VG Augsburg, Urteil v. 03.04.2012 – Au 3 K 11.1669 Titel: Normenketten: SGB X §§ 103, 104 I 2, III, 111 S. 1 SGB VIII § 10 IV, 35a I, Ia SGB IX § 2 I 1, 6 I Nrn. 6 u. 7 VwGO §§ 67 II, 108 I 1 SGB XII §§ 53 I 1, 97, 98 AGSG Art. 82 I Nr. 1 § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X § 2 Abs. 1 SGB IX SGB X §§ 103, 104 I 2, III, 111 S. 1 SGB VIII § 10 IV, 35a I, Ia Orientierungsatz: Erstattungsanspruch; Eingliederungshilfe; seelische Behinderung Schlagworte: Eingliederungshilfe, seelische Behinderung, Entwicklungsfortschritt, unterdurchschnittliche Intelligenz, Störung des Sozialverhaltens, Jugendhilfe, Kinderhort Rechtsmittelinstanz: VGH München Urteil vom 30.10.201312 ZB 12.1249  

Tenor I. Der Beklagte wird verpflichtet, die dem Kläger im Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 31. März 2011 entstandenen Kosten in Höhe von EUR 6.045,00 EUR nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten. II. Die Kosten des Verfahrens haben der Beklagte zu 3/4 und der Kläger zu 1/4 zu tragen. III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand 1 Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für die Einzelintegration des Hilfeempfängers in einem integrativen Kinderhort für den Zeitraum vom 1. September 2009 bis zum 31. März 2011. 2 1. Der am ... 2000 geborene Hilfeempfänger erhielt von Mai 2005 bis Juli 2007 Frühförderung und besuchte seit September 2007 bis März 2011 eine integrative Hortgruppe. Nach den Gutachten einer Kinderärztin vom 6. Juni 2008 und vom 23. Juli 2009 leidet er an kombinierten Störungen schulischer Fertigkeiten; eine geistige Behinderung liege vor bzw. drohe einzutreten. Mit Erklärung vom 1. März 2009 nahmen die Eltern des Hilfeempfängers einen am 8. Juli 2008 beim Beklagten eingereichten Antrag auf Eingliederungshilfe

zurück, nachdem zunächst mitgeteilt worden war, die Untersuchung beim Amtsarzt habe eine seelische Behinderung ergeben, dann jedoch eine Teilhabebeeinträchtigung verneint wurde. 3 2. Mit Bescheid vom 5. Oktober 2009 gewährte der Kläger den Eltern des Hilfeempfängers auf ihren Antrag vom 23. Juli 2009 hin Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der behinderungsbedingten Mehrkosten für die Einzelintegration des Hilfeempfängers im Kindergarten (integrativen Kinderhort) für die Zeit vom 1. September 2009 bis zum 31. August 2010 für fünf bis sechs öffnungstägliche Stunden. 4 Das Gutachten der vorgenannten Kinderärztin vom 1. Juli 2010 diagnostiziert eine allgemeine Entwicklungsretadierung, die eine integrative Ganztagsbetreuung erfordere, es lägen eine geistige und eine seelische Behinderung vor bzw. diese drohten einzutreten. Das Jahreszeugnis (3. Klasse Grundschule) vom 30. Juli 2010 bescheinigt ein befriedigendes Sozialverhalten und in den Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht ausreichende Leistungen. Das Sozial- und Arbeitsverhalten des Hilfeempfängers habe sich im letzten Halbjahr merklich verbessert. Nach der Situationseinschätzung des Kinderhortes vom August 2010 seien einzelne kleine Entwicklungsfortschritte zu erkennen, es verblieben aber noch umfassende Ziele bzw. bestehender Förderbedarf hinsichtlich der schulischen Förderung, der Stabilisierung von Beziehungen und Unterstützung bei positivem Beziehungsaufbau sowie des Aufbaus einer gesunden Selbsteinschätzung. Das Kind setze sich unter hohen Leistungsdruck, der hauptsächlich von den Eltern ausgehe, überschätze sich häufig, teste täglich seine Grenzen aus, benötige laufend Kontrolle und Regeln; es provoziere häufig Erwachsene, verhalte sich oft verbal und körperlich grenzüberschreitend bei Gleichaltrigen und fühle sich schnell angegriffen. Der Leistungsstand in Deutsch sei auf der niedrigsten, in Mathematik auf der zweitniedrigsten Stufe zu beurteilen. Der Kontakt mit der Mutter des Hilfeempfängers gestalte sich aufgrund enormer Verständigungsschwierigkeiten äußerst schwierig. Das Kind habe insbesondere wegen seines Vaters Angst gehabt, mit einer schlechten Note nach Hause zu gehen. Die erforderlichen Fördermaßnahmen könnten nur in Verbindung mit einem Integrationsplatz geleistet werden, dann erscheine eine positive weitere Perspektive im kognitiven Bereich und emotionalensozialen Umfeld möglich. 5 Mit Schreiben vom 24. August 2010 (Bl. 27 der Behördenakte) meldete der Kläger gegenüber dem Beklagten vorsorglich einen Erstattungsanspruch ab 1. September 2010 an. 6 Einer Gesprächsnotiz vom 13. September 2010 (Bl. 35 der Behördenakte) ist zu entnehmen, die Eltern des Hilfeempfängers hätten beim Beklagten ebenfalls einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die integrative Betreuung im Hort gestellt und dann wieder zurückgenommen, nachdem bei einem Hilfeplangespräch keine Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft festgestellt worden sei. 7 Das vom Kläger angeforderte Gutachten des psychologischen Fachdienstes des Trägers des Kinderhortes vom 22. Dezember 2010 beinhaltet folgende Diagnosen: 8 1. klinischpsychiatrische Diagnosen: Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3), 2. umschriebene Entwicklungsrückstände im Rahmen der unterdurchschnittlichen Intelligenz bezüglich Leistungen in Deutsch und Mathematik, 3. Intelligenzniveau: unterdurchschnittliche Intelligenz, 4. somatische Befunde: keine, 5. psychosoziale Belastungsfaktoren: Migration, unangemessene Anforderungen durch die Eltern,

6. Globalbeurteilung der psychosozialen Beeinträchtigung: Mäßige soziale Beeinträchtigung. Der Hilfeempfänger habe als Kleinkind während des Tschetschenienkrieges Soldaten gesehen und nachts Schüsse gehört, ohne jedoch Zeuge von Kriegshandlungen gewesen zu sein. Er sei aufgrund auffällig aggressiven Verhaltens im Kindergarten für die Frühförderung angemeldet worden, in den dortigen heilpädagogischen Sitzungen habe er seine traumatischen Erlebnisse verarbeiten können. Im Rahmen der Aufnahmediagnostik sei Förderbedarf in den Bereichen Sprache, Wahrnehmung, Feinmotorik und Spielverhalten festgestellt worden, in diesen habe eine positive Entwicklung stattgefunden. Aufgrund noch vorhandener Defizite sei bei Einschulung eine Nachmittagsbetreuung zur intensiven Hausaufgabenbetreuung, Förderung der Sprache und zum Erlernen von adäquatem Sozialverhalten empfohlen worden; die Aufnahme in den integrativen Hort sei erfolgt, da zu diesem Zeitpunkt kein Platz in der heilpädagogischen Tagesstätte frei gewesen sei. Der Hilfeempfänger zeige sich meist sehr selbstbewusst, Provokationen gegenüber dem Personal und anderen Kindern seien häufig. Er sei verbal und körperlich grenzüberschreitend, trickse andere aus und lüge, um Vorteile zu erlangen, andere Kinder werden von ihm phasenweise geschlagen. Tragfähige Freundschaften zu gleichaltrigen Kindern seien nicht zu beobachten. Vor zwei Jahren seien die Verhaltensprobleme weitaus massiver ausgeprägt gewesen, seit einem Jahr würden sich positive Veränderungen zeigen. Bei einem am 9. Dezember 2010 durchgeführten Intelligenztest sei ein Standard Intelligenzquotient (IQ) von 82 erzielt worden, das Leistungsspektrum liege im unteren Bereich eines durchschnittlichen Schülers mit Lernschwierigkeiten. Ohne Unterstützung und intensive Elternarbeit bestehe die Gefahr, dass die Ängste und Aggressionen des Kindes zunähmen. 9 3. Mit Bescheid vom 3. Januar 2011 gewährte der Kläger den Eltern des Hilfeempfängers auf ihren Antrag vom 23. August 2010 hin Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der behinderungsbedingten Mehrkosten für die Einzelintegration des Hilfeempfängers im Kindergarten (integrativen Kinderhort) für die Zeit vom 1. September 2010 bis zum 16. Juni 2011 für vier bis fünf öffnungstägliche Stunden. 10 Zugleich wurde gegenüber dem Beklagten Anspruch auf Kostenerstattung für die Zeit ab 1. September 2009 geltend gemacht. 11 Mit Schreiben vom 17. März 2011 erkannte der Beklagte gegenüber dem Kläger seine sachliche Zuständigkeit ab 1. April 2011 an, da sich durch die Feststellung, dass eine seelische und keine geistige Behinderung vorläge, ein Zuständigkeitswechsel ergeben habe. Mangels Teilhabebeeinträchtigung lägen die Voraussetzungen für die Gewährung einer Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII nicht vor. 12 4. Daraufhin hob der Kläger mit Bescheid vom 22. März 2011 den Bescheid vom 3. Januar 2011 mit Wirkung ab 1. April 2011 auf. 13 Den Antrag auf Kostenerstattung lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 6. April und 7. Oktober 2011 mangels Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung ab. 14 5. Der Kläger beantragt: 15 Der Beklagte wird verpflichtet, die dem Kläger im Zeitraum vom 1. September 2009 bis 31. März 2011 entstandenen Kosten in Höhe von 7.826,60 EUR nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten. 16 Der Beklagte habe als vorrangig verpflichteter Leistungsträger dem Kläger die entstandenen Aufwendungen zu erstatten und sei ab 1. September 2009 für den Hilfefall zuständig; mit Schreiben vom 17. März 2011

habe dieser seine sachliche Zuständigkeit selbst anerkannt. Bei dem Hilfeempfänger liege nicht wie zunächst irrtümlich angenommen eine geistige, sondern eine rein seelische Behinderung vor; daneben bestehe auch eine Teilhabebeeinträchtigung. Hierzu werde auf das Gutachten vom 22. Dezember 2010 verwiesen, das einen IQ-Wert von 82 feststelle. Der Kläger habe aufgrund dieses Gutachtens, das mit den Einschätzungen der Kinderärztin und der Frühförderstelle übereinstimme, eine Teilhabebeeinträchtigung gesehen. Es sei die selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den zentralen Lebensbereichen Familie und Freizeit zu beurteilen, wobei nach der Rechtsprechung eine Teilhabebeeinträchtigung in einem dieser zentralen Bereiche ausreiche. Beim Hilfeempfänger liege nach dem vorgenannten Gutachten jedenfalls ein solche Beeinträchtigung im Bereich „Schule“ vor, zudem dürfte eine solche auch im Bereich „Familie“ gegeben sein. Der Kläger habe wegen nachgewiesener Teilhabebeeinträchtigung vorrangig Jugendhilfe gewähren müssen. Kostenerstattung könne ab 1. September 2009 begehrt werden, da der Hilfefall dem Beklagten aufgrund des Schreibens vom 24. August 2010 bekannt gewesen sei, zudem sei die Tagestättenrechnung für September 2009 seitens des Klägers erst nach dem 7. Januar 2010 bezahlt, d. h. erbracht worden. 17 6. Der Beklagte beantragt: 18 Die Klage wird abgewiesen. 19 Der Beklagte habe mit Bescheid vom 18. März 2011 (Bl. 93 der Akte des Beklagten) die Weiterbewilligung der Eingliederungshilfe gegenüber den Eltern des Hilfeempfängers mangels Teilhabebeeinträchtigung abgelehnt. Den hiergegen eingelegten Widerspruch habe die Regierung von ... mit Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2011 zurückgewiesen, da unabhängig davon, ob eine vom Einrichtungsträger getroffene Einschätzung herangezogen werden könne, um eine seelische Störung objektiv zu belegen, jedenfalls die Voraussetzungen für eine Teilhabebeeinträchtigung nicht vorlägen. Die fortgesetzte Betreuung auf einem integrativen Hortplatz sei nicht mehr erforderlich. Das Gutachten vom 22. Dezember 2010 werde vom Beklagten - unter Verweis darauf, dass zur Vermeidung einer Interessenkollision dieses grundsätzlich von einem Arzt oder Psychologen erstellt werden solle, der nicht an der Leistungserbringung beteiligt sei - nicht anerkannt. Die darin diagnostizierte seelische Beeinträchtigung sei unter der Voraussetzung, dass ein Facharzt die im Gutachten angeführten Ergebnisse der Diplom-Psychologin bestätige, noch nicht als drohende seelische Behinderung zu qualifizieren. Vielmehr sei zusätzlich eine (drohende) Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft festzustellen, was unter der Federführung des Jugendamtes in Zusammenarbeit mit ärztlichen und sozialpädagogischen Fachkräften zu erfolgen habe. Bloße Schulprobleme und -ängste, die betroffene andere Kinder ebenfalls hätten, würden nicht ausreichen. Es sei nicht Aufgabe der Jugendhilfe, die Hausaufgabenintensivgruppe der besuchten Einrichtung zu finanzieren, um leistungsschwachen Kindern den Übertritt in eine höhere Schule zu ermöglichen. Die Förderung der deutschen Sprache und die Verarbeitung von Kriegserlebnissen würden nicht zu den Aufgaben der Jugendhilfe zählen. Zudem wäre eine Erstattung der Kosten aufgrund der Ausschlussfrist erst ab 7. Januar 2010 möglich, die Geltendmachung der Erstattung müsse hinreichend konkret erfolgen, die tatsächliche Bezahlung an den Heimträger sei nicht maßgeblich. Der Vorwurf, das Sozialamt des Beklagten habe die Teilhabebeeinträchtigung vor Bewilligung des Falles nicht ausreichend geprüft, sei nicht relevant, da die Sozialhilfe zum 31. Juli 2008 eingestellt worden sei. Ein seitens des Klägers angestrebtes Musterverfahren sei erst bei mehr als 20 Verfahren möglich. 20 7. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe 21

Die zulässige Leistungsklage ist teilweise begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Erstattungsanspruch in Höhe von 6.045,00 EUR einschließlich der geltend gemachten Verzinsung für die aufgewendeten Kosten der Einzelintegration des Hilfeempfängers in einem integrativen Kinderhort, und zwar für den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 31. März 2011. Soweit mit der Klage weitere 1.781,60 EUR für den Zeitraum vom 1. September 2009 bis zum 31. Dezember 2009 geltend gemacht wurden, war sie abzuweisen. (Der Leistungsklage wurde nur teilweise stattgegeben, der Kläger und der Beklagte tragen entsprechend dem Anteil Ihres Unterliegens die Kosten. Hieraus wird hinreichend deutlich, dass die Klage im Übrigen abgewiesen wurde, wenn dies auch im Tenor versehentlich nicht aufgenommen wurde.) 22 1. Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruches ist § 104 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz -(SGB X). Hat danach ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X (nachträglicher Wegfall der Leistungspflicht) vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X). 23 Voraussetzung ist, dass der Hilfeempfänger einen Anspruch auf die geleistete Hilfe sowohl gegen den Kläger als auch gegen den Beklagten hatte, der Kläger diese Hilfe jedoch nicht hätte erbringen müssen, wenn der Beklagte sie erbracht hätte. Dies ist hier der Fall. Der Hilfeempfänger hat gegen den Kläger einen Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen gemäß § 53 ff. des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII); gegen den Beklagten hatte er Anspruch auf Eingliederungshilfe für seelische behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35 a des Sozialgesetzbuchs Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII), wobei gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII die Jugendhilfeleistungen den Sozialhilfeleistungen im Rang vorgingen, da der Hilfeempfänger seelisch behindert oder von einer seelischen Behinderung bedroht war. 24 2. Der Beklagte war für den Hilfefall vorrangig zuständig. 25 a) Nach den dem Gericht vorliegenden Gutachten war der Hilfeempfänger zumindest im streitgegenständlichen Zeitraum behindert im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe - (SGB IX); nach diesen Gutachten ist bzw. war jedenfalls von einer seelischen Behinderung auszugehen, dass daneben auch eine geistige Behinderung im Sinne dieser Vorschrift vorlag bzw. der Hilfeempfänger davon bedroht war, ist nicht erkennbar. 26 Gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist. Eine seelische Behinderung erfordert demnach eine seelische Störung, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt (vgl. VG Augsburg vom 10.5.2011 Az. Au 3 K 10.20 und vom 6.3.2012 Az. Au 3 K 11.347). 27 b) Für eine geistige Behinderung finden sich in den beigezogenen Akten keine ausreichenden Anhaltspunkte. Zwar geht die Kinderärztin zunächst von einer vorliegenden bzw. drohenden geistigen Behinderung (Gutachten vom 23.7.2009) und dann von einer vorliegenden bzw. drohenden geistigen und seelischen Behinderung (Gutachten vom 1.7.2010) aus, jedoch wird im Gutachten des psychologischen Fachdienstes des Trägers des integrativen Kinderhortes vom 22. Dezember 2010 allein eine Störung seelischer Art, neben Entwicklungsrückständen im Rahmen unterdurchschnittlicher Intelligenz,

diagnostiziert. Das bei dem Hilfeempfänger diagnostizierte Krankheitsbild fällt ausweislich der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen international anerkannten und geltenden klinischdiagnostischen Leitlinien zur Klassifikation von Krankheiten (International Classification of Diseases: ICD-10) unter Kapitel V der ICD-10, welches mittels Schlüsselnummern jeweils beginnend mit F die international geltende Klassifikation psychischer Störungen vornimmt (vgl. hierzu weiterführend Dilling/Mombour/Schmidt, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 5. Aufl. 2004/2005). Zudem wurde im Rahmen der Erstellung des vorgenannten Gutachtens mit dem Hilfeempfänger am 9. Dezember 2010 ein Intelligenztest durchgeführt, bei dem dieser einen Standard IQ von 82 erzielte. Nach der vorgenannten Klassifikation (ICD-10), die insoweit maßgeblich ist (vgl. § 35 a Abs. 1a S. 2 SGB VIII), liegt eine (leichte) geistige Behinderung erst dann vor, wenn der anhand standardisierter Intelligenztests festgestellte IQ weniger als 70 beträgt. Ein Intelligenzquotient von 70 oder höher schließt dagegen die Annahme einer geistigen Behinderung aus (vgl. VG Augsburg vom 17.11.2009 Az. Au 3 K 08.1014 und vom 17.1.2012 Az. Au 3 K 11.818). Es ist weder vorgetragen, noch aus den Gutachten ersichtlich, dass beim Leistungsempfänger bislang ein Intelligenzquotient festgestellt wurde, der die Annahme einer die Einzelintegration erforderlich machenden geistigen Behinderung stützen könnte. Vielmehr ergaben die Testungen, dass eine unterdurchschnittliche Intelligenz und damit einhergehend - nach den insoweit übereinstimmenden Feststellungen in den Gutachten der Kinderärztin vom 1. Juli 2010 und des psychologischen Fachdienstes vom 22. Dezember 2010 - Entwicklungsrückstände vorliegen. 28 Bei dem Hilfeempfänger lag demnach zumindest im streitgegenständlichen Zeitraum - nach den insoweit übereinstimmenden Gutachten der Kinderärztin vom 1. Juli 2010 und des psychologischen Fachdienstes des Trägers des Kinderhortes vom 22. Dezember 2010 - eine seelische Behinderung vor bzw. war der Hilfeempfänger davon bedroht. Das Gericht erachtet im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) die genannten Gutachten als geeignet und ausreichend, um den entscheidungsrelevanten Sachverhalt im Hinblick auf die Art der Behinderung zu klären. Insbesondere bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Aussagekraft der Stellungnahme des psychologischen Fachdienstes vom 22. Dezember 2010. 29 Die Einstufung der Beeinträchtigung als „geistige Behinderung“ bzw. auch als geistige Behinderung in den kinderärztlichen Gutachten vom 23. Juli 2009 und vom 1. Juli 2010 war damit - unter Berücksichtigung des nunmehr vorliegenden Intelligenztests - unzutreffend, was der Beklagte im Übrigen auch nicht bestreitet. Vielmehr hat dieser mit Schreiben vom 17. März 2011 (Bl. 55 der Behördenakte) gegenüber dem Kläger seine sachliche Zuständigkeit ab 1. April 2011 im Hinblick darauf, dass keine geistige Behinderung vorliegt, anerkannt, wenn auch hinsichtlich der festgestellten seelischen Behinderung zugleich die erforderliche Teilhabeberechtigung als nicht gegeben erachtet wird. Soweit seitens des Beklagten im Nachhinein vorgetragen wird, die Einschätzung, dass eine seelische Störung vorliege, sei (lediglich) durch den Einrichtungsträger erfolgt, ist dies unter Berücksichtigung der dargelegten Gesamtumstände nicht geeignet, die festgestellte seelische Störung in Frage zu stellen. 30 c) Neben der seelischen Störung lag beim Hilfeempfänger - zumindest im streitgegenständlichen Zeitraum auch die für das Vorliegen einer seelischen Behinderung zudem erforderliche Teilhabebeeinträchtigung bzw. zu erwartende Teilhabebeeinträchtigung vor (vgl. § 2 Abs. 1 SGB IX, § 35 a Abs. 1 SGB VIII, § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII; BVerwG vom 26.11.1998 ZfS 2000, 146). Dies bestätigen, wie dargelegt, übereinstimmend das Gutachten vom 22. Dezember 2010 und das kinderärztliche Gutachten vom 1. Juli 2010. Der Kläger hat die (zu erwartende) Teilhabebeeinträchtigung demnach zu Recht bejaht. 31 Für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, kommt es auf das Ausmaß, den Grad der seelischen Störungen an. Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen (vgl. BVerwG vom 26.11.1998 a. a. O.). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder und Jugendliche, bei

denen eine seelische Behinderung als Folge seelischer Störungen noch nicht vorliegt, deren Eintritt aber nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Im Falle einer bisher noch nicht eingetretenen Behinderung tritt also die Prognosebeurteilung hinzu, ob und gegebenenfalls wann beziehungsweise mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Behinderung zu erwarten ist. Hierfür kommt kein starrer Zeitrahmen in Betracht, sondern eine nach Sinn und Zweck der Hilfe bemessene Zeit. Ausgehend vom Ziel der Hilfe, den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten, ist darauf abzustellen, dass noch erfolgversprechende Hilfemaßnahmen gegen den Eintritt der Behinderung eingesetzt werden können (BVerwG vom 26.11.1998 a. a. O.). Der Begriff der Teilhabebeeinträchtigung unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle (vgl. Kunkel, LPKSGB VIII, 3. Aufl. 2006, RdNr. 7 zu § 35 a). Maßgeblich sind dabei die Umstände des konkreten Einzelfalles. 32 Zu beurteilen ist in diesem Zusammenhang die selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den zentralen Lebensbereichen Familie, Schule und Freizeit (vgl. VG Augsburg vom 10.5.2011 Az. Au 3 K 10.20 a. a. O.). Die Beeinträchtigung der Teilhabe muss sich jedoch nicht auf mehrere oder gar alle Lebensbereiche erstrecken. Vielmehr reicht es aus, wenn eine solche auch nur in einem einzigen dieser zentralen Lebensbereiche gegeben ist oder droht (vgl. VG Frankfurt (Oder) vom 1.7.2009 6 K 50/05 m. w. N.). § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII setzt auch nicht voraus, dass die (drohende) Beeinträchtigung eine besonders gravierende Intensität aufweist. 33 Entgegen der Auffassung der Beklagten bestehen bzw. bestanden beim Hilfeempfänger jedenfalls im streitgegenständlichen Zeitraum nicht nur bloße Schulprobleme bzw. -ängste, die betroffene andere Kinder teilen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass zur Stabilisierung des Sozial- und Arbeitsverhaltens des Hilfeempfängers im streitgegenständlichen Zeitraum weiterhin (noch) Hilfe erforderlich und insofern die Teilhabe im Bereich Schule und Freizeit tangiert war. Nach dem kinderpsychologischen Gutachten vom 22. Dezember 2010 ist die beim Hilfeempfänger diagnostizierte Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten u. a. gekennzeichnet durch folgende Symptome: ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche, Lügen, um sich Vorteile zu verschaffen sowie einem Andauern der Symptome seit mindestens sechs Monaten. Erläuternd ist ausgeführt, dass der Hilfeempfänger bereits aufgrund auffällig aggressiven Verhaltens im Kindergarten zur Frühförderung angemeldet worden und verbal und körperlich grenzüberschreitend sei, tragfähige Freundschaften zu gleichaltrigen Kindern seien nicht vorhanden. Seit einem Jahr würden sich positive Veränderungen zeigen, vor zwei Jahren seien die Verhaltensprobleme weitaus massiver ausgeprägt gewesen. In Übereinstimmung damit beinhaltet das Jahreszeugnis vom 30. Juli 2010 eine merkliche Verbesserung des Sozial- und Arbeitsverhaltens des Hilfeempfängers im zweiten Halbjahr. Die Situationseinschätzung des Kinderhortes vom August 2010 berichtet ebenfalls von Entwicklungsfortschritten, sieht aber noch bestehenden Förderbedarf hinsichtlich der schulischen Förderung, der Stabilisierung von Beziehungen und dem Aufbau einer gesunden Selbsteinschätzung. 34 d) Aufgrund der seelischen Behinderung bzw. drohenden seelischen Behinderung des Hilfeempfängers im streitgegenständlichen Zeitraum kam zum einen in Betracht, dass es sich bei der Einzelintegration des Hilfeempfängers im Kinderhort um eine Maßnahme der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35 a SGB VIII handelt. Hierfür wäre gemäß §§ 69 Abs. 1, 85 Abs. 1 SGB VIII der Beklagte als örtlicher Träger der Jugendhilfe zuständig gewesen. Zum anderen kam in Betracht, dass es sich um Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 53 f. SGB XII handelt. Hierfür wäre der Kläger gemäß §§ 97, 98 SGB XII, Art. 82 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) zuständig gewesen. Sowohl der Beklagte als Träger der Jugendhilfe als auch der Kläger als überörtlicher Träger der Sozialhilfe konnten nach § 6 Abs. 1 Nr. 6 bzw. 7 SGB IX Träger der Leistungen sein. 35

Das Rangverhältnis zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe regelt, wie dargelegt, § 10 Abs. 4 SGB VIII. Da der Kläger im Fall des seelisch behinderten Hilfeempfängers nach § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre, wenn der Beklagte den Anspruch des Leistungsempfängers rechtzeitig erfüllt hätte (vgl. § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X) und die Voraussetzungen des § 103 SGB X nicht vorliegen, hat der Kläger nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X als nachrangig verpflichteter Leistungsträger einen Erstattungsanspruch gegen den vorrangig verpflichteten Beklagten (vgl. BayVGH vom 12.10.2005 Az. 12 B 03.1068 ). 36 3. Der Erstattungsanspruch des Klägers scheitert auch nicht daran, dass die Einzelintegration im integrativen Hort nicht erforderlich gewesen wäre. 37 Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach § 104 Abs. 3 SGB X allerdings nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. Das bedeutet aber nur, dass der erstattungspflichtige Träger nicht mehr erstatten muss, als er bei rechtzeitiger Leistung aufzuwenden gehabt hätte. Verfahrensvorschriften nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch musste der Kläger als nachrangig verpflichteter Leistungsträger nicht beachten (BayVGH vom 12.10.2005 Az. 12 B 03.1068 a. a. O.). Die Hilfe musste nur den materiellen Anforderungen des Jugendhilferechts entsprechen, d. h. sie musste vor allem erforderlich und geeignet sein (vgl. BVerwG vom 24.7.1999 Az. 5 C 24.98 ). 38 Zudem hatte der Kläger bei der Frage, ob die Hilfe erforderlich und geeignet ist, eine gewisse Einschätzungsprärogative (BayVGH vom 12.10.2005 Az. 12 B 03.1068 a. a. O.). Er leistete als sachlich zuständiger, wenn auch nachrangig verpflichteter Leistungsträger, dass der Kläger mit der geleisteten Hilfe aber die Aufgaben und Ziele der Eingliederungshilfe nicht im Blick gehabt hatte, ist nicht ersichtlich und wird vom Beklagten auch nicht behauptet. 39 Demnach ist davon auszugehen, dass die Hilfe im vorliegenden Fall auch geeignet und erforderlich war. 40 4. Der Erstattungsanspruch wurde durch den Kläger jedoch lediglich hinsichtlich der ab dem 1. Januar 2010 aufgewendeten Kosten rechtzeitig im Sinne des § 111 Satz 1 SGB X angemeldet. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Für den Begriff der Leistung kommt es dabei auf das Beginnen bzw. tatsächliche Einsetzen der die Leistung ausmachenden Maßnahmen und Hilfen gegenüber dem Bedürftigen an (vgl. BVerwG vom 19.10.2011 NVwZ-RR 2012, 111). Satz 2 dieser Vorschrift erfasst Fälle der vorliegenden Art nicht und steht demnach der Anwendbarkeit von Satz 1 nicht entgegen (vgl. BayVGH vom 21.5.2010 Az. 12 BV 09.1973 ). 41 5. Der Zinsanspruch folgt aus analoger Anwendung der §§ 291, 288 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB (vgl. BVerwG vom 7.2.1985 BVerwGE 71, 48; vom 22.2.2001 Az. 5 C 34/00 ). Rechtshängigkeit ist vorliegend mit Eingang der Klage bei Gericht am 17. November 2011 eingetreten (§§ 90 Abs. 1, 81 VwGO). 42 6. Nach dem jeweiligen Anteil des Obsiegens bzw. Unterliegens hat der Kläger 1/4, der Beklagte 3/4 der Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 155 Abs. 1 VwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 709 f. der Zivilprozessordnung (ZPO).