Parallelen gezogen werden. Dülffers Einschätzung zufolge „erinnert die heutige Situation in Europa stark an die damalige Zeit. Putin setzt, seiner Politik und dem Wesen seines Vorgehens nach zu ur-

teilen, die ‚Tradition Stalins‘ fort“. So würde die Aufteilung Europas in Einflusssphären wiederhergestellt, womit nach 1989/1990 niemand mehr gerechnet hätte. Manch russischer Experte hält den heutigen Ukraine-Konflikt allerdings nicht für eine Neuauflage, sondern für eine Fortsetzung al-ter Probleme. „Auf geopolitischer Ebene war dieser Kampf um Einflusssphären, der in Jalta begann, niemals zu Ende. Mal wurde er heftiger, mal schwächer geführt“, sagt Michail Mjagkow. Der Geschichtswissenschaftler ist überzeugt, dass „wir heute den letzten Auftakt dieses Kampfes erleben, wobei die westliche Welt meint, sie hätte alle Trümpfe in der Hand — sie hatte gedacht, nach den neunziger Jahren würde Russland sich nie wieder erheben“. Weltkriegsfilme im Wandel der Zeit de.rbth.com/33391

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70 JAHRE KRIEGSENDE

Die Belagerung von Leningrad

Persönlichkeit DMITRIJ GUSARIN / TASS

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8. September 1941 27. Januar 1944 Die knapp 900 Tage dauernde Belagerung wurde für die Sowjets zum Symbol ihres verbissenen Widerstandes gegen die Nazis.

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

INTERVIEW DANIIL GRANIN

„HASS FÜHRT IN EINE SACKGASSE“ Am 27. Januar 2014 hielt Daniil Granin in Berlin eine Gedenkrede zum 70. Jahrestag des Endes der Blockade Leningrads.

DER BERÜHMTE RUSSISCHE SCHRIFTSTELLER DANIIL GRANIN ÜBER SEINEN FRIEDEN MIT DEN DEUTSCHEN UND DIE VEREINENDE KRAFT UNIVERSELLER KULTUR.

Herr Granin, als Sie im letzten Jahr die Einladung bekamen, vor dem deutschen Bundestag zu sprechen, waren Sie da sofort einverstanden oder hatten Sie Vorbehalte? Vorbehalte hatte ich keine. Das war ein verlockendes Angebot. Ich empfand eine rein menschliche Neugier. Ich erhielt einen Brief vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert – einen sehr freundlichen –, in dem ich gebeten wurde, vor dem Bundestag zu sprechen. Nicht ausschweifend und allgemein, sondern mit konkretem Bezug zur Leningrader Blockade. Ich war sehr gespannt darauf zu erfahren, warum ich ausgerechnet über dieses schmerzhafte Thema sprechen sollte.

Und haben Sie nach dem Grund gefragt? Ja, aber sie wichen der Frage aus. Dennoch glaube ich, es verstanden zu haben: Die Ursache liegt darin, dass sie es erneut mit Ansätzen von Faschismus zu tun bekommen. Jedenfalls scheint es in Deutschland im Zusammenhang mit dem Aufkommen des „Islamischen Staates“ wieder Probleme zwischen den Nationalitäten zu geben. Ich wurde eingeladen, um eine der schrecklichsten Seiten der Kriegsgeschichte mit Leben zu füllen, ganz besonders vor dem Hintergrund, dass die heutige Generation sich nur schlecht vorstellen kann, was eine Blockade ist.

Da laufen einem kalte Schauer über den Rücken, oder? Um meinen Hass gegen die Deutschen zu überwinden, habe ich viele Jahre gebraucht. Doch in Deutschland wurden nahezu alle meine Bücher veröffentlicht, es gab zahlreiche Treffen, Konferenzen – im dama-

ligen Deutschland wie im heutigen –, und ich habe dort viele Freunde gefunden. Vor langer Zeit habe ich verstanden: Erstens ist Hass ein Gefühl, das in eine Sackgasse führt. Zweitens sind auch wir nicht ganz ohne Sünde. Und es heißt ja in der Bibel: Richte nicht, auf dass auch du nicht gerichtet wirst. Als ich allerdings vor den Mitgliedern des Bundestages stand, erwischte ich mich bei dem Gedanken, dass niemand von ihnen an der Front gewesen war, sie alle waren Kinder und Enkel von Frontsoldaten. Und ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch in Deutschland, das war 1955. Ich ging durch die Straßen von Berlin, sah Menschen meines Alters und älter und dachte: „Mein Gott, hier treffen sich doch all jene, die vorbeigeschossen haben.“ Der legendäre sowjetische Pilot Witalij Popkow erzählte, wie er sich nach dem Krieg recht friedlich mit den Flieger-Assen der Luftwaffe traf. Einem von ihnen schenkte er ein Buch mit

BIOGRAFIE BERUF: AUTOR ALTER: 96

Geboren 1919 in einem Dorf bei Kursk (500 Kilometer südlich von Moskau), absolvierte er 1940 die Polytechnische Universität in Leningrad. Kämpfte ab 1941 an der Front um die belagerte Stadt. Seit 1950 ist Daniil Granin als Schriftsteller tätig. Eines seiner wichtigsten Werke ist „Das Blockadebuch“, eine Chronik der dreijährigen Belagerung des heutigen Sankt Petersburgs. EASTNEWS

Ein Jahr ist es her, seit Daniil Granin, russischer Schriftsteller und Frontsoldat im Zweiten Weltkrieg, vor dem deutschen Bundestag sprach. Er erklärte, was die Leningrader Blockade aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges für die russische Geschichte und die Geschichte der Welt bedeutet hat. In den ersten Reihen saßen unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck. Ob sie ihm damals wirklich zugehört haben? Stehen sich die beiden Länder nicht bereits wieder auf verschiedenen Seiten gegenüber, wenn auch nicht so wie vor mehr als siebzig Jahren? Wir sprachen mit dem 96-jährigen Daniil Granin, einem der ältesten russischen Schriftsteller, der sich im Interview als spitzfindiger Beobachter und aufrichtiger Optimist offenbart.

Ein Auftritt in, sagen wir, einer Universität wäre eine Sache. Eine ganz andere ist eine Rede vor dem Bundestag. Im gewissen Sinne ist dies ein sakraler Ort. In der Tat war die Empfi ndung merkwürdig und durchaus vielschichtig: ich allein, vor mir ganz Deutschland. Ja richtig, nicht der Bundestag, sondern eben Deutschland. Ich aus dem Leningrad, das einst Hitler vernichten wollte.

SERGEJ LARENKOW

der Widmung „Einem ehemaligen Feind, einem wirklichen Freund“ … Ja, das hat es gegeben. Ich selbst beispielsweise habe einen Piloten kennengelernt, der an der Leningrader Front gekämpft hatte. Später war er mit seinem Sohn bei mir zu Gast. Er war neugierig – er hatte die Stadt bombardiert, sie aber nie wirklich besucht. Ich führte ihn durch Leningrad und er hielt nach den Zielen Ausschau, die man ihm befohlen hatte zu zerstören, beispielsweise das Smolny-Institut. Natürlich war seine Reaktion nach unseren Ausflügen eindeutig: „Was für ein Glück, dass wir diese schöne Stadt nicht zerbombt haben!“ Herr Granin, was glauben Sie, warum hat Hitler Leningrad im September 1941 nicht eingenommen, obwohl die Stadt einer deutschen Offensive praktisch frei zugänglich gewesen war? Ich konnte das mit eigenen Augen sehen, als ich mit meinen Kameraden die besetzte Stadt Puschkin verließ. Für Hitler war es prioritär, Leningrad einzunehmen. Er glaubte, Russland würde kapitulieren, wenn diese Stadt fällt. Daher galt Leningrad eine besondere Aufmerksamkeit. Warum also hat Hitler die Stadt dennoch nicht eingenommen? Eine klare Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Eine der diskutierten Hypothesen ist: Hitler hätte verstanden, dass die Stadt nicht zu vernichten sei. Sie sei viel zu groß gewesen und Panzer hätten auf ihren Straßen nicht manövrieren können. Aber ob das wirklich der Grund für die Unentschlossenheit des Führers war? Unentschlossen war er auf jeden Fall, einige Male war Hitler hier, zögerte, versprach seinen Generälen, die Stadt einzunehmen, „in einer Woche unbedingt“. Dennoch hat er den Angriff nicht befohlen. Ich glaube, es war so: Alle Städte Europas kapitulierten vor der Wehrmacht. Hitler wähnte sich unbesiegbar: Wenn seine Armee an die Stadtgrenzen tritt, gibt die Stadt sofort auf. So hat er auch von Leningrad erwartet, dass es die weiße Flagge hisst ... Ich habe gekämpft, lebte mein ganzes Leben lang mit dem Gefühl, Sieger zu sein, und muss das jetzt jemandem erklären. Dabei habe ich das Recht, dort erhobenen Hauptes zu gehen, und muss mich nicht rechtfertigen … Als Sie in die Gesichter der deutschen Abgeordneten blickten, glaubten Sie, dass Ihre Erzählung wirklich angekommen ist? Das würde ich mir wünschen. Jedenfalls war ich von ihrem guten Willen, und zwar von einem aufrichtigen, gerührt. Danach bekam ich einen sehr aufgeschlossenen Brief von Frau Merkel. Überhaupt hat sie bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen – eine sehr sympathische Frau, auf eine Weise sogar vertraut. Heute wäre ein Treffen mit Ihnen im Bundestag kaum möglich.

450 Gramm Brot täglich erhielt ein Arbeiter zu Beginn der Blockade für seine Lebensmittelkarte, zwei Monate später nur noch die Hälfte. Dem täglichen Überlebenskampf fielen bis Ende Januar 1944 zwischen 800 000 und 1 000 000 Einwohner zum Opfer. Erst mit der Winteroffensive von 1943/44 gelang es der Roten Armee, die Belagerung des zur „Heldenstadt“ erklärten Leningrad zu beenden.

Wendet sich Europa von Russland ab? Man hat uns schon immer gefürchtet und daher gehasst. Das ist aber auch verständlich. Die Länder Europas lebten und entwickelten sich in einer gegenseitigen Wechselwirkung. Wir Russen hingegen lebten immer ein auf uns selbst bezogenes Leben, die Ausreise aus dem zaristischen Russland war ein großes Problem (bis zur Zeit Peters I. um 1700 gingen die Russen selten auf Reisen, Ende des 18. Jahrhunderts untersagte zeitweise Pawel I. aus Angst vor den Ideen der Französischen Revolution Auslandsreisen, in der Zeit von Nikolaj I. kam ein Auslandsaufenthalt von mehr als fünf Jahren einem Hochverrat gleich – Anm. der Red.). Dennoch kann ich mir Europa ohne Russland nicht vorstellen. Ob es Europa gefällt oder nicht, alle bedeutenden Ereignisse im europäischen Leben der letzten Zeit waren mit Russland verbunden. Ich würde aber gerne noch etwas anderes sagen. Ungeachtet dieses aktuell zugespitzt-feindseligen Umgangs mit uns lebt Russland gemeinsam mit der Welt weiter. Im Fernsehen sehen wir USamerikanische Filme, wir besuchen Ausstellungen europäischer Künstler, lesen Bücher ausländischer Autoren. Wir mögen von den anderen verlacht, verurteilt, vielleicht sogar verdammt werden, doch das betrifft nicht die Kunst. Sie ist universell. Bach ist nicht nur ein deutscher Komponist, so wie Dostojewski nicht nur ein russischer Schriftsteller ist. Vor den Künstlern sind die Türen nicht verschlossen. Ich beispielsweise bleibe weiterhin Mitglied der Deutschen Akademie der Künste und bekam erst vor Kurzem wieder eine Einladung, in Deutschland den Roman „Mein Leutnant“ vorzustellen. Sie haben selbst angemerkt, dass auch wir nicht ganz ohne Sünde sind. So wie man den Deutschen den Faschismus vorhält — ungeachtet all ihrer Reue —, so halten wir uns den Stalinismus vor. Um den Stalinismus abzuschütteln, war es notwendig, die Archive zu öffnen. Chruschtschow hat zweifelsohne heldenhaft gehandelt, als er den Mut für seinen antistalinistischen Vortrag auf dem XX. Parteitag aufbrachte. Doch notwendig war vor allem eine Analyse: Wie konnte sich ein Personenkult in einer derart entstellten Form wie in Deutschland überhaupt entwickeln? Obwohl man eines dazusagen muss: Es gibt doch einen Unterschied zwischen der Rassenhasstheorie Hitlers und der kommunistischen Ideologie: Letztere hat an sich nichts Verbrecherisches. Sie enthält, ganz im Gegenteil, einen Traum von Gerechtigkeit. Das Gespräch führte Jelena Bobrowa. Die vollständige Version des Interviews erschien zuerst in russischer Sprache in der Tageszeitung „Rossijskaja Gaseta“.

70 JAHRE KRIEGSENDE

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Persönlichkeit RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau de.rbth.com

IM GESPRÄCH

Den Tod im Objektiv: Bilder von der Front Boris Alexandrowitsch Sokolow berichtete im Zweiten Weltkrieg als Kameramann von der Front. Mit RBTH spricht der 95-Jährige darüber, wie er den Krieg erlebte. Herr Sokolow, wie kamen Sie an die Front? 1941 war ich 21 Jahre alt. Wegen des Krieges konnten wir das Kinematografie-Studium vorzeitig abschließen. Ich absolvierte gerade mein Abschlusspraktikum, als Gruppen für die Berichterstattung von der Front gebildet wurden. Ich wollte mit, aber es hieß „Nein“. Natürlich hatte ich Verständnis dafür, dass man zunächst erfahrene Kameraleute hinschicken wollte. Andererseits waren die auch nicht für das Filmen unter Kriegsbedingungen ausgebildet. Warum war es für Sie wichtig, von der Front zu berichten? Das ganze Land war im Krieg, es lebte für die Front. Auch ich wollte dabei sein. Es war dann aber erst 1944 so weit. Die Front stand bei Warschau, drei Monate lang. Wir filmten dort den Alltag der Armee. Als die Offensive begann, hatten Sie da Angst? Die Angst war da, doch bei der Arbeit vergaßen wir sie. Obwohl die Verluste auf unserer Seite groß waren. Während des gesamten Krieges arbeiteten 258 Menschen an der Front, die mehr als dreieinhalb Millionen Meter 35-Millimeter-Film aufgenommen

haben. Jeder Fünfte starb. Es gab Verletzte, viele waren durch die Erfahrungen traumatisiert. Während der Dreharbeiten gab es keinen Schutz. Gab es auch Ereignisse, die Sie nicht filmen durften? Aufnehmen durften wir alles. Ob es dann auch gezeigt wurde, hing von der Zensur ab. Ich war noch nicht an der Front, als wir Niederlagen erlitten, doch Freunde erzählten, dass Rückzüge wenig gefilmt wurden. Ich kenne Fälle, dass Kameraleute versucht haben, Rückzüge zu filmen, aber Soldaten oder Flüchtlinge sie aufforderten, das zu unterlassen, oft auch unter Drohungen. Wie war der Umgang der Sowjetarmee mit der Zivilbevölkerung? Ich glaube, in der Sowjetunion gab es keine einzige Familie, die wegen des Krieges nicht gelitten hätte. Deshalb waren alle gegenüber den Deutschen sehr aggressiv eingestellt. Unsere Führung musste diesen Hass eindämmen. Als wir eines Tages zu Dreharbeiten ins Zentrum von Berlin fuhren, sahen wir eine Parole: „Hier ist es, das faschistische Nest – Berlin!“ Einen Tag später wurde sie entfernt, um die Soldaten nicht gegen die Zivilbevölkerung aufzuhetzen. War es damals schon möglich, die Aggression zu überwinden? Die Beziehungen waren beinahe neutral. Natürlich konnten sich nicht alle mit dem Ende des Krieges abfinden. Man kann nicht sagen, dass alle auf einmal Freunde wurden. Freunde wurden wir

nicht, aber friedlichen Menschen half die Armee. Welche Aufnahmen blieben vor allem im Gedächtnis? Natürlich erinnere ich mich vor allem an die Unterzeichnung der Kapitulation Deutschlands. Ich war erstaunt über das Verhalten des Feldmarschalls Keitel (Chef des Oberkommandos der Wehrmacht – Anm. der Red.). Als ob er nicht der Besiegte, sondern der Sieger wäre. Als er aus dem Flugzeug stieg, grüßte er mit seinem Feldherrenstab, obwohl er nur von Wachleuten am Flugplatz abgeholt wurde. Im Saal der Unterzeichnung grüßte er auch mit dem Stab, aber niemand ging darauf ein. Als Keitel die Kapitulation unterzeichnet hatte, war ich sicher, dass der Krieg in diesem Augenblick zu Ende war. Der allgemeine Zustand war Erleichterung. Das Hissen der Siegesfahne auf dem Reichstag haben Sie nicht gefilmt. Waren Sie enttäuscht? Das war nur eine weitere Kriegsepisode. Zum Siegessymbol wurde der Reichstag erst später, nicht in dem Moment, als wir filmten. Während der Kämpfe erschienen die Fahnen – zehn Stück gab es insgesamt – in verschiedenen Stockwerken des Reichstags. Sie wurden aus den Fenstern gehängt. Dann, in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, wurde die Fahne auf der Kuppel angebracht. Nachts konnten wir nicht drehen. Es gab zu wenig Licht, trotz der Brände. Viele halten die Aufnahmen für eine Inszenierung. Doch sie zeigen Fakten. Boris Sokolow wurde mehrfach für seinen Einsatz ausgezeichnet. Er ist zweifacher Träger des Roten-SternOrdens . Das Gespräch führte Jekaterina Sinelschikowa.

Weltkriegsreporter Boris Sokolow: „Nicht alles, was wir gefilmt haben, wurde gezeigt.“ Die Stimme des Krieges de.rbth.com/33431

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Kultur

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Der Katharinenpalast bei Sankt Petersburg wurde im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, sein berühmtes Bernsteinzimmer gilt seither als verschollen. Die Fotomontagen von Sergej Larenkow führen auf eindrucksvolle Weise die Vergangenheit vor Augen. SERGEJ LARENKOW

IM GESPRÄCH

„Nach den Schrecken der Blockade wollte ich den Sieg sehen“

Wie ist das Projekt „Die Verbindung der Zeiten“ entstanden? Meine beiden Großmütter haben die Blockade von Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, überlebt. Meine Großväter haben in der Einkesselung gekämpft. Vieles von dem, was ich über die Zeit weiß, habe ich von ihnen gehört. Als ich eines Tages meine Töchter fragte, was sie in der Schule über den Krieg lernen, wurde mir klar, dass mit dem Dahinscheiden der alten Generation die Verbindung zu damals abreißt. Einst sagten die Kriegsnarben meines Großvaters oder der sorgsame Umgang meiner Großmutter mit einem Stück Brot mehr für mich aus als die Kapitel in einem Geschichtsbuch. Ich beschloss, die Lücke zu schließen und meinen Töchtern zu zeigen, was im Krieg dort passiert war, wo sie täglich langgehen. Im Jahr 2009 zog ich Archivbilder heran, fotografierte meine Stadt aus der gleichen Perspektive und kopierte die Fotos Leningrads während der Blockade auf die Auf-

nahmen des heutigen Sankt Petersburgs. Das Ergebnis war für mich selbst überwältigend. Es zog mich derart in seinen Bann, dass ich die Vergangenheit mit meiner Kamera noch tiefer ergründen wollte.

Ort erst feststellen müssen, dass die Spuren der Vergangenheit dort nicht mehr aufzufinden sind? Ich versuche, wenigstens indirekte Anhaltspunkte zu finden. Die örtliche Beschaffenheit oder alte Bäume sind dabei besonders aufschlussreich. Im Schlosspark von Peterhof etwa fand ich „verwundete“ Eichen aus Zeiten Katharinas der Großen. Solche Spuren sagen viel aus. Und als ich auf den Straßen des heutigen Wolgograds Stalingrad zu entdecken versuchte, musste ich auf Luftaufnahmen aus dem Krieg zurückgreifen.

Wie entscheiden Sie sich für ein Motiv? Ich bereite mich rechtzeitig und gründlich auf eine Stadt vor, wenn ich sie besuchen will. Vor allem erforsche ich ihre Vergangenheit und präge mir die örtlichen Gegebenheiten ein. Die Fotos suche ich vorher aus und versuche bereits zu Hause einzuschätzen, wo sie aufgenommen wurden. In einigen Städten, die ich ausgesucht habe, helfen mir auch Freunde, die sich in ihrer Stadt gut auskennen und an ihrer Geschichte interessiert sind. Im Vorfeld bereiten wir gemeinsam das Material für unsere „Expeditionen“ vor. Wo finden Sie alte Fotos für die Collagen? Erste Bilder nahm ich aus offen zugänglichen Internetquellen. Später wollte ich meine Arbeit professioneller gestalten und ging in die Archive. Sehr behilflich ist mir dabei das Russische Staatsarchiv für Film- und Fotozeugnisse in Krasnogorsk bei Moskau. Außerdem stellten Heimatkundler und örtliche Museen dem Projekt viele Quellen zur Verfügung. Wie gehen Sie vor, wenn Sie vor

Im Jahr 2010 haben Sie Berlin,

SERGEJ LARENKOW

In den Händen des Sankt Petersburger Seelotsen Sergej Larenkow wird die Fotokamera zu einer Zeitmaschine. Seit nunmehr sechs Jahren stellt er Archivaufnahmen russischer und europäischer Städte in Kriegszeiten mit Bildern von heute zu Fotomontagen zusammen. Die RBTH-Korrespondentin Jelena Bobrowa sprach mit dem Refotografen über seine Arbeit und seine Motive.

Prag und Wien fotografiert. Was hat Sie dazu bewogen? Auf mich hat unvorstellbar viel Bildmaterial eingewirkt. Nachdem ich zahlreiche Bilder rekonstruiert und den Film „Das Blockade-Album“ erstellt hatte, empfand ich eine erdrückende Schwere. So, als ob ich selber dort gewesen wäre. Dabei konnte ich viele Blockade-Bilder nicht noch einmal aufnehmen, wegen moralischer Bedenken. Dieses Gefühl saß so tief, dass ich dachte, nach den Schrecken der Blockade auch den Sieg sehen zu müssen. Also ging ich auf Erkundungsreise durch das Europa von 1945. 2014 wurden Ihre Arbeiten in Berlin, Dresden und Hamburg ausgestellt. Wie waren die Reaktionen? In Deutschland haben die Kriegsaufnahmen eine große Resonanz erfahren. Gerade die eigenen Städte zu sehen, hat die Menschen bewegt. In ihrer Seele regt sich etwas, wenn sie diese Bilder betrachten. Die mittlere Generation zeigte in der Tat das größte Interesse. Wie weit erstrecken sich Ihre Arbeiten und was haben Sie sich für die Zukunft vorgenommen? Mein Moskau-Projekt habe ich zwischen 2009 und 2010 abge-

schlossen. Dann kam Europa – Wien, Prag, Berlin, Paris, die Normandie. Danach waren Kiew, Odessa, Sewastopol, Kertsch und viele andere Städte an der Reihe. 2014 habe ich das Projekt auf Noworossijsk und Murmansk ausgeweitet. Insgesamt umfasst „Die Verbindung der Zeiten“ mehr als 1 000 Arbeiten. Es gibt aber noch viele Orte, die ich gern aufnehmen würde: den Kaukasus, das Baltikum, Polen, Ungarn, Serbien. Übrigens, während der Ausstellungen in Deutschland habe ich ein neues Projekt über die Zerstörung Dresdens infolge der Luftangriffe ins Leben gerufen. Bei den Deutschen stößt es auf reges Interesse. Die Dresdner Collagen waren insgesamt weniger aufwendig herzustellen als die Berliner. Denn die Berliner Bilder zeigten alle möglichen Winkel der Stadt und ich musste viel umherfahren. Hinter Ihnen liegen viele Ausstellungen. Bleibt die Fotografie für Sie bloß ein Hobby? Ich bin schon ein Amateur, doch als Hobby würde ich das nicht bezeichnen. Das ist eine andere Seite meines Lebens, die es bewusster macht. Polaroids als Zeichen gegen Krieg de.rbth.com/33241

Das Projekt „Die Verbindung der Zeiten“ ist eine umfangreiche Sammlung von Fotocollagen russischer und europäischer Städte — von Moskau über Berlin bis nach Paris.