6 Vielfalt. Darum geht es in diesem Kapitel:

„Ginge es nicht, sie einfach aussterben zu lassen? Es könnte zum Beispiel eine Seuche über sie kommen, oder Degeneration …“ „Zu billig, mein Junge. So...
Author: Maja Adler
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„Ginge es nicht, sie einfach aussterben zu lassen? Es könnte zum Beispiel eine Seuche über sie kommen, oder Degeneration …“ „Zu billig, mein Junge. Soll denn immer die Natur wieder gutmachen, was sich die Menschen eingebrockt haben?“ (K. Capek, Der Krieg mit den Molchen, 1936) Der fossile Riesensalamander Andrias scheuchzeri wurde 1726 vom Schweizer Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer als Homo diluvii testis („der die Sintflut beweisende Mensch“) beschrieben. Erst 1812 erkannte George Cuvier den Irrtum. Der tschechische Schriftsteller Karel Capek (1890–1938) erweckte Andrias scheuchzeri (als „Lazarus-Taxon“, S. 369) und machte ihn zur Hauptfigur des Romans Der Krieg mit den Molchen. Die Molche als Bewohner der Sandbänke zerstören die Welt der Menschen dadurch, dass sie das Festland zerbröseln, um so die Küste (ihren eigenen Lebensraum) zu vergrößern – also ein dem Pangäa-Szenario ( S. 420) genau entgegengesetzter Prozess. (Bild nach der Schweizer Briefmarke von 1959)

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Stets wächst das eine so, das andere so, je nach seinem Bedürfnis. Wenn also etwas nicht aufhört, wenn sich die Gestalt auflöst und ändert, werden wieder andere Wesen geboren für den fortlaufenden Ersatz. Heraklit, Fragment 126b

Darum geht es in diesem Kapitel: • • • • • • • • • • • • • • •

Was verstehen Ökologen und Evolutionsbiologen unter einer „Insel“? Was ist eine Art? Was verstehen wir unter „Biodiversität“? Wie viele Arten leben auf der Erde, und wie kann man sie zählen? Wie entstehen neue Arten, und wie trennen sie sich voneinander? Was ist eine ökologische Nische? Wie viele ökologische Nischen gibt es? Kann man die Entwicklung der Vielfalt vorhersagen? Warum sterben Arten aus? Gibt es Gesetzmäßigkeiten im Aussterbemuster? Wie hängen Anagenese und Kladogenese zusammen? Warum sind einige Kladen artenreich und andere artenarm? Was sind Schlüsselneuheiten, und wie kann man sie erkennen? Verläuft die Evolution graduell oder erfolgt sie sprunghaft? Warum gibt es in den Tropen mehr Arten als in den gemäßigten Zonen? Wie sieht die Geschichte und wie die Zukunft der biologischen Vielfalt aus?

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6 Vielfalt

6.1 Galápagos-Inseln und afrikanische Seen Die auf den GalápagosInseln lebenden Finken der Gattung Geospiza haben sich auf verschiedene Arten des Nahrungserwerbs spezialisiert.

Charles Darwin ( S. 10) erreichte 1837 auf seiner Reise mit dem Schiff „Beagle“ die Galápagos-Inseln. (Ja, auch wir kommen nicht umhin, auf diese traditionelle Ikone aller evolutionsbiologischen Bücher zurückzugreifen. Dass wir bereits auf Seite 354 sind und die „Beagle“ bislang kaum erwähnt haben ( Box 6.1, 6.2), macht uns fast schon ein bisschen nervös). Auf Galápagos war Darwin u. a. davon fasziniert, dass dort „Grundfinken“ der Gattung Geospiza (in Wirklichkeit sind es Ammern) und einiger verwandter Gattungen leben; Vögel, die einerseits offensichtlich verwandt sind und sich gleichzeitig auf verschiedene Arten des Nahrungserwerbs spezialisiert haben. Es ist stark übertrieben, wenn manchmal behauptet wird, dass die Galápagos-Finken (auch Darwinfinken genannt, S. 308) mit ihren Nahrungsspezialisierungen und den damit verbundenen Schnabelformen die gesamte ökologische und morphologische Vielfalt anderer Vögel kopieren (Abb. 6.2). Heute wissen wir, dass es sich um eine Klade von fünfzehn Arten handelt, die von einem einzigen Vorfahren abstammen, der die Inseln von Mittel- oder Südamerika kommend vor 2,3 Millionen Jahren kolonisiert hat. In der Zeit fanden in diesem Gebiet

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Darwins Weltreise Am 27.12.1831 begann Charles Darwin, im Alter von 22 Jahren, eine Weltreise an Bord der H.M.S. Beagle, einem königlichen Forschungs- und Vermessungsschiff (H.M.S. steht für „His Majesty’s Ship“). Unter Kapitän Robert Fitzroy führte die Reise über die Kapverdischen Inseln, entlang der Ost- und der Westküste Südamerikas, zu den Galápagos-Inseln, nachTahiti, Neuseeland,Tasmanien, Mauritius, Kapstadt, nochmals Südamerika und über die Azoren zurück nach England. Die Reise dauerte fünf Jahre. Während dieser Expedition sammelte Darwin große Mengen geologischer und biologischer Daten, Material und Kenntnisse, die seine wissenschaftliche Meinung maßgeblich beeinflussten und ihm wichtiges Argumentations- und Beweismaterial für seine Evolutionstheorie lieferten. Drei Jahre nach der Rückkehr (also 1839) veröffentlichte Darwin seine Notizen als Journal of researches into the geology and natural history of the various countries viCharles Darwin (1830)

sited by H.M.S. Beagle, die unter dem Titel The Voyage of the Beagle bekannt wurden und Darwin Ruhm und Hochachtung einbrachten. Dieses Buch wurde nach dem Origin of species Darwins meist gelesenes Buch. Wenn man dieses Buch liest, kann man mitverfolgen (und verstehen), wie sich Darwins Interpretation seiner Beobachtungen und seine Weltanschauung entwickelten. Der junge Darwin beschrieb hier auch Erlebnisse und Episoden, die in der heutigen hastigen Zeit, in der ein knapper „wissenschaftlicher” Stil gefordert wird, sicher keinen Platz in einem Forschungsbericht finden würden. Zitieren wir als Beispiel seine Notiz vom 18. März 1835: »Nahe Mendoza [Chile] trafen wir auf eine kleine und sehr dicke Negerin, die rittlings auf einem Maultier ritt. Sie hatte einen solch gewaltigen Kropf, dass man kaum umhinkonnte, sie einen Augenblick anzustarren, doch meine beiden Begleiter entboten ihr, als Entschuldigung, fast auf der Stelle den üblichen Landesgruß, indem sie den Hut lüfteten. Wo in Europa hätte einer aus der niederen oder höheren Schicht eine so mitfühlende Höflichkeit einem armen und elenden Ding aus einer erniedrigten Rasse bezeigt?« (Man könnte sich nun fragen, ob wir 175 Jahre später in Europa rücksichtsvoller und höflicher geworden sind.)

6.1 Galápagos-Inseln und afrikanische Seen

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dramatische klimatische Änderungen statt, die u. a. auch mit der Bildung der Landenge von Panama zusammenhingen. Aufgrund des Verwandtschaftsgrads zwischen den einzelnen Arten und der genetischen Homogenität können wir abschätzen, dass die Inseln ursprünglich von einem Schwarm aus etwa 30 | 6.2 |

Inseln: Galápagos, ostafrikanische Seen und der Stadtfriedhof Keine Umwelt ist völlig homogen, jede setzt sich aus Mosaikfeldern zusammen, die für das Leben bestimmter Organismen günstig oder weniger günstig sind. Die günstigen Orte können voneinander getrennt werden und kleinere Inseln bilden. Falls sich die Individuen einer Art ständig zwischen diesen Gebieten hin- und herbewegen, handelt es sich um eine Metapopulation. Oft liegen diese Inseln günstiger Umweltbedingungen aber so weit auseinander, dass keine Migration stattfindet, und welche Organismen auf ihnen anzutreffen sind, hängt vor allem davon ab, welche Organismen dort zufällig auftauchen und sich dann halten können. Typische Beispiele sind ozeanische Inseln, Berggipfel, Seen oder Wüstenoasen; aber für manche Organismen können es auch Stadtparks sein oder kleine Wälder umgeben von Agrarlandschaft. Die durch die Evolutionsbiologie bekannt gewordenen Inseln sind z. B. Galápagos, Hawaii, Madagaskar oder die ostafrikanischen Seen (Abb. 6.1). Wegen des Zufallfaktors kann man die Dynamik der Besiedlung von Inseln gut beschreiben und begreifen – vor allem dank der Theorie der Inselbiogeographie. Die Inselbiogeographie basiert auf ökologischen Untersuchungen und evolutionsbiologischen Überlegungen, deren Grundlagen Mitte des 19. Jahrhunderts Alfred Russel Wallace ( S. 14) geschaffen hat. In ihrer modernen und teilweise mathematischen Form wurde dieTheorie der Inselbiogeographie 1963 von Robert H. MacArthur ( S. 357) und Edward O. Wilson ( S. 36) ausgearbeitet. DieseTheorie ist als eine der Säulen der modernen Ökologie anzusehen. Ihr Erfolg besteht darin, dass sie charakteristische, die Inseln betreffende Phänomene mithilfe der Dynamik von prinzipiell zufälligen Prozessen erklärt. Die auf den Inseln tatsächlich stattfindenden Prozesse sind komplizierter (und weniger zufällig), aber die Theorie der Inselbiogeographie liefert die Grundlage für alle Überlegungen zur Inseldynamik. Sie beschreibt und analysiert das Artengleichgewicht, das sich zwischen Zuwanderung und Aussterben auf Inseln einstellt. Die Theorie besagt, dass nahe am Herkunftsgebiet der besiedelnden Arten liegende Inseln relativ höhere Artenzahlen aufweisen als

solche, die weiter vom Herkunftsgebiet entfernt liegen. Größere Inseln beherbergen im Gleichgewichtszustand eine größere Artenzahl als kleinere Inseln. Diese Erkenntnisse sind auch für den praktischen Arten- und Biotopschutz von Bedeutung. Die Besiedlung von Inseln beeinflusst außerdem die Eigenschaften einzelner Arten. Auf den Inseln kommt es zu schnelleren evolutionären Veränderungen. Kleinere Tierarten tendieren zur Vergrößerung der Körpergröße, größere Tiere verkleinern sich oft. Das Spektrum der besiedelten Umwelttypen (ökologischen Nischen) erweitert sich. Populationsgrößen erhöhen sich. Manche Pflanzenarten verlieren die Fähigkeit zur Windausbreitung, und manche Vogel- und Insektenarten werden flugunfähig.

6.1 Übersichtskarte über die ostafrikanischen Seen.

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6.2 Beispiele für Kopf- und Schnabelformen bei den Vertretern der Galápagos-Finken im Zusammenhang mit den verwandtschaftlichen Beziehungen. Der Waldsängerfink (Certhidea olivacea) hat einen „insektivoren“ Schnabel (rechts); samenfressende Grundfinken i. e. S. (engl. groundfinches) besitzen robustere Schnäbel (Mitte); die Schnäbel der Kaktusfinken (engl. cactus-finches, links) sind geeignet, um an die Samen von Kakteen zu gelangen. (Nach Abzhanov et al. 2006)

In den ostafrikanischen Seen leben Hunderte von Buntbarscharten, wobei viele Arten innerhalb kurzer Zeit entstanden.

Änderungen der Form des Vogelschnabels oder der Färbung der Fische beruhen auf minimalen Änderungen bestimmter Zellpopulationen der Neuralleiste, die sehr schnell erfolgen können.

Individuen kolonisiert wurden. Es folgte die Diversifizierung in einige unterschiedliche ökologische Typen – also die Entstehung von unterschiedlichen Adaptationen. Andernorts ist die Neigung der Organismen, sich in neue Arten zu spalten noch extremer. Im östlichen Teil des afrikanischen Kontinents verläuft von Norden nach Süden ein tiefer Riss (englisch rift), das Ostafrikanische Grabensystem, das durch die Drift der Kontinentalplatten, die das heutige Afrika bilden, entstanden ist. In diesem Grabensystem finden wir zwischen Äthiopien und Malawi eine Kette von Seen (Abb. 6.1), die Hunderte von Arten auffällig bunt gefärbter Fische, Buntbarsche aus der Familie Cichlidae, beheimatet. In den größten drei Seen leben zusammen mehr als 1500 Arten (im Viktoriaund im Malawi-See jeweils etwa 700 Arten, im Tanganjika-See ca. 250), dazu kommen noch weitere 100 Arten im sehr kleinen Kyoga-See und ca. 60 Arten im Edward-See. Weil die geologische Geschichte dieser Seen gut kartiert ist, wissen wir, dass die neuen Arten hier explosionsartig entstanden sein müssen. Am auffälligsten ist dies im Fall des Viktoria-Sees, der nicht älter als ca. 15.000 Jahre ist. Auch wenn die phylogenetischen und die molekularbiologischen Daten der Fische dieses Sees zeigen, dass es sich um eine ältere Gruppe handelt (ca. 100.000 Jahre), die die Austrocknung des Sees in benachbarten Flüssen überlebt hatte, von denen aus sie den See später neu kolonisierte, ist das Tempo der Entstehung neuer Arten imposant. Bei der Art und Weise, wie hier neue Arten entstehen, muss es irgendeinen „Trick“ geben. Durch einfache Anpassung an verschiedene Bedingungen werden wir dieses Phänomen nur schwer erklären, schon deswegen, weil es nicht so viele „verschiedene“ Bedingungen in einem einzigen See geben kann. Wir haben bereits gesehen, dass Änderungen in der Form des Vogelschnabels oder in der Färbung der Fische auf minimalen Änderungen des Verhaltens bestimmter Zellpopulationen der Neuralleiste beruhen; von daher gesehen braucht man sich eigentlich kaum über die Geschwindigkeit der Änderungen

6.1 Galápagos-Inseln und afrikanische Seen

zu wundern. Was uns im Folgenden beschäftigten wird, ist gerade die Vielzahl der verschiedenen koexistierenden Arten. Wie und warum entstehen eigentlich neue Arten? Die Diversität oder Vielfalt ist vielleicht das auffälligste Merkmal des Lebens auf der Erde. Wir beobachten sie überall – beginnend bei der Vielfalt molekularer Mechanismen, die verschiedene Lebensfunktionen gewährleisten, über die Vielfalt der Allele in Populationen von Arten sowie über die Artenvielfalt in Gemeinschaften bis hin zur morphologischen Vielfalt vielzelliger Organismen oder der Vielfalt von Typen ökologischer Gemeinschaften auf der Erdoberfläche. Für dies alles hat sich der Sammelbegriff „Biodiversität“ eingebürgert. Um die Art und Weise ihrer Entstehung zu begreifen, reicht der einfache Darwinismus offensichtlich nicht aus. Nicht zufälligerweise werfen manche Opponenten Darwin vor, seine Theorie sei streng genommen nicht wissenschaftlich, weil sie keine konkrete Zahl an Arten vorhersagt, und dass die natürliche Selektion funktionieren könnte, selbst wenn auf der Erde nur eine Art gelebt hätte, dem aber nicht so ist. Dennoch zielt diese Kritik völlig daneben – wobei Darwin allerdings teilweise selbst Schuld ist, schon allein deshalb, weil er sein Werk On the origin of species by means of natural selection (dt. Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl) genannt hat. Darwins Theorie betrifft nämlich nicht die Entstehung der Arten (also die Artbildung, Speziation oder Kladogenese), sondern die adaptiven Veränderungen im Rahmen der einzelnen Evolutionslinien, also die Anagenese. Darwin hat die Kladogenese in seinem Werk zwar ebenfalls behandelt, sich aber nicht näher mit ihr auseinandergesetzt, und vor allem hat er sie nicht von der Anagenese getrennt. Er hat sich kurz und bündig vorgestellt, dass sich eine bestimmte Art auf zwei oder mehr verschiedenen Wegen an ihre Umgebung anpassen kann (weil die interspezifische Variabilität mehr oder weniger zufällig ist), und wenn sich diese Wege gegenseitig ausschließen, kann sich die Ausgangsart im Lauf der Zeit in mehrere Arten aufspalten. Darwin unterschied in seinem Werk nicht so sehr zwischen Arten und Rassen, sodass er die Entstehung der Arten analog zur Entstehung verschiedener Hunderassen betrachtete. Heute wissen wir, dass es nicht so einfach ist. Die Natur ist nämlich kein formloses Kontinuum: Die belebte Welt bildet oftmals mehr oder weniger getrennte Einheiten, wie beispielsweise die Zelle oder ein Individuum. Und solch eine reale diskrete Einheit ist auch die Art.

Robert Helmer MacArthur Lebensdaten: 1930–1972 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Ökologe. M. erbrachte bedeutende Leistungen auf den Gebieten der Ökologie der Lebensgemeinschaften, der Populationsökologie und der Theoretischen Ökologie. Er trug zur Entwicklung der Theorien über ökologische Nischen bei. Gemeinsam mit Edward O. Wilson entwickelte er das Konzept der Inselökologie, das das Gebiet der Biogeographie maßgeblich beeinflusste und auch zur Entwicklung der modernen Landschaftsökologie führte.

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Biologische Vielfalt findet man auf allen Ebenen des Lebens, von den molekularen Mechanismen bis zu Ökosystemen.

Darwins Theorie behandelte die Entstehung der Arten nur am Rande, obwohl der Titel seines Werkes dies zu versprechen schien.

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Anagenese und Kladogenese können als zwei unterschiedliche Prozesse angesehen werden.

6 Vielfalt

Wenn wir die Entstehung der Arten verstehen wollen, müssen wir zunächst verstehen, was eine Art überhaupt ist. Dabei können wir a priori die Idee nicht ausschließen, dass sich Kladogenese und Anagenese grundlegend unterscheiden können und dass auch solche Prozesse zur Artaufspaltung führen können, die mit der natürlichen Selektion normalerweise nichts zu tun haben. Das Verständnis der Entstehung der Diversität auf Artebene hat eine Schlüsselbedeutung für das Verständnis der gesamten Biodiversität, denn die Diversität innerhalb der Arten kann durch klassische evolutions-genetische Mechanismen erklärt werden, während die Diversität der höheren Komplexe, wie die Kladen oder Ökosysteme, direkt aus der Artenvielfalt ableitbar ist oder sein kann.

6.2 Was ist eine Art? Von den mehreren Dutzend Artdefinitionen ist keine völlig befriedigend.

Eine „Art“ ist eine kleinste evolutionär isolierte Linie, eine Gruppe von Individuen, mit gemeinsamer Evolution, die sie von anderen Arten trennte.

Nach Mayr ist eine Art eine Gruppe von Individuen, die sich miteinander kreuzen und fruchtbare Nachkommen haben können.

Mayrs Definition der „biologischen Art“ ignoriert die sich asexuell fortpflanzenden Organismen.

Es gibt mehrere Dutzend Artdefinitionen, aber keine von ihnen ist völlig zufriedenstellend, was als ein wesentlicher Mangel erscheint ( Box 6.3). Falls die Arten real existieren und nicht irgendwelche willkürlich festgesetzten Kategorien sind, fragt man sich, weshalb man sie nicht eindeutig definieren kann. Das Problem besteht darin, dass wir in der Evolutionsbiologie unter einer „Art“ eine kleinste evolutionär isolierte Linie verstehen, eine Gruppe von Individuen, die eine gemeinsame Evolution hinter sich haben, die sie von anderen Arten trennte. Wenn wir es so formulieren, drückt das zwar aus, dass wir die Existenz irgendwelcher getrennter Einheiten und ihrer Evolution erahnen, aber solche Einheiten sind praktisch nicht vernünftig greifbar. Wie erkennen wir, dass irgendeine Gruppe von Individuen eine Evolution durchlaufen hat, die auch noch von einer anderen Individuengruppe getrennt erfolgte? Wie können wir von Individuengruppen sprechen, wenn wir wissen, dass die Individuen sterben, und das Überdauernde ihre Allele sind? Und wodurch ist eigentlich gewährleistet, dass bestimmte Allelsätze eine „gemeinsame“ Evolution durchlaufen haben? All diese Probleme versuchte Mitte des 20. Jahrhunderts Ernst Mayr zu lösen, ein Zoologe, der – im Guten wie im Schlechten – die wissenschaftliche Diskussion über die Diversitätsentstehung für viele Jahrzehnte beherrschte ( S. 32). Nach Mayr ist die gemeinsame Evolution bei sich sexuell fortpflanzenden Arten durch die Kreuzung von Individuen gewährleistet, also durch den Austausch genetischer Information (d. h. den Genfluss) zwischen ihnen. Eine Art ist dem-zufolge eine Gruppe von Individuen, die sich miteinander kreuzen und fruchtbare Nachkommen haben können. Und neue Arten entstehen dann, wenn sich diese Gruppe in mehrere Populationen von Individuen aufspaltet, die sich zwar innerhalb dieser Populationen kreuzen können, aber nicht mehr zwischen den Populationen: Zwischen ihnen entstand eine reproduktive Isolationsbarriere. Mayrs Definition der „biologischen Art“ erfasst die Anforderungen an das Konzept einer Art gut; trotzdem ist auch sie nicht erschöpfend. In erster Linie ignoriert sie vollkommen die sich asexuell fortpflanzenden Organismen. Das muss vielleicht noch nichts bedeuten – letztendlich kann man bei diesen

6.2 Was ist eine Art?

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| 6.3 |

Artbegriff Organismen bilden natürliche, oft scharf abgegrenzte Gruppen, die wir Arten (Spezies) nennen. Üblicherweise verstehen wir unter einer Art die kleinste evolutionär isolierte phylogenetische Linie, da sie die taxonomische Grundeinheit darstellt. Es gibt etliche unterschiedliche theoretische (naturphilosophische und taxonomische) Auffassungen und Definitionen des Artbegriffs. Die typologische Artdefinition beruht darauf, dass die zu einer Art gehörenden Individuen untereinander phänotypisch ähnlicher sind als Individuen verschiedener Arten. Am häufigsten werden für die Artdiagnose morphologische Merkmale herangezogen, weshalb man in diesem Zusammenhang auch von einer „morphologischen Art“ (Morphospezies) spricht. Arten, die in ihrem gesamten Verbreitungsareal nur durch eine Form vertreten sind, werden monotypisch genannt. Polytypisch ist eine Art dann, wenn sie in mehreren phänotypischen Formen (Unterarten) vorkommt. Ein Problem für die Diagnose der morphologischen Art stellt die Existenz von Geschwister- oder Zwillingsarten (sibling species, kryptische Arten) dar: Diese Arten unterscheiden sich morphologisch kaum, dafür jedoch in ihren ethologischen oder ökologischen Eigenschaften oder anhand der geographischen Verbreitung. Der Phänotyp von Individuen einer Art kann sich auch in Abhängigkeit vom Geschlecht (Geschlechtsdimorphismus), Alter (Alterspolymorphismus) oder Sozialstatus (ethologischer Polymorphismus) unterscheiden bzw. eine klinale Variabilität aufweisen, d. h. einen Gradienten, abhängig vom Ort des Vorkommens (z. B. Breitengrad oder Höhe über dem Meeresspiegel). Die Auswahl eines diagnostischen Merkmals unterliegt meistens pragmatischen Aspekten. Die Definition der „biologischen Art“, das vielleicht älteste Konzept einer Art als natürliches Taxon, stammt von G.-L. L. Buffon (1855). Populär wurde dieses Konzept aber erst durch den berühmten Evolutionsbiologen Ernst Mayr (1963) ( S. 32). Nach seiner inzwischen klassischen Lehrbuchdefinition wird die Art als eine Gruppe von Populationen definiert, deren Mitglieder sich untereinander sexuell fortpflanzen können und fruchtbare Nachkommen haben, wobei diese Gruppe von anderen Gruppen reproduktiv isoliert ist. Diese Artdefinition ignoriert also alle sich asexuell und parthenogenetisch fortpflanzenden Organismen. Darüber

hinaus kann sie auf viele Organismen praktisch nicht angewandt werden. Viele der beschriebenen Arten kennen wir nur anhand eines oder weniger konservierter Museumsexemplare, bei denen die Kreuzungsfähigkeit nicht zu überprüfen ist. Manche Arten, darunter auch solche die häufig in Zoos gehalten werden, kennen wir zwar gut, aber dennoch ist die Frage, ob sie sich untereinander fruchtbar kreuzen lassen, nicht einfach zu beantworten. Individuen einer geographisch isolierten (= allopatrischen) Population, die sich nie begegnen, können sich natürlich auch nicht kreuzen. Ein Labortest ist hier sinnlos, denn im Labor können sich auch solche Arten miteinander kreuzen und fortpflanzen, die in der Natur klar abgegrenzte Evolutionslinien darstellen. Gerade die allopatrischen Arten, die sich in der Natur wegen der geographischen Isolation nie begegnen, haben oft keine speziellen reproduktiven Isolationsmechanismen ausgebildet. In letzter Zeit wird die phylogenetische Artdefinition angewandt. Die phylogenetische Art ist eine Gruppe von Individuen, die ein bestimmtes einzigartiges Merkmal teilen, das in keiner anderen Gruppe vorkommt und nicht an ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte Alterskohorte gebunden ist. Das betrachtete Merkmal ist also artspezifisch. In der derzeit gängigen Praxis führt die Anwendung der „phylogenetischen Art“ dazu, dass allopatrische Populationen, die sich vielleicht nur geringfügig, dafür aber in einzigartigen Merkmalen unterscheiden, zu selbständigen Arten ernannt werden, während eine graduelle Variabilität innerhalb einer Population ihren taxonomischen Wert zunehmend verliert. Die Taxonomie wird dadurch vereinfacht, denn die komplizierte Hierarchie der Arten, Unterarten, Formen und Varietäten verschwindet; dafür nimmt aber die Zahl der Arten zu (die numerische Analyse der taxonomischen Revisionen zeigt einen Anstieg von fast 50 Prozent). Dies hat natürlich auch wichtige praktische Konsequenzen für den Arten- und Naturschutz. Eine phylogenetische Art ist schneller „vom Aussterben bedroht“ bzw. „stark gefährdet“ als eine biologische Art. War einst der Orang-Utan „stark gefährdet“, so müssen wir nun den „vom Aussterben bedrohten“ Sumatra-Orang-Utan und den „stark gefährdeten“ Borneo-Orang-Utan retten.

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Die Definition der „biologischen Art“ kann nur bedingt auf real existierende Arten angewandt werden.

Bilden Populationen, die sich aufgrund der räumlichen Trennung nicht kreuzen können, automatisch unterschiedliche Arten?

Im Labor können sich auch solche Arten fruchtbar kreuzen, die in der Natur klar voneinander getrennte Evolutionslinien darstellen.

6 Vielfalt

Arten wirklich nicht annehmen, dass sie Linien mit einer gemeinsamen Evolution bilden werden, weil jedes Individuum einen ganz einzigartigen Satz an Nachkommen entstehen lässt, die zukünftig genetisch nichts mehr gemein haben werden. Allerdings können wir auch bei sich asexuell fortpflanzenden Wesen, zumindest auf den ersten Blick, so etwas wie Arten unterscheiden, also zumindest die Gruppen von Individuen, die sich ähneln und in einer ähnlichen Umgebung leben, ganz so als ob der Genfluss keine notwendige Voraussetzung für die „Kohäsion“ einer Art wäre. Ob man sie für Arten halten soll oder nicht, ist nur eine Frage des Geschmacks und davon, wie weit wir den „Artbegriff“ auf die lebende Natur anwenden wollen. Darüber hinaus ist es schwierig, die Frage zu beantworten, wie viele Arten wirklich „asexuell“ sind. Sobald wir uns bewusst machen, dass Sexualität primär nichts mit Fortpflanzung zu tun hat, sondern dass es dabei nur um eine Durchmischung der Gene (= Amphimixis) handelt, wird klar, dass die seltsamen Formen der Gendurchmischung bei Bakterien, obwohl sie keinerlei Ähnlichkeit mit dem Zyklus von Rekombination und Befruchtung aufweisen, eigentlich die wesentlichen evolutionären Anforderungen erfüllen, um als ein besonderer Typ der Sexualität angesehen zu werden. Auch Organismen, die sich durch Teilung asexuell fortpflanzen, treffen sich gelegentlich und vermischen ihre Gene, sind also vollkommen sexuell, doch ist es schwierig, dies zu erkennen, falls die sexuellen Ereignisse selten sind und nur versteckt stattfinden. Weitaus gravierender bei der klassischen Mayr’schen Definition der Art ist das Problem, dass man sie üblicherweise auf real existierende Organismen praktisch nicht anwenden kann. Es ist nämlich nicht ganz klar, was es heißt, dass sich die Individuen untereinander kreuzen oder nicht kreuzen können. Die geographisch isolierten (allopatrischen, d. h. „verschiedene Heimaten bewohnenden“) Populationen, deren Angehörige sich nie begegnen, können sich auch nicht kreuzen. Heißt das nun, dass wir sie automatisch als unterschiedliche Arten klassifizieren sollen? Das bedeutet es wahrscheinlich nicht, denn, falls sie sich in nichts anderem als dem geographischen Lebensraum unterscheiden (nicht einmal genetisch), stellen sie keine evolutionär unabhängigen Linien dar: Sobald die Barriere verschwindet, die die Isolation aufrecht hält, würden die beiden Gruppen (vielleicht) ohne Probleme verschmelzen. Das würde aber bedeuten, dass wir zur Feststellung, ob es sich um zwei Arten oder eine einzige handelt, einen Labortest bräuchten, der beweisen würde, dass sich zwei Organismengruppen kreuzen können, wenn sie dazu Gelegenheit haben. Aber damit begeben wir uns in das andere Extrem. Im Labor kreuzt sich alles Mögliche, also auch Arten, die in der Natur klar voneinander getrennte Evolutionslinien darstellen. Sie können sogar fruchtbare Nachkommen haben, wenn man ihnen geeignete Bedingungen sichert. Eine Reihe von Arten kreuzt sich auch in der Natur und hat fruchtbare Nachkommenschaft, nur setzen sich diese Nachkommen dann schlechter durch, pflanzen sich schlechter fort oder sterben früher, sodass die Kreuzung für die Verschmelzung beider Arten nicht ausreicht. Verbessern sich die ökologischen Bedingungen zugunsten der Hybriden, können sich diese

6.2 Was ist eine Art?

beiden Arten vereinigen. Bei Pflanzen kommt es tatsächlich manchmal vor, dass zwei Arten verschmelzen, wobei dadurch unter Umständen eine ganz neue Art entsteht. Die zwischenartliche Kreuzung ist insgesamt eine komplizierte Angelegenheit. Bis vor kurzem dachten wir, dass so etwas nur versehentlich und eher selten, aufgrund eines Irrtums in der Arterkennung, passiert und die Identität der Art nicht gefährdet. (Genauer gesagt, immer dann, wenn versehentlich die Artidentität gefährdet ist, erkennen wir die zwischenartliche Natur der Kreuzung.) Allerdings kennen wir auch Fälle, in denen die Kreuzung zwischen den sonst gut getrennten Arten adaptiv ist. In den Wüsten im Südwesten der USA leben zwei Arten von Schaufelfußkröten (Scaphiopodidae, eine Familie der Froschlurche, die das nordamerikanische „Gegenstück“ zu unseren Krötenfrösche der Familie Pelobatidae darstellt). Diese Kröten verstecken sich normalerweise unter der ausgedörrten Erde und pflanzen sich nur einmal pro Jahr fort, wenn sich nach heftigen Gewittern viele kleine und große Tümpel bilden. Die Kaulquappen der Flachland-Schaufelfußkröten (Spea bombifrons) entwickeln sich langsamer als die Kaulquappen der Gebirgs-Schaufelfußkröten (Spea multiplicata), sodass die Gefahr droht, dass sie es nicht schaffen, ihre Entwicklung vor der Austrocknung des Tümpels abzuschließen. Die Weibchen der Flachland-Schaufelfußkröten lösen dieses Problem, indem sie in seichten Tümpeln Männchen der GebirgsSchaufelfußkröten bevorzugen, sodass die hybriden Kaulquappen eine größere Chance haben, ihre Entwicklung abzuschließen. Auf diese Weise entstehen weniger lebenstüchtige Individuen (die Männchen sind allesamt steril und die Weibchen produzieren weniger Eier; das Mayr’sche Artkonzept funktioniert auf den ersten Blick bei diesen Kröten gut), aber es ist immer noch besser, als gar keine Nachkommen zu haben. Auch der Umstand, dass jede Art, sofern sie nicht auf eine einzige kleine Population begrenzt ist, eine gewisse intraspezifische Variabilität aufweist, stellt ein Problem dar. Im typischen Fall handelt es sich um eine allmähliche Veränderung irgendeines Merkmals quer durch das Verbreitungsgebiet der Art. Gut bekannt sind die Beispiele bei endothermen Wirbeltieren, wo die Individuen einer Art (z. B. bei Tigern oder Bären) oder bei nah verwandten Arten (Abb. 6.3), nach Norden hin größer werden, gleichzeitig wird ihr Fell heller und die Körperanhänge, z. B. die Ohrmuscheln, verkleinern sich. In einigen Fällen kann die Kurve, die die Abhängigkeit einer bestimmten morphologischen Eigenschaft (z. B. der Körpermasse) von der geographischen Lage widerspiegelt, „stufenartig“ sein, wobei sich die morphologischen Eigenschaften manchmal schon über sehr kurze Entfernungen stark ändern können. Grund dafür ist meistens, dass sich auch das Klima in diesem Gebiet sprunghaft ändert, wobei der Genfluss auf beiden Seiten der „Stufe“ (bisher) erhalten blieb. In so einem Fall sprechen wir von der Hybridzone zwischen den beiden Populationstypen ( Box 6.4). Die Hybridzone muss es allerdings nicht nur an der Stelle geben, wo die beiden Populationen beginnen, sich evolutionär von einander zu entfernen (primäre Hybridzone), sondern auch dort, wo sich Individuen verschiedener Populationen ein und derselben Art wieder begegnen und feststellen, dass sie (bislang) evolutionär nicht vollständig isoliert waren (sekundäre Hybridzone).

361

6.3 Vergleich der Körpergröße verschiedener Bärenarten. Die Anordnung nach der Größe von oben nach unten korreliert mit der Verbreitung dieser Bärenarten von Norden nach Süden. Jede Art mit einem größeren Verbreitungsgebiet weist eine gewisse intraspezifische Variabilität auf.

Eine Hybridzone entsteht dort, wo sich die Verbreitungsgebiete von zwei Populationstypen berühren.

http://www.springer.com/978-3-8274-1975-0