4 Comic-Journalismus. 4.1 Comics und Journalismus ein junges Forschungsfeld

4 Comic-Journalismus Wie einleitend in Kapitel 1 und zudem in Kapitel 3.3.5 dargestellt wurde, ist der Begriff „comics journalism“ bzw. der deutsche T...
Author: Gerhard Fuchs
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4 Comic-Journalismus Wie einleitend in Kapitel 1 und zudem in Kapitel 3.3.5 dargestellt wurde, ist der Begriff „comics journalism“ bzw. der deutsche Terminus „Comic-Reportage“ wesentlich durch Joe Sacco geprägt. In den vergangenen Jahren entstanden aber immer mehr Beispiele für Comics, die sich journalistisch mit Themen auseinandersetzten, ohne den starken Reportage- bzw. Reisecharakter von Saccos Werken aufzuweisen.21 Mit neuen, nichtfiktionalen, journalistischen Werken sind zudem zahlreiche weitere Bezeichnungen für das sich ständig weiterentwickelnde Genre aufgekommen. Comic-Journalistin Susie Cagle (2011) formuliert in diesem Zusammenhang auf einer Podiumsdiskussion: „[...] We are all coming up with different phrases for how we want to talk about this stuff.“ Die folgenden Kapitel 4.1 und 4.2 sollen einen Überblick über den jungen Forschungsstand geben, die wichtigsten Fragen zum Thema diskutieren und Sichtweisen von Comic-Journalistinnen und -Journalisten auf ihr Genre vorstellen. In Kapitel 4.3 wird eine Definition des Begriffs Comic-Journalismus vorgenommen. Außerdem werden die fehlende Qualitätssicherung sowie der Aspekt der transparenten Subjektivität im ComicJournalismus beleuchtet (siehe Kapitel 4.4 und 4.5). Die wesentlichsten Erkenntnisse sind in Kapitel 4.6 zusammengefasst.

4.1 Comics und Journalismus – ein junges Forschungsfeld Wenngleich wissenschaftliche Literatur zum Thema Journalismus reichlich vorhanden ist und auch Comics in den letzten Jahren stark in den Fokus der Wissenschaft gerückt sind, fehlt die Literatur zur Schnittmenge von Comics und Journalismus weitgehend. Selbst konkrete Definitionen, die journalistischen Comics einen Namen geben bzw. diese kategorisieren, sind derzeit nicht vorhanden. Bei der Auseinandersetzung mit Comics mit nicht-fiktionalen Inhalten wird in der Fachliteratur zwar durchaus auf journalistische Comics eingegangen, diese werden allerdings nicht näher definiert. So versteht Jüngst (2010, S. 29) journalistische Comics offenbar als „information comics“ bzw. „Sachcomics“, ohne eine genauere Charakterisierung bzw. Differenzierung vorzunehmen.22

21 Siehe dazu exemplarisch Cartoon Movement (2012), Kramer (2012a, sowie 2013) und Polgreen (2012a, 2013a sowie 2013b). 22 Zur Definition von „Sachcomics“ siehe Kapitel 3.4.3.

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In der (nicht-akademischen) Auseinandersetzung mit dem Phänomen werden zahlreiche unterschiedliche Begriffe verwendet. So wird von „Comic-Journalismus“ (vgl. Göllner, 2001), „Comic-Reportage“ (vgl. Becker, 2009, S. 250 sowie vgl. Denkmayr, 2008), „comics journalism“ (vgl. Vanderbeke, 2010a, S. 80), „graphic journalism“ (vgl. Collins, 2010, S. 227), „illustrated journalism“ (vgl. Polgreen 2012a, 2012b) oder auch „illustrated documentary“ (vgl. KQEDucation, 2013) gesprochen.23 Einer der Begriffe, der sich in der (nicht wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit Comics im englischen Sprachraum durchzusetzen scheint, lautet „comics journalism“. Joe Sacco verwendet den Terminus, um seine Non-fiction-Comics zu bezeichnen (vgl. Woo, 2010, S. 2060). Woo (2010, P. 2160-2198) stellt allerdings fest, dass die für den Journalismus gemeinhin als so wichtig erachteten Kriterien „Objektivität“ und „Verifikation“ von Joe Saccos Werken nicht zur Gänze erfüllt werden. Er kommt daher sogar zu dem Schluss: „[...] I maintain that the label ,comics journalism‘ is misleading“ (Woo, 2010, P. 2198). Erschwert wird eine allgemein gültige Definition journalistischer Comics dadurch, dass jene journalistischen Comics, die in der (Comic-)Fachliteratur thematisiert werden, meist autobiografische Comics mit nicht-fiktionalem Inhalt sind. So bezieht sich Evans (2010, S. 96) etwa auf konkrete Werke, um den Terminus „comics journalism“ zu beschreiben: „Comics Journalism, [is] the term used to refer to works like Joe Sacco’s books on Palestine, Sue Coe’s work, or Ted Rall’s To Afghanistan and Back [...]“. Damit werden journalistische Comics allerdings auf ein konkretes Genre – nämlich das der Reportage bzw. Reise- oder Sozialreportage – reduziert. Beispiele dafür, dass sich Comics auch anders bzw. distanzierter mit journalistisch relevanten Themen auf nicht-fiktionale Weise auseinandersetzen können, gibt es allerdings zahlreiche. Dan Archer (2011b) gibt in An introduction to comics journalism, in the form of comics journalism einen Überblick über die Entwicklung des Comic-Journalismus. Arne Jysch (2012) ist in Wave and Smile nicht als Erzähler erkennbar. Donna et al. (2011) setzen sich in Logicomix: Eine epische Suche nach Wahrheit mit einem historisch-wissenschaftlichen Thema auseinander. Adams/Guardian US interactive team/McCann (2012) machen die Amerikanische Präsidentschaftswahl 2012 in einem Comic zum Thema. Und Scott McCloud (1993 sowie 2000) setzt sich in

23 Für eine Betrachtung des Begriffs „Comic-Reportage“ siehe Kapitel 3.3.5. Hinsichtlich des von ihr verwendeten Terminus „illustrated journalism“ für das Comic-Magazin Symbolia Magazine konkretisiert Erin Polgreen (2012b) auf Anfrage via E-Mail: „I use the term illustrated journalism because Symbolia is more than comics – we use infographics, prose, audio, and animation. Some of our work is strict comics, but this lager term encompasses many styles of story telling.“ Dies spiegelt die in Kapitel 3.3 dargestellte Definitions-Problematik hinsichtlich digitaler Comics wider; der Begriff „Comic“ scheint unzureichend, um der Multimedialität des Produkts gerecht zu werden.

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Understanding Comics: The invisible Art und Reinventing Comics: How Imagination and Technology Are Revolutionizing an Art Form ebenfalls sehr sachlich mit der Beschaffenheit, Wirkung und Geschichte des Mediums Comic auseinander.24 Zudem zeigen Lomasko/Nikolajew (2013) und Stoeckley (2013) mit ihrer visuellen Gerichts-Berichterstattung eine weitere Facette des Phänomens auf. Während journalistische Comics einerseits stark autobiografische Bezüge haben können und damit eine Unterscheidung zum Genre der „autobiografischen Comics“ teilweise schwer fällt (siehe dazu Kapitel 3.4.5), können sie sich andererseits auch relativ abstrakt bzw. sehr sachlich mit Themen auseinandersetzen und damit auch als „Sachcomics“ (siehe Kapitel 3.4.3) bezeichnet werden. Die Vielfältigkeit journalistischer Comics mag auf den ersten Blick irritieren, sie ist aber eine logische Folge der multidimensionalen Bedeutung des Begriffs Journalismus (siehe dazu Kapitel 4.2).25 Der dargestellte Facettenreichtum des Phänomens Comic-Journalismus spiegelt sich auch in der im Zuge dieser Arbeit durchgeführten, nicht repräsentativen, Umfrage unter Comic-Journalistinnen und -Journalisten bzw. Personen, die an der Produktion eines journalistischen Comics beteiligt waren, wider (siehe dazu Kapitel 7.2; alle ungekürzten Antworten finden sich im Anhang). Dabei fallen vor allem unterschiedliche Sichtweisen hinsichtlich der zu wahrenden journalistischen Standards auf. 26 Während viele Befragte die Auffassung teilen, dass Comic-Journalismus nicht-fiktionale Themen behandelt, bestehen hinsichtlich der eingesetzten journalistischen Standards bzw. der Frage nach der Interpretation durch die Journalistin bzw. den Journalisten unterschiedliche Sichtweisen. So nimmt Matt Bors comics journalism als „non-fiction comics about real events and real people that are entirely factual and adhere to journalistic standards“ wahr. Erin Polgreen versteht den Begriff ähnlich: „Using the methodology of journalism – fact checking, reporting, etc. – to tell stories in sequential art formats.“ Darryl Holliday beschreibt comics journalism als „Traditional shoe-leather reporting paired with sequential art.“ Und Lindsay Beyerstein schreibt unter anderem:

Siehe dazu auch Kapitel 4.5. Vergleicht man das stark autobiografische Buch Lost Cat. A True Story of Love, Desperation, and GPS Technology von MacNaughton/Paul (2013) beispielsweise mit dem Afghanistan-Comic Wave and Smile von Jysch (2012), scheint letzteres zunächst das „journalistischere“ Werk zu sein. Wie in Kapitel 1.1 beschrieben, war Jysch allerdings nie selbst vor Ort in Afghanistan. Dem gegenüber erklären MacNaughton/Paul (2013, o. S.), wenngleich mit humoristischem Unterton, ganz im Sinne journalistischer Transparenz: „This is a true story. We didn’t record the precise dialogue and exact order of events at the time, but we have recreated this period of our lives to the best of our mortal ability.“ 26 Die folgenden Zitate aus der Befragung sind von Tipp- und Rechtschreibfehlern bereinigt und die kursiven Hervorhebungen wurden hinzugefügt. 24 25

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„I hold my comics journalism to the same standards of ethics and accuracy as any other journalism that I produce. In general, I'm flexible about what comics journalism can and should be. However, if you're going to call yourself a journalist of any kind, you have to adhere to journalistic standards.“ (Beyerstein) Im Gegensatz dazu verstehen andere Befragte Comic-Journalismus auch als Genre, in dem Bewertungen bzw. Meinung durchaus zulässig sind. So schreibt Erik Nelson Rodriguez, comics journalism bedeute: „Combining the illustrative art form with a narrative to interpret real life events. Documenting reality following most of the cannons in the field of journalism.“ Alexandra Hamann hält fest: „Aktuelle gesellschaftliche Themen werden zeichnerisch – und in Geschichten verpackt – umgesetzt.“ Ted Rall sieht in dem Genre ebenfalls die Möglichkeit zur Meinungsäußerung, wenn er schreibt: „Comics journalism is the use of cartooning, illustration and comics in order to report news, current events, politics, and social commentary.“ Dan Archers Definition von comics journalism schließlich kann durchaus als gewisser Gegensatz zu anderen Formen des Journalismus verstanden werden – er definiert comics journalism so: „using a combination of drawn images and text to document specific angles of news stories that aren't often covered in the mainstream media. Drawn docudrama that is honest about the impossibility of objective truth.“ Damit deutet Archer auf die in Kapitel 5.2 thematisierten Parallelen zum Dokumentarfilm hin und scheint die in Kapitel 4.5 skizzierte Auffassung zu vertreten, wonach Comic-Journalismus als Form des „New-Journalism“ zu verstehen ist.

4.2 Problematik des Aspekts „Journalismus“ im Begriff „ComicJournalismus“ Ausgehend von der Beobachtung, dass Comic-Journalismus eine Kombination aus „Comic“ und „Journalismus“ ist, scheint es zunächst logisch, sich dem Begriff über gängige Comic- und Journalismus-Definitionen zu nähern. Die Definition des Begriffs „Comic-Journalismus“ aus einer bestimmten Journalismus-Definition abzuleiten, ist bei genauerer Betrachtung allerdings nicht zielführend, da Journalismus nicht einheitlich definiert werden kann. So kann das Phänomen Journalismus grundsätzlich auf drei Ebenen charakterisiert werden: Auf gesellschaftlicher Ebene als soziales System, auf organisatorischer Ebene anhand der Medienbetriebe und Medienangebote und schließlich 40

über die journalistischen Arbeitsrollen auf der Ebene professioneller Akteurinnen und Akteure (vgl. Malik/Scholl, 2009, S. 172 sowie vgl. Scholl, 2002, S. 461). Aus konstruktivistisch-systemtheoretischer Sicht schlägt Weber (2002, S. 83) vor, Journalismus als eine Form der Publizistik zu definieren, „[...] die tendenziell eher von Massenmedien getragen wird als von bloßen Medien. Der Code des Journalismus ist aktuell/nicht-aktuell. Der generealisierende Mechanismus des Journalismus ist die Aktualität.“ Mit dieser Definition wird der Aktualität besondere Bedeutung zugeschrieben. Meier (2007, S. 13) setzt bei seiner Definition dagegen die Aufgaben und die gesellschaftliche Funktion des Journalismus in den Mittelpunkt: „Journalismus recherchiert, selektiert und präsentiert Themen, die neu, faktisch und relevant sind. Er stellt Öffentlichkeit her, indem er beobachtet, diese Beobachtung über periodische Medien einem Massenpublikum zur Verfügung stellt und dadurch eine gemeinsame Wirklichkeit konstruiert. Diese konstruierte Wirklichkeit bietet Orientierung in einer komplexen Welt.“ (Meier, 2007, S. 13) Damit werden neben Aktualität auch Selektion, Faktizität und Relevanz sowie Orientierungsfunktion in den Vordergrund gerückt. Die Ansicht, dass Faktizität ein wesentliches Definitionsmerkmal des Journalismus ist, bleibt in der Journalismus-Forschung allerdings nicht unwidersprochen. Wenngleich Journalismus meist mit Information verbunden wird, ist Informations-Journalismus nur ein Aspekt des Journalismus (vgl. Blöbaum/Renger/Scholl, 2007, S. 7). „Auf einer anderen Seite stehen Unterhaltungselemente im Journalismus, Boulevardjournalismus und die journalistische Leistung, ein Publikum (auch) zu unterhalten“ (Blöbaum/Renger/Scholl, 2007, S. 7). Damit existiert eine Vielzahl an journalistischen Sonderformen, die sowohl Informationen transportieren als auch Unterhaltung bieten, beispielsweise Doku-Dramen, Info-Tainment, RealityTV oder Soft-News (vgl. Bosshart, 2007, S.). Eine Comic-Journalismus-Definition, die diese und weitere Facetten des Phänomens Journalismus berücksichtigt d.h. konkret anspricht, scheint zu umfangreich; eine Definition, die einige der Facetten nicht berücksichtigt, ist allerdings unvollständig. Einen Weg aus diesem Dilemma bietet folgende Herangehensweise: Der „Journalismus-Aspekt“ des Begriffs „Comic-Journalismus“ soll über Qualitätsmerkmale des Journalismus thematisiert werden. 27 Damit werden einzelne Journalismus-Aspekte bzw. -Definitionen

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Zum Phänomen Qualität im Journalismus siehe Kapitel 2.

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nicht ausgeschlossen. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass Comics gewisse Anforderungen erfüllen müssen, um unter die Bezeichnung Comic-Journalismus zu fallen. Die im Folgenden dargestellte Definition von Comic-Journalismus zeigt nicht, welche Anforderungen ein Comic-Journalist oder eine Comic-Journalistin erfüllen muss. Eine konkrete Beschreibung der Aufgabenfelder, Qualifikationen usw. einer ComicJournalistin oder eines Comic-Journalisten scheint nicht sinnvoll, da ComicJournalistinnen und -Journalisten in der Praxis in einigen Fällen sowohl recherchieren und texten als auch zeichnen. In anderen Fällen werden die Aufgaben auf zwei oder mehrere Personen aufgeteilt. Als Comic-Journalistinnen und -Journalisten sollen in der vorliegenden Arbeit daher unscharf all jene Personen beschrieben werden, die wesentlich dazu beitragen, dass ein comic-journalistisches Werk entsteht.

4.3 Comic-Journalismus: Der Comic-Begriff von McCloud erweitert um journalistische Qualitätskriterien Der Begriff „Comic-Journalismus“ besteht augenscheinlich aus zwei wesentlichen Aspekten, er bildet eine Kombination aus „Comic“ und „Journalismus“. Es scheint daher zunächst logisch, für eine Definition jeweils eine oder mehrere Definitionen der Begriffe „Comic“ und „Journalismus“ zusammenzuführen. Für den Comic-Aspekt des Begriffs soll auf die Comic-Definition von McCloud (1993, S. 9) zurückgegriffen werden (siehe Kapitel 3.1.2); McClouds Comic-Definition wird dabei aus dem Englischen übersetzt (vgl. McCloud, 2001, S. 17). Da der „Journalismus-Aspekt“ des Begriffs „ComicJournalismus“ schwer fassbar ist (siehe Kapitel 4.2) wird diese Hälfte des Terminus anhand journalistischer Qualität skizziert. So ergibt sich folgende Definition für den Begriff Comic-Journalismus: Comic-Journalismus bezeichnet zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln sollen und eine ästhetische Wirkung bei der Betrachterin bzw. dem Betrachter erzeugen können. Das Ziel der Informationsvermittlung steht über jenem der ästhetischen Wirkung. Die Zeichen müssen wissenschaftlich publizierte journalistische Qualitätskriterien jedenfalls teilweise und idealerweise bestmöglich erfüllen.

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Was Comic-Journalismus ist bzw. inwieweit ein Werk als Comic-Journalismus bezeichnet werden darf, hängt nun davon ab, ob journalistische Qualitätskriterien angewandt und inwieweit diese erfüllt werden. Ein Schwachpunkt dieser Definition besteht darin, dass der Begriff „ComicJournalismus“ als Überbegriff festgelegt wird, ohne die Unterbegriffe zu benennen bzw. zu konkretisieren. So kann auch ein Werk als Comic-Journalismus bezeichnet werden, wenn es journalistische Qualitätskriterien nur teilweise erfüllt. Gleichzeitig kann ein Werk, das die Qualitätskriterien bestmöglich erfüllt, ebenfalls als Comic-Journalismus bezeichnet werden. Dass sich diese Werke in ihrer journalistischen Qualität unterscheiden, wird durch die Definition nicht deutlich. Durch den von McCloud übernommenen Aspekt der Sequenzialität schließt die verwendete Definition politische Cartoons bzw. Karikaturen sowie Illustrationen weitgehend aus. Erstrecken sich Cartoons, Grafiken oder Illustrationen allerdings über mehrere Panels oder wird auf eine andere Weise Sequenzialität hergestellt, können sie unter die Bezeichnung Comic-Journalismus fallen.28 Eine Problematik, die mit der Definition von McCloud übernommen wird, ist die Abgrenzung zum (interaktiven) Bewegtbild bzw. zum Computerspiel. Für Werke des Comic-Journalismus bedeutet dies, dass die Definition keine Abgrenzung zu animierten Grafiken bzw. Illustrationen vornimmt. Beispiele für animierte journalistische Comics gibt es einige.29 Auch auf andere Formen der Multimedialität wird nicht eingegangen, etwa auf Kombinationen aus Comics und Audio-Inhalten.30 Da die Definition auch nicht auf Interaktivität eingeht, findet keine Abgrenzung zum Genre der „Newsgames“ statt.31 Allerdings weisen einige journalistische Comics darauf hin, dass sich das Medium Comic gut eignet, durch interaktive Elemente erweitert zu werden.32 Die dargestellte Journalismus-Definition bindet Comic-Journalismus nicht an ein bestimmtes Genre oder Thema. Damit können sowohl Werke, die als Comic-Reportage bezeichnet werden, als auch autobiografische Comics sowie Tagebuchcomics, Sachcomics, Literatur- und Geschichtscomics als Comic-Journalismus bezeichnet werden. 33

Siehe dazu exemplarisch: Mangold/Pacinotti (2013). Siehe dazu exemplarisch: Adams/Guardian US interactive team/McCann (2012), Corum/G.V./Holmes/Williams (2013), Huang/Huang (2012) und Polgreen (2013 sowie 2012a und 2012b). 30 Siehe dazu exemplarisch: MacNaughton/Standen (2011), Polgreen (2013 sowie 2012a und 2012b) und Radl (2012). 31 „Newsgame“ ist laut Bogost/Ferrari/Schweizer (2010, S. 6) „[...] a term that names a broad body of work produced at the intersection of videogames and journalism.“ 32 Siehe dazu exemplarisch: Archer (2013 sowie 2011a) und Polgreen (2013 sowie 2012a und 2012b). 33 Für Definitionen dieser Genres siehe Kapitel 3.4. 28 29

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Voraussetzung dafür ist, dass die Werke wissenschaftlich publizierte journalistische Qualitätskriterien jedenfalls teilweise und idealerweise bestmöglich erfüllen.

4.4 Fehlende Qualitätssicherung im Comic-Journalismus Mit der in Kapitel 4.3 dargestellten Definition von Comic-Journalismus gehen drei wesentliche Fragen einher: Welche wissenschaftlich publizierten journalistischen Qualitätskriterien werden angewandt? Wie können diese durch die Comic-Journalistinnen und Comic-Journalisten bzw. jene Akteurinnen und Akteure, die an der Produktion des Comics beteiligt sind, erfüllt werden? Und wie kann beurteilt werden, inwieweit jene Akteurinnen und Akteure die Qualitätskriterien erfüllen? In der Praxis werden diese Fragen recht unterschiedlich beantwortet. Zwar sind sich die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der im Zuge der vorliegenden Arbeit durchgeführten Befragung darin einig, dass Comic-Journalistinnen und -Journalisten keine Ereignisse, Personen oder Zitate erfinden sollten (siehe Kapitel 7.3 ). Die Frage, ob es Comic-Journalistinnen und ComicJournalisten für Leserinnen und Leser ersichtlich machen sollen, wenn sie ein Ereignis nicht selbst erlebt haben, wird allerdings recht unterschiedlich beantwortet. Verschiedene Sichtweisen gibt es auch hinsichtlich der Frage, ob und wie Quellen bzw. Bezugsmaterial transparent zu machen sind. Die Vielfalt der Meinungen zeigt sich auch in Werken, die üblicherweise dem ComicJournalismus zugeschrieben werden. Hier wird mit der Bewertung von journalistischen Quellen, der künstlerischen Freiheit bei der Darstellung von Fakten und der Quellentransparenz sehr unterschiedlich umgegangen.34 In der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld „journalistische Qualität“ bzw. mit journalistischen Standards im Comic-Journalismus findet sich eine Argumentationslinie besonders häufig: Comic-Journalismus sei grundsätzlich subjektiv. So erklärt Ale Dumbsky (2012), Herausgeber des Read Magazine, auf Anfrage per E-Mail (siehe Anhang):

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Siehe dazu exemplarisch Delisle (2012), Sacco (2012, 2011, 2010 und 2009) sowie Jysch (2012),

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„In den Seminaren, die ich zum Thema gebe, weise ich ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei GJ [Graphic Journalism; Synonym für Comic-Journalismus; Anm.] um subjektiven Journalismus handelt, der sich außerhalb der Kriterien, was man so journalistische Qualität nennt, bewegt und so an der Schnittstelle von Journalismus und Literatur zu verorten ist.“ (Dumbsky, 2012) Comic-Journalist Josh Neufeld (2012) hält dazu in einem Interview fest: „[...] I guess this isn’t traditional journalism. It’s a hybrid of journalism, historical research, and art.“ Und weiter führt er aus: „In my opinion, comics journalism has some leeway that other types of journalism may not. It’s a mixture of journalism and art, and to me the ,art‘ part gives license to reconstruct some scenes – if it serves the truth of the larger story.“ (Neufeld, 2012)35 Polgreen/Rice (2012), die Herausgeberinnen des Comic-Journalismus-Magazins Symbolia Magazine sprechen sich für Transparenz anstelle von Objektivität aus: „[...] we don't believe in objectivity. Instead, we believe in transparency – providing information about the person reporting, as well as how the story came to be.“ Ziel ist es damit nicht, journalistische Objektivität zu erfüllen, sondern Subjektivität transparent zu machen. Dieser Sichtweise muss entgegengehalten werden, dass „transparente Subjektivität“ zwar als Ersatz für „Ausgewogenheit“, „Vielfalt der Blickwinkel“, „Trennung von Nachricht und Meinung“ usw. gelten kann, als Ersatz für Qualitätskriterien bzw. Aspekte von Qualitätskriterien wie „Faktentreue“, „Aktualität“, „Originalität“ usw. allerdings ungeeignet erscheint. Konkret bedeutet dies beispielsweise, dass eine Comic-Journalistin bzw. ein Comic-Journalist, die bzw. der sich einer transparenten, subjektiven Darstellung von Ereignissen verschrieben hat, durchaus eine persönliche Sichtweise einnehmen kann; allerdings ist es nicht gerechtfertigt, dass sie bzw. er Ereignisse erfindet, Fakten manipuliert, Ort- und Zeitangaben verändert usw.

4.5 Comic-Journalismus als gezeichneter New Journalism Die in Kapitel 4.4 dargestellte Sichtweise von Comic-Journalismus als grundsätzlich subjektives Medium erinnert stark an Diskussionen zum „New Journalism“. Dieser „[...] versteht sich als Gegenkonzept zum Informationsjournalismus und dessen Objektivi35

Hinsichtlich des hier angesprochenen Aspekts „lager truth“ bzw. „essential truth“ siehe Kapitel 6.1.1.

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tätsglauben“ (Haas, 2004, S. 44). Typisch für den amerikanischen „New Journalism“ der 1960er und 1970er Jahre war unter anderem „[...] die Mischung aus Fakten und Fiktion zu Themen, die der Alltagswirklichkeit entnommen sind, und die oft zentrale Stellung der Verfasser in der Story.“ (Haas, 2004, S. 47). „New Journalism“ bedeutet allerdings keine Berechtigung für schlecht recherchierte oder gar erfundene Geschichten – im Gegenteil. Denn für Werke des „New Journalism“ sind intensive, meist zeitaufwändige Recherchen nötig, da anstelle einzelner, oberflächlicher Fakten bzw. Details des Erzählten die Recherche und der Rechercheprozess wesentliches Kriterium sind (vgl. Haas, 2004, S. 59-61). Damit verbunden sind eine exakte Quellenangabe und ein hohes Maß an Transparenz (vgl. Haas, 2004, S. 61). Die Darstellung des Rechercheprozesses und des subjektiven Erlebens schafft Transparenz, ist zugleich aber auch erzähltechnisches Mittel. Haas (2004, S. 61) formuliert in diesem Zusammenhang einen Satz, der auch für Joe Sacco (2012, 2011, 2010 und 2009), Art Spiegelman (2011a) und viele andere ComicJournalistinnen und -Journalisten gelten kann: „Der Leser wird durch die Rekonstruktion der Recherche in diese miteinbezogen, sie bietet sich als roter Faden für die Architektur der Story an und schafft so Rahmen und Zusammenhang für die Fakten. Dazu trägt auch die erzählerische Präsenz des Autors im Text bei.“ (Haas, 2004, S. 61) „New Journalism“ zeichnet sich auch dadurch aus, dass häufig bestimmte Themen gewählt werden. So stellt Bleicher (2004, S. 143-144) fest, dass sich deutschsprachige Texte des „New Journalism“ meist um Bereiche sozialer Wirklichkeiten drehen, die den Leserinnen und Lesern verschlossen sind, um Reisen sowie andere Kulturen oder um das Leben von Prominenten. Auch viele Werke des Comic-Journalismus setzten sich mit diesen Themenfeldern auseinander.36 Die dargestellten Gemeinsamkeiten zwischen dem Genre „New Journalism“ und vielen journalistischen Comics dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich nichtfiktionale Comics auch mit anderen Themen – etwa aus der Wissenschaft, aus der Geschichte oder auch mit Alltags-Themen – auseinandersetzen und die Erzählerinnen bzw. Erzähler dabei nicht immer als Figur im Comic vorkommen müssen.37 Es ist daher nicht nachvollziehbar, weshalb die Regeln des „New Journalism“ für sämtliche Werke des Co36 Beispielsweise Delisle (2012), Rall (2002) sowie Sacco (2012, 2011, 2010 und 2009) mit fremden Kulturen, Igort (2012) mit fremden sozialen Wirklichkeiten oder Donna et al. (2011) mit prominenten (historischen) Persönlichkeiten. 37 Siehe dazu exemplarisch: Fagerstrom/Smith (2011), Groves/Robinson (2012) sowie Hamann/Leinfelder/ZeaSchmidt (2013).

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mic-Journalismus übernommen werden sollten. Vielmehr ist es sinnvoll, comicjournalistische Werke im Stil des „New Journalism“ als Teil bzw. Sub-Gruppe des Comic-Journalismus zu begreifen. Das Infragestellen des faktenorientierten Vorgehens sowie des Objektivitätsbegriff kann nicht zur Regel für den Comic-Journalismus werden, sondern stellt – wie auch im traditionellem Journalismus – eine „Sonder-Form“ dar (siehe Abbildung 4).

Abhängig von

Journalismus

Objektivität, Faktentreue

ComicJournalismus

den gewählten QualitätsKriterien

New Journalism

NewSubjektivität, Transparenz

JournalismComic

Abbildung 4. New-Journalism-Comic als Subgenre des Comic-Journalismus. Verortung der Begriffe sowie häufig genannte wesentliche Qualitätskriterien (eigene Darstellung). Inwieweit ein „New-Journalism-Comic“ hinsichtlich der in Kapitel 4.3 dargestellten Definition als Comic-Journalismus bezeichnet werden kann, hängt von den verwendeten, wissenschaftlich publizierten Qualitätskriterien ab bzw. inwieweit diese erfüllt werden. Misst man die journalistische Qualität eines Comics anhand der Qualitätskriterien von Ruß-Mohl (1992, S. 86), kann ein New-Journalism-Comic nur bedingt als ComicJournalismus gelten, wenn Objektivität und Faktentreue nicht bzw. unzureichend vorhanden sind. Inwieweit die Bezeichnung Comic-Journalismus in diesem Zusammenhang gerechtfertigt ist, hängt vom konkreten Werk ab. Erfüllt dieses andere Qualitätskriterien ideal (etwa Komplexitätsreduktion, Transparenz usw.), scheint die Bezeichnung durchaus gerechtfertigt. New-Journalism-Comics sind damit hinsichtlich ihrer Definition in einem schwer fassbaren Grenzbereich angesiedelt – wie auch Werke des New-Journalism gegenüber dem Journalismus.

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4.6 Zusammenfassung Von Praktikerinnen und Praktikern werden Aspekte des Comic-Journalismus zwar diskutiert, eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema fehlt allerdings weitgehend; die Betrachtung des Phänomens konzentriert sich hier, wenn überhaupt vorhanden, meist ausschließlich auf die Comic-Reportage (im Englischen häufig als „comics journalism“ bezeichnet). Comics können aber auch gänzlich ohne ReportageElemente auskommen. Viele Werke, die sich journalistisch mit einem Thema auseinandersetzen, lassen sich auch als „autobiografische Comics“ sowie als „Sachcomics“ beschreiben. Die im Zuge der vorliegenden Arbeit durchgeführte, nicht repräsentative Umfrage zeigt, dass die Auffassungen der Befragten darüber, wie Comic-Journalismus bzw. comics journalism zu definieren ist und welche journalistischen Standards eingehalten werden müssen, stark variieren. Der Begriff Comic-Journalismus wird einerseits über die Comic-Definition von McCloud (1993, S. 9) definiert; andererseits über die Thematisierung der mit den jeweiligen Werken verbundenen journalistischen Qualitätskriterien. Comic-Journalismus bezeichnet daher zu räumlichen Sequenzen angeordnete oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln sollen und eine ästhetische Wirkung beim Betrachter bzw. der Betrachterin erzeugen können. Das Ziel der Informationsvermittlung steht über jenem der ästhetischen Wirkung. Die Zeichen müssen wissenschaftlich publizierte journalistische Qualitätskriterien jedenfalls teilweise und idealerweise bestmöglich erfüllen. Die Definition lässt unterschiedliche Auffassungen von Journalismus zu, fordert allerdings, dass sich konkrete Werke an wissenschaftlich publizierten journalistischen Qualitätskriterien messen. Damit ist auch eine Aufforderung zu Transparenz verbunden: Es muss deutlich gemacht werden, auf welche Qualitätskriterien Bezug genommen wird, wenn ein Werk als Comic-Journalismus bezeichnet werden soll. In der Praxis wird häufig die Meinung vertreten, Comic-Journalismus sei zwar journalistisch, zugleich aber auch subjektiv; Objektivität werde durch transparente Subjektivität ersetzt. Diese und ähnliche Sichtweisen legen nahe, Comic-Journalismus im Sinne des „New Journalism“ zu verstehen. In der vorliegenden Arbeit wird Comic-Journalismus allerdings als Überbegriff festgelegt; jene Comics, die sich im Stil des „New Journalism“ mit Themen auseinandersetzen, werden als New-Journalism-Comic bezeichnet und als Subgenre verstanden.

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