3. FEBRUAR 2012, HAMM

Kultur in der Fläche BEITRÄGE ZUM KULTURPOLITISCHEN DISKURS GSTAGUN TATION EN , DOKUM R 2012 A U R B 2./3. FEHAMM Kultur in der Fläche BEITRÄGE ZUM ...
Author: Gert Lenz
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Kultur in der Fläche BEITRÄGE ZUM KULTURPOLITISCHEN DISKURS GSTAGUN TATION EN , DOKUM R 2012 A U R B 2./3. FEHAMM

Kultur in der Fläche BEITRÄGE ZUM KULTURPOLITISCHEN DISKURS GSTAGUN TATION EN 012, DOKUM UAR 2 R B E F 2./3. HAMM

Gütersloher Appell

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Positionspapier Kulturfinanzierung im kreisangehörigen Raum /6 Tagungsdokumentation Kultur in der Fläche, 2./3. Februar 2012, Hamm /7 Rede / Ute Schäfer

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Rede / Dr. Dagmar Goch

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Rede / Prof. Dr. Christoph Zöpel Arbeitsgruppe / Kultur und Kulturelle Bildung

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Arbeitsgruppe / Kultur als harter Standortfaktor

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Arbeitsgruppe / Chancen und Strategien intraund interkommunaler Kooperation

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Arbeitsgruppe / Mobilitätsfragen des Kulturangebots Arbeitsgruppe / Kultur und Kulturtourismus

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Kulturpolitisches Forum / WDR 3 Impressum

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3 Inhalt

Kunst und Kultur bieten dem Individuum Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten jenseits seiner Rolle und Funktion als Arbeitskraft und Konsument.

Für die demokratische Gesellschaft

Gütersloher Appell Aus Anlass des 30-jährigen Bestehens des Kultursekretariats NRW Gütersloh von der Ständigen Konferenz verabschiedet im September 2010

Das politische und gesellschaftliche Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland basiert in besonderer Weise auf ihren kulturgeschichtlichen Traditionen. Kunst und Kultur sind daher kein Selbstzweck, sondern von großer gesellschaftspolitischer Relevanz, d. h. alternativlos für den Bestand und die Entwicklung jeder demokratisch bestimmten Gesellschaft. Gerade in einer Phase gravierender sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche, angesichts dramatischer Verwerfungen im gesellschaftlichen Konsens, in Erwartung inzwischen unumkehrbarer demographischer Veränderungen, tragen Kunst und Kultur dazu bei, „konkrete Utopien“ zu entwickeln, die unserer Gesellschaft ein humanes Gesicht geben. Kulturpflege und -förderung ist somit ein wesentlicher Aspekt gesellschaftlicher Reformfähigkeit.

Kunst und Kultur: Pflichtaufgabe Für alle Kommunen

(Stadt)Gesellschaft mit Kultur entwickeln – Kulturperspektiven 2020 für NRW Kunst und Kultur: unverzichtbar Für das Individuum Die Begegnung mit künstlerischen Ausdrucksformen – aktiv und rezeptiv – wirkt persönlichkeitsbildend. Sie befördert Kreativität und Fantasie, sie vermittelt Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, sie entwickelt Zutrauen in die eigenen schöpferischen Potenziale. Sie begründet und prägt menschliche Individualität. Erst das selbstverständliche Aufwachsen im täglichen Umgang mit Kunst und Kultur verhilft dem Individuum zur Sinn- und Selbstbestimmung und gibt als kultureller Kompass die notwendige Orientierung zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen in einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft. So verhilft die Prägung durch Kunst und Kultur zur individuellen Emanzipation wie zur sozialen Teilhabe.

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Kaum ein anderer Faktor prägt so sehr das Erscheinungsbild einer Stadt wie ihre Wahrnehmung als Kulturstadt. Kultur ist weit mehr als ein Standortfaktor, sie ist der Imageträger einer Stadt. Daher sind die unterschiedliche Gewichtung und Ausprägung kommunaler Kunstförderung und kommunal finanzierter Kulturangebote ein herausragendes Privileg und Ausdruck gemeindlicher Selbstverwaltung, allerdings nicht verstanden als prinzipiell beliebig oder gar verzichtbar. Kunst und Kulturförderung sind integraler Bestandteil jeder zukunftsweisenden Stadtentwicklung. Nicht nur in den klassischen Segmenten Bildung und Freizeit, sondern auch in den Bereichen Soziales, Integration, Tourismus und Wirtschaftsförderung. Damit löst ein solches, synergetisch ausgerichtetes Verständnis das traditionelle Spartendenken endgültig ab. Als eine der großen Querschnittsaufgaben in der Stadtentwicklung werden Kunst und Kultur so die tolerante und innovationsbereite, kurz: die lebendige Stadtgesellschaft stimulieren, um dem freien, auch widerständigen und quer liegenden künstlerischen Schaffen alle Stadttore zu öffnen. In einer solchen Stadt findet sich eine vielfältige Mischung, finden sich die kreativen Milieus produktiver Gegensätze, z. B. in junger Kunst und der Kunst vergangener Epochen, in Alltagskultur und Spitzenkultur, in experimentellen Wagnissen und mutigem Realitätssinn, in Leichtigkeit und Tiefe, in populären Festen und Projekten von Weltrang, in Zukunftsvisionen und historischem Bewusstsein, in Interaktivität und Partizipation, in innovativer Stadtgestaltung und nachhaltiger Denkmalpflege. Den kommunalen Kulturauftrag so zu verstehen, bedeutet einen fest umrissenen Förderkanon zu sprengen und durch die Schaffung von Kulturräumen zu ersetzen. Das schafft Lebendigkeit, Offenheit und ein Klima der Toleranz – Eigenschaften, die nicht nur Anreiz zum

Wohnen und Arbeiten in der Stadt bieten. Sie sind vielmehr für eine multikulturelle Stadtgesellschaft von existenzieller Bedeutung geworden. Daraus ergeben sich alte und neue Handlungsnotwendigkeiten kommunaler Kunst- und Kulturförderung: — Erhalt und Ausbau der kulturellen Infrastruktur, Netzwerkbildung mit den kreativen Milieus und den verschiedenen kulturellen und künstlerischen Akteuren in der Stadt. — Bereitschaft, die kulturelle Infrastruktur zu verändern und zu öffnen, auszutarieren zwischen der Bewahrung des kulturellen Erbes und künstlerischer Innovation; Raum zu geben für neue Kunst- und Kulturformen, veränderten Nachfragen nach kulturellen Angeboten Rechnung zu tragen, die sich aus einer veränderten Zusammensetzung der Stadtgesellschaft ergeben, um soziale Ausschließungen von Kulturteilhabe zu vermeiden. — Aufbau und Intensivierung der Kooperationsstrukturen mit Sozial-, Bildungs- und Kulturarbeit und ebenso mit Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing. — Unbedingte Bereitschaft zur Interkommunalen Kooperation im Zuschnitt der nordrhein-westfälischen Regionen, des Städte- und Gemeindebundes sowie des Städtetages, insbesondere innerhalb des Kultursekretariats. — Kooperationen, die bereits zu effektivem Mitteleinsatz, zur erheblichen Mitfinanzierung und zu Qualitätsschüben führten und die durch Intensivierung zu weiteren positiven Effekten führen werden.

auswirken und zu einer abgestimmten, d. h. sinnvoll ineinandergreifenden Kulturpraxis in unserem Land führen Einen ersten Schritt zu einer solchen Entwicklungspartnerschaft könnte die Bildung einer Arbeitsgruppe darstellen, die sich in naher Zukunft zu einer ersten Klausurtagung trifft.

Dr. Dagmar Goch Vorsitzende der Ständigen Konferenz Volker Rübo Stellv. Vorsitzender der Ständigen Konferenz Meinolf Jansing Geschäftsführer Andreas Kimpel Kulturdezernent Stadt Gütersloh Axel Sedlack Kulturdezernent Stadt Unna

Als gemeinsames Handlungsfeld von Stadt und Land Die Frage der kulturellen Entwicklung unseres Landes und damit auch der Kommunen wurde in der Vergangenheit auf verschiedenen Ebenen begutachtet und in einer Reihe von Publikationen dargelegt (Expertengutachten des Landes, Landschaftsverband etc.). Allen gemeinsam ist die Suche nach dem künftigen Kulturprofil des Landes, seiner Regionen und seiner Städte, das sich dort in Form mannigfaltiger Handlungs- und Projektvorschläge manifestiert. Demgegenüber blicken die Mitgliedsstädte des Kultursekretariats NRW Gütersloh auf eine 30jährige, weitgehend gemeinsame Kulturpraxis zurück. Darin enthalten sind vielfältige Erfahrungen, z. B. auf den wichtigen Feldern der kulturellen Bildung, der Interkulturalität, der Förderung der Breitenkultur, der Kinderund Jugendkultur sowie der nachhaltigen Förderung künstlerischen Schaffens. Die Mitgliedsstädte unterbreiten der Kulturabteilung des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport deshalb den Vorschlag, – im Sinne dieses Appells – gemeinsam ein mittelfristiges Handlungs- und Förderkonzept für NRW zu erarbeiten. Dies ließe sich – bei Bedarf – zu einem „Masterplan NRW 2020“ erweitern. Das könnte sich sehr effizient auf die jeweils zur Verfügung stehenden Personal- und Finanzressourcen

5 Gütersloher Appell

Ziele der Landeskulturförderung Für die Städte und Gemeinden sollen folgende Ziele bei der Landeskulturförderung verfolgt werden:

Positionspapier Kulturfinanzierung im kreisangehörigen Raum Verabschiedet vom Hauptausschuss des Kultursekretariats NRW Gütersloh in seiner 123. Sitzung, am 22. September 2011, in Berlin

— In NRW ist eine flächendeckende Kulturförderung seitens des Landes notwendig. — Dabei ist die Förderung von Kultur und Kunst selbst in den Blick zu nehmen. Ziel ist es, eine nach vorne gerichtete, für Weiterentwicklung und Innovation offene Kulturpolitik zu verwirklichen. — Die Bezuschussung erfolgt grundsätzlich über Pauschalen. Für einzelne Vorhaben steht darüber hinaus eine einzelfallbezogene Förderung zur Verfügung. — Als Förderungsvoraussetzungen sollen Standards entwickelt werden, die jedoch keine inhaltlichen Vorgaben oder Kooperationsfestlegungen enthalten. — Die regionale Kulturförderung soll weiter gestärkt werden. Die Teilnahme der Kommunen ist freiwillig. — Die haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen dafür sollen geschaffen werden, dass auch Städte und Gemeinden im Nothaushaltsrecht bzw. in der Haushaltssicherung eine angemessene Kulturarbeit leisten können.

Fallbeispiel: Bespieltheater

Grundsätzliches Die kulturpolitische Diskussion in NRW konzentriert sich seit einiger Zeit auf Landes- wie auf kommunaler Ebene auf die Sicherung der großen Kultureinrichtungen in den kreisfreien Städten. Eine vergleichbare Diskussion um Kunst und Kultur im kreisangehörigen Raum findet dagegen nur in Ansätzen statt. Aber auch hier wird eine umfängliche Kulturinfrastruktur vorgehalten. Dazu zählen Spielstätten mit ambitionierten Programmen, Galerien und Museen, aber auch zahlreiche Festivals und Kulturprojekte. Diese kulturelle Infrastruktur außerhalb der Metropolen ist wesentlicher Bestandteil der Kultur in NRW, sie ist für den Erhalt von Kunst und Kultur im gesamten Land NRW ebenso unverzichtbar wie sie Voraussetzung für Kulturelle Bildung und ein erfolgreiches Bestehen im interkommunalen Wettbewerb ist. Die allgemeine Finanzkrise der Kommunen ist hinlänglich bekannt, sie hat längst auch den kreisangehörigen Raum erreicht: nur 8 von 430 Städten und Gemeinden/Gemeindeverbänden in NRW konnten im Jahre 2010 einen ‚echten’ Haushaltsausgleich erreichen. Eine zusätzliche Belastung der kreisangehörigen Städte und Gemeinden durch neue gesetzliche Vorschriften zeichnet sich derzeit ab. Infolge der haushaltsrechtlichen Vorgaben ist seit Längerem eine anhaltende Ausdünnung der kulturellen Einrichtungen und Programme und eine Kürzung der Projektmittel im Gange.

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Die aktuell am Beispiel von drohenden Theaterschließungen geführte Debatte um die kommunalen Kulturhaushalte macht die Schieflage in der Wahrnehmung der NRW-Kulturlandschaft besonders transparent. NRW ist das Land der Städte, nicht nur der großen. Der hohe finanzielle Aufwand mittlerer und kleinerer Städte, der erheblich zum kulturellen Gesamtbild des Landes beiträgt, kann exemplarisch am Beispiel der Bespieltheater veranschaulicht werden. — Die NRW-Theaterszene gilt als die dichteste weltweit. Dies trifft ebenso auf den Gastspielsektor zu. — Die NRW-Theaterlandschaft wird im Unterschied zu anderen Bundesländern überwiegend von den Kommunen finanziert. Im Gefolge der kommunalen Finanzkrise ist sie daher auch besonders gefährdet. — Um existentielle Gefährdungen abzuwenden, haben Ensembletheater-Städte einen Bestandspakt vom Land gefordert mit dem Ziel, eine Landesfinanzierung von 20 % der Betriebskosten (≈ mindestens 60 Millionen Euro) vorzusehen. Die Landesregierung hat daraufhin die Betriebskostenzuschüsse für Stadt- und Landestheater um 4,5 Millionen Euro erhöht (≈ 14,5 + 4,5 = 19 Millionen Euro). Damit hat das Land die bisherige Land-Stadt-Aufteilung in der Theaterfinanzierung verlassen. — Der Bestandspakt ebenso wie der Entwurf des Theaterpaktes fordern mit gleicher Dringlichkeit eine Strukturdebatte über die zukünftige Theaterlandschaft NRW. Neben den Ensembletheatern sollten auf der produzierenden Seite die „Freie Szene“ ebenso beteiligt werden wie der Gastspielsektor auf der Veranstalterseite. Gleiches gilt für die inzwischen konstituierte Theaterkonferenz, will sie dem Anspruch gerecht werden, die Theaterlandschaft NRW in ihrer Gesamtheit und Vielfalt darzustellen.

Tagungsdokumentation

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R 201 A U R B E 2.–3. F HAMM

Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen

Ute Schäfer

Kultur in der Fläche – Aufgaben und Herausforderungen für die Landeskulturpolitik in NordrheinWestfalen Die heutige Tagung ist eine gute Ergänzung zu der Veranstaltung „Kultur im Land der Städte“ – auch eine notwendige Ergänzung. Denn obwohl die Veranstalter – zu denen unter anderem das Kultursekretariat NRW Gütersloh gehörte – auch bei der Tagung im September in Berlin den Anspruch hatten, eine umfassende kulturpolitische Debatte zu führen, rückten wie von selbst immer wieder die Probleme der großen Kulturinstitutionen in den Mittelpunkt der Debatte. „Leuchttürme“ werfen eben auch große Schatten. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Über die Zukunft der großen Theater und Orchester zu sprechen ist nötig, und mir selbst ein wichtiges kulturpolitisches Anliegen. Aber mehr als jeder zweite Einwohner/jede zweite Einwohnerin von NordrheinWestfalen lebt in einer kleineren kreisangehörigen Stadt oder Gemeinde. Wir wissen, dass die Qualität

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des kulturellen Lebens in Nordrhein-Westfalen auch in der Fläche hoch ist, dass bürgerschaftliches Engagement in den kleineren Kommunen oft eine große Rolle spielt und Vernetzung dort meist alltägliche Praxis ist. Aber wir wissen genauso, dass viele Kreise und kreisangehörigen Städte und Gemeinden unter einer angespannten Haushaltslage leiden. Und, dass es – verglichen mit großen Kulturprojekten – in der Regel wenig überregionale Aufmerksamkeit gibt, wenn irgendwo „in der Fläche“ die Öffnungszeiten des örtlichen Museums reduziert werden, ein Ausstellungsprogramm ausfällt oder die Gebühren für die Musikschule erhöht werden. Die Landesregierung hat die kulturelle Entwicklung in der Fläche sehr genau im Blick. Nicht nur, weil Nordrhein-Westfalen reich an herausragenden Einrichtungen jenseits der großen Städte ist: Denken Sie z. B. an das „MARTa“ in Herford, an das Künstlerdorf Schöppingen, an das Festival „Wege durch das Land“ in OWL und vieles andere. Sondern wir wollen vor allem auch, dass jede Bürgerin, jeder Bürger – vor allem auch Kinder und junge Menschen – an einem lebendigen, vielfältigen und anspruchsvollen Kulturangebot teilhaben kann. Die Sicherung der finanziellen Handlungsfähigkeit der Kommunen ist daher für uns auch ein kulturpolitischer Auftrag. Wir brauchen starke Kommunen – große und kleine. Sie sind in Nordrhein-Westfalen traditionell die wesentlichen Kulturträger und Förderer. Die Landesregierung hat in den zurückliegenden

Monaten zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Kommunen zu entlasten und auf ihrem Weg zur Haushaltskonsolidierung zu unterstützen: eine Soforthilfe in Höhe von 300 Millionen Euro noch in 2010, den Stärkungspakt Stadtfinanzen, die Veränderung des § 76 der Gemeindeordnung, um einige Beispiele zu nennen. Wir werden diesen Weg fortsetzen und uns auch auf Bundesebene dafür einsetzen, den Kommunen den ihrer wichtigen Rolle angemessenen Handlungsspielraum zurückzugeben. Das heißt auch: die Möglichkeit geben, Kulturpolitik aktiv zu gestalten. Und das wird immer wichtiger angesichts des demografischen Wandels, von dem die Kommunen „in der Fläche“ besonders betroffen sind. Ich bin dem Kultursekretariat NRW Gütersloh, dem Landesverband der Musikschulen und dem Verband der Bibliotheken sehr dankbar, dass sie dieses Thema bei dieser Tagung aufgreifen: ein Thema, das in seiner Tragweite oft noch nicht erfasst wird. Wir hatten dazu vor kurzem auch eine sehr aufschlussreiche hausinterne Veranstaltung, bei der wir die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Kultur und unsere kulturpolitischen Strategien in den Blick genommen haben. Der demografische Wandel ist und bleibt ein wichtiges Thema der Landeskulturpolitik. Er vollzieht sich zwar leise, dafür unumkehrbar und durchgreifend in seinen Auswirkungen auf unser Land: Bis zum Jahr 2030 wird die Bevölkerung in NordrheinWestfalen von fast 18 Millionen um 3,7 % auf etwa 17,3 Millionen zurückgehen. Die Geburtenzahlen verringern sich in diesem Zeitraum um 8 % und die Altersstruktur verändert sich gravierend: während die unter 20-Jährigen 2008 noch einen Anteil von 20,4 % an der Bevölkerung hatten, werden es 2030 nur wenig mehr als 17 % sein, während der Anteil der über 65-Jährigen auf 27,3 % steigt. Schon heute hat jeder vierte Jugendliche eine Migrationsgeschichte, bald wird es jeder/jede dritte sein. Hinzu kommt: Der Abstand zwischen den höchsten und niedrigsten Einkommensgruppen nimmt zu, die Durchmischung nimmt ab. Zunehmend verteilen sich die Menschen räumlich nach sozialen Kriterien: es gibt ein Nebeneinander von armen und reicheren, von wachsenden und schrumpfenden Stadtteilen, Städten und Regionen. Alle genannten Faktoren sind auf komplexe Weise miteinander verknüpft und können sich gegenseitig verstärken. Der demografische Wandel wird sich deshalb „in der Fläche“ unterschiedlich ausprägen. Als Folge wird der Wettbewerb um junge gut ausgebildete Menschen, um Investitionen – auch in Bildung und Kultur – und die Ansiedlung von Zukunftsbranchen zunehmen. Auf kommunaler und Landesebene wird es darauf ankommen, im Sinne der öffentlichen Daseinsvorsorge die Infrastruktur anzupassen, das heißt auch neue Schwerpunkte (wie Gesundheits- und Pflegeangebote) aus- und andere Leistungen zurückzubauen. Es wird in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch in der Kultur, darauf ankommen, langfristig und flexibel zu planen – „antizipierend“ wie die Veranstalter zutreffend geschrieben haben. Dabei ist es wichtig, sich über die Grundsätze klar zu sein, die die Planung leiten.

Drei Themen sind dabei von besonderer Bedeutung:

Kulturelle Bildung Die Förderung der Kulturellen Bildung ist ein Schwerpunkt der Landeskulturpolitik. Kulturelle Bildung schafft Voraussetzungen für die Teilhabe am kulturellen Leben, ist aber mehr. Kulturelle Bildung ist unverzichtbar für die Persönlichkeitsbildung: Wahrnehmung und Ausdruck werden geschult und dadurch freier, Talent kann sich zeigen und ausprägen, sie fördert Kreativität und soziale Intelligenz. Kulturelle Bildung sensibilisiert dafür, dass es unzählige Möglichkeiten gibt, Gedanken und Gefühle in eine Form zu bringen – jenseits der Kategorien ‚Richtig‘ oder ‚Falsch‘. Wie aktiv gerade kleine Städte und Gemeinden in der Kulturellen Bildung sind, zeigt die intensive Nutzung der Angebote des Gütersloher Kultursekretariats in diesem Bereich: Sommerleseclub, Kulturstrolche, Kinder- und Jugendtheater. Am Landesprogramm Kultur und Schule beteiligen sich kleine Kommunen von Beginn an mit großem Interesse. Auch bei unserem neuen Angebot Kulturrucksack sind schon im ersten Jahr Kreise und interkommunale Zusammenschlüsse dabei, obwohl es sicher nicht leicht war, die Bewerbung in der – zugegebenermaßen – knappen Zeit auf den Weg zu bringen. Und nicht zuletzt: im Wettbewerb um die besten kommunalen Gesamtkonzepte für kulturelle Bildung sind sie immer in der Spitzengruppe dabei: Altenberge, Hiddenhausen, Nettersheim, Neuenrade, Sendenhorst, Würselen und Senden, um nur einige zu nennen. Die kulturelle Bildungslandschaft in Nordrhein-Westfalen verdankt ihre Qualität und Dichte zu ganz wesentlichen Teilen „der Fläche“ – und ich werde mich dafür einsetzen, dass wir uns diesen kulturellen Reichtum bewahren.

Kulturelle Teilhabe Nordrhein-Westfalen kann nicht nur 22 öffentlich getragene Theater und 14 selbständige Orchester vorweisen, sondern auch mehr als 200 professionelle freie Theatergruppen, mehr als hundert freie Tanzkompanien, mehr als 100.000 aktive Mitglieder in Chören und Instrumentalgruppen, 159 öffentlich getragene Musikschulen, etwa 70 Kunstvereine und fast 1.700 kommunal oder kirchlich getragene Bibliotheken. Viele dieser Einrichtungen und die Menschen, die sie nutzen und unterstützen, sind „in der Fläche“ zuhause, im ländlichen Raum, in kleinen Städten und Gemeinden. Sie – und viele andere Akteurinnen und Akteure, die ich aus Zeitgründen leider nicht alle aufzählen kann – sind die Garanten für eine „Gleichwertigkeit“ der Lebensverhältnisse und zugleich sorgen sie für die Unterschiedlichkeit in der kulturellen Profilbildung. Gerade in kleineren Städten hat die kulturelle Infrastruktur oft ein unverwechselbares Profil, weil die Einrichtungen und Aktivitäten viel unmittelbarer mit dem Alltagsleben der Bewohner verbunden sind als das in einer Großstadt möglich ist. Ich halte diese Vielfalt für unverzichtbar. Sie lädt dazu ein, sich für Kunst und Kultur zu interessieren und zu engagieren. Natürlich muss es auch Möglichkeiten geben, das

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Theater- und Konzertangebot in der nahen Großstadt zu besuchen. Aber für kulturelle Teilhabe und für die Lebensqualität ist es entscheidend, ob Kunst und Kultur zum öffentlichen Leben gehören.

Kulturpolitische Kooperation Ich bin davon überzeugt, dass wir dem demografischen Wandel durch eine intensivere interkommunale und regionale Kooperation begegnen müssen. In der Zusammenarbeit liegen Möglichkeiten, kulturelle Qualität zu steigern, auch wenn andere Indikatoren sich rückläufig entwickeln. Als Flächenland hat Nordrhein-Westfalen die Potentiale bereits Mitte der 1990er Jahre erkannt und ein neues Förderprogramm zur Unterstützung der „Regionalen Kulturpolitik“ – kurz RKP – aufgelegt. Das Programm steht allen Kommunen offen, auch wenn sie nicht Träger klassischer Kultureinrichtungen oder Mitgliedsstädte der Kultursekretariate sind. Der demografische Wandel wird sich in den zehn Förderregionen des Programms unterschiedlich auswirken. Die größten Bevölkerungseinbußen wird bis 2030 nach derzeitigen Erkenntnissen der Hochsauerlandkreis hinnehmen müssen mit einer Abnahme um 13,4 Prozent, dicht gefolgt von der Kulturregion Südwestfalen mit einer Abnahme von 12,9 Prozent. Nur eine Region wird Bevölkerung gewinnen, das ist die Kulturregion „Rheinschiene.“ Eine Folge dieses „Weniger“ ist, dass das potenzielle Kulturpublikum abnimmt und zugleich die Kommunen weniger finanzielle Möglichkeiten haben, um den oft als freiwillig bezeichneten Bereich der Kunst und Kultur zu fördern. Hier wollen wir gegensteuern. Die Landesregierung hat das Programm Regionale Kulturpolitik um 500.000 Euro aufgestockt, um die Entwicklung von nachhaltig wirksamen Projekten zu unterstützen, die auf den demografischen Wandel reagieren. Auch wirtschaftlich starke Regionen wie das Münsterland, Ostwestfalen-Lippe oder Südwestfalen fragen sich, ob sie die Angebotsvielfalt künftig halten können. Sie wollen für junge Bürgerinnen und Bürger attraktiv bleiben, damit sie in der Region verbleiben oder zuziehen. Daher zielen jetzt schon viele Projektanträge der RKP darauf ab, innovative Angebote auch im „ländlichen“ Raum zu schaffen. Auch die Kulturschaffenden selbst wissen oft wenig über das Umland, aus dem ein Teil ihres Publikums stammt, und kennen die damit verbundenen Arbeitsmöglichkeiten kaum. Eine Reihe von Projekten widmet sich daher ausdrücklich dem „Kennenlernen“ des Naheliegenden. Das Förderprogramm „Regionale Kulturpolitik“ wird sich künftig noch deutlicher der Sicherstellung eines qualitätsvollen Kulturangebotes außerhalb der Ballungsräume durch Kooperation und Vernetzung stellen. Mit dem Programm zur „Regionalen Kulturpolitik“, der Förderung der Landestheater und -orchester, mit dem Ausbau der Kulturellen Bildung, der Unterstützung der Breitenkultur, des Ehrenamtes und nicht zuletzt des Kultursekretariats NRW Gütersloh wollen wir die Kultur in der Fläche nicht nur sichern, sondern weiterentwickeln.

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Das Kulturland Nordrhein-Westfalen ist an vielen Stellen im Wandel. Deshalb muss sich auch die Kulturpolitik „bewegen“: Wir wollen der Kulturförderung in Nordrhein-Westfalen mehr Sicherheit und mehr Gestaltungskraft geben und arbeiten intensiv an einem Kulturfördergesetz für das Land Nordrhein-Westfalen. Das neue Gesetz soll – und das ist bisher einmalig in der Bundesrepublik – für das gesamte Spektrum der Kunst, Kultur und Kulturellen Bildung gelten. Es soll deutlich machen, dass die Kulturförderung eine unverzichtbare gemeinsame Aufgabe des Landes und der Kommunen ist. Und es soll verbindliche, verlässliche Eckpunkte für die Landesförderung von Kunst, Kultur und Kultureller Bildung sowie für ihre qualitätvolle Weiterentwicklung schaffen. Wir diskutieren im Moment darüber, was ein Kulturfördergesetz leisten kann. In der ersten Märzhälfte werden wir das Thema mit den Akteurinnen und Akteuren aus dem Kulturbereich im Rahmen von fünf Regionalkonferenzen in unseren fünf Regierungsbezirken diskutieren. Einen wichtigen Diskussionsbeitrag haben die Mitgliedsstädte des Gütersloher Kultursekretariats mit dem aktuellen Positionspapier „Kulturfinanzierung im kreisangehörigen Raum“ geleistet. Nicht nur hier auf dieser Tagung, sondern auch im Rahmen der Erarbeitung des Kulturfördergesetzes wird darüber zu sprechen sein. Dazu gehört auch das Thema, welche Möglichkeiten bestehen, das Förderverfahren administrativ zu vereinfachen, zu entbürokratisieren: zum Beispiel durch die Einführung von Förderpauschalen, die den Städten unter bestimmten Voraussetzungen ohne die förmliche Ausweisung eines Eigenanteils zu gute kommen können. Es erwarten uns interessante Diskussionen in der Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen. Das wird nicht immer einfach sein. Aber ich muss Ihnen auch sagen: Ich finde es gut, dass in NRW wieder über Kultur debattiert wird – dass Kulturpolitik wieder spannend wird! Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen. Und ich danke Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Beiträge, Ihre Mitgestaltung, wenn es darum geht, unser Kulturland NRW im Wandel weiterzuentwickeln.

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Vorsitzende der Ständigen Konferenz des Kultursekretariats NRW Gütersloh, Bürgermeisterin der Stadt Hattingen

Dr. Dagmar Goch

Hattingen ist überall Die Berliner Tagung vom vergangenen September war wichtig und richtig, sie hat mit ihrem Titel „Kultur im Land der Städte“ und mit ihren inhaltlichen Beiträgen die nordrhein-westfälische Kulturszene zutreffend beschrieben und ihre Existenzgefährdung problematisiert. Im Blickpunkt des Interesses und der Einzelbeispiele lagen überwiegend die Metropolen, die großen Städte. Die Kulturlandschaft NRWs wird aber genauso geprägt von den Kommunen jenseits der Metropolen. Die Diskussion über die „großen Tanker“ wird unüberhörbar laut geführt und die kleinen Barkassen der Alltagskultur – die täglichen Fähren zwischen den Ufern der Fernsehschirme und der kommunalen Angebote – werden darüber vergessen. Die mediale Beobachtung der mittleren und kleinen Städte ist in der Regel erschreckend schwach. Die Kultur auf dem Land stirbt leise. Wir wollen heute und morgen der sehr differenzierten und qualitativ zum Teil durchaus ebenbürtigen Kulturszene in der Fläche eine Stimme geben, ihr zu einer besseren kulturpolitischen Wahrnehmung verhelfen und dadurch unsere Interessen und Konzepte auch in die aktuell geführte Diskussion um ein Landeskulturfördergesetz einbringen. Das Stadium dieses Gesetzgebungsverfahrens lässt den Zeitpunkt dieser Tagung als besonders geeignet erscheinen. Der nicht

zu überschätzende Einfluss der Neuen Medien, die Herausforderungen des demographischen Wandels und die absehbar nicht zu bewältigende Finanzklemme der kommunalen Haushalte stellen existenzielle Fragen an die kulturpolitisch Verantwortlichen, an die Veranstalter, an die Vermittler und Förderer von Kultur. Eine Selbstbesinnung, eine selbstkritische Standortbestimmung und verantwortungsvolle Planung sind notwendig, denn die flächendeckende Partizipation an kulturellen Angeboten ist akut gefährdet und deshalb wollen wir mit dieser Tagung antizipierende Handlungsempfehlungen entwickeln – an uns selbst und an das Land als Förderer gerichtet. Die Finanzkrise der Kommunen hat längst auch den kreisangehörigen Raum erreicht. An den Kämmerer, der die Schließung des Hallenbades verkündet, hat man sich schon gewöhnt. Schon sehr bald könnte er auch in der Bücherei das Licht ausknipsen, oder den Schlüssel zum Kulturzentrum ein letztes Mal umdrehen. Der in der Legislaturperiode 2005–2010 verdoppelten Kulturförderung des Landes und auch den in 2011 und 2012 um 3,95 bzw. 8,4 Millionen Euro gestiegenen Kulturfördermitteln stehen Nothaushalte in Zweidrittel der Kommunen gegenüber. Nur acht von 396 Städten und Gemeinden in NRW konnten im Jahre 2010 einen „echten“ Haushaltsausgleich erreichen. Infolge der haushaltsrechtlichen Vorgaben ist seit Längerem eine anhaltende Ausdünnung der kulturellen Einrichtungen und Programme und eine Kürzung der Projektmittel im Gange. Vielerorts werden Abos

11 Rede / Dr. Dagmar Goch

eingestellt, Öffnungszeiten drastisch gekürzt und Mitarbeiter von Kultureinrichtungen gefragt, ob sie auch anderweitig einsetzbar sind. Seit Jahren geschrumpfte Zuschüsse für kulturtragende Vereine werden gegen Null gefahren und so Skelette auf Diät gesetzt. Zusätzlich bedroht die restriktive Finanzaufsicht unter dem Titel der „freiwilligen Aufgabe“ den Kulturetat aller Städte aller Größenordnungen. Auch in diesem Punkt erwarten wir von dem neuen Kulturfördergesetz Flankenschutz – und dieser martialische Terminus ist angesichts der alltäglichen Grabenkämpfe mit den lokalen und übergeordneten Haushaltshütern leider nur zu berechtigt. Am Beispiel Hattingens lässt sich diese Entwicklung exemplarisch aufzeigen. Nach der Schließung der Henrichshütte im Jahr 1987 traten die kulturhistorischen und kulturellen Stärken der Stadt deutlich in den Vordergrund. Die historischen Ortskerne, das Industriemuseum, eine lebendige Kultur- und Künstlerszene sorgten für lokale, aber auch regionale Beachtung. Hattingen wurde auch touristisch interessant. Die Haushaltssituation ist seit langem schwierig. Ein ausgeglichener Haushalt kann seit 18 Jahren nicht vorgelegt werden. Aus diesem Grund waren Verteilungskämpfe zwischen verschiedenen Politikfeldern ständig auf der Tagesordnung. Seit sich die finanzielle Lage in den letzten Jahren aber drastisch zugespitzt hat, seit Hattingen zu den 34 Stärkungspaktkommunen gehört, seit alle Ausgaben von der Kommunalaufsicht auf den Prüfstand gestellt werden, hat sich das Klima in der Stadt stark verändert. In der öffentlichen Diskussion werden Ausgaben für Kunst und Kultur lautstark und aggressiv als überflüssig und unnötig gebrandmarkt. Die lokale Presse greift diese populistischen Scharmützel zwischen Kunst und Schlagloch, Kultur und Tafel gerne auf. Früher selbstverständliche und auch notwendige städtische Zuschüsse für Kulturvereine, Chöre etc. wurden gestrichen. Ein umfangreiches Einsparkonzept wurde erarbeitet, das die Zusammenlegung von Kultureinrichtungen vorsieht und Personalstellen reduziert. Das Kulturangebot wurde erheblich verringert und auf ein kleines, aber attraktives Angebot reduziert. Zum Glück wurde in besseren Zeiten eine hochmoderne, viel besuchte Bibliothek eingerichtet und als Besonderheit gibt es in Hattingen das deutschlandweit einzigartige Aphorismusarchiv. In früheren Zeiten war ich der festen Überzeugung, dass Kunst und Kultur zu den freiwilligen Aufgaben einer Kommune zählen sollten, weil nur das freiwillige Engagement ein gedeihliches, wertschätzendes Klima für Innovation und Kreativität hervorbringt. Ich habe meine Meinung geändert: Kunst und Kultur brauchen den gesetzlichen Schutz vor populistischer Willkür. Ihr Wert für Urbanität und langfristige Stadtentwicklung darf nicht kurzfristigen politischen Manövern unterworfen sein. Kaum ein anderer Faktor prägt so sehr das Erscheinungsbild einer Stadt, wie ihre sichtbare Kultur. Kultur ist weit mehr als ein Standortfaktor, sie ist der Imageträger einer Stadt. Baumärkte, Einkaufszentren und Parkhäuser – diese modernen Profanbauten machen eine Stadt nicht einzigartig. Es sind die vielen kleinen und großen Zeugnisse von Stadtkultur, die unsere Städte einzigartig machen und ihren kulturellen Reichtum darstellen. Im interkommunalen Wettbewerb wird Hattingen nur bestehen können, wenn wir durch ein

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ansprechendes Kulturangebot Lebensqualität und Unverwechselbarkeit bieten können und als Wirtschaftsstandort nicht nur für die Arbeitszeit, sondern auch für die Freizeit attraktiv sind – nicht nur für die Arbeitenden, sondern auch für ihre Familien. In den Ballungsrandräumen gilt dies verschärft, aber auch die Mittelzentren in den eher ländlichen Regionen stehen in diesem permanenten Wettbewerb um urbane Attraktivität. Natürlich sind Einsparungen überall erforderlich auch im Bereich der Kultur. An die Stelle der interkommunalen Konkurrenz, durch die wir kulturell zu dem geworden sind, was wir heute darstellen, wird die interkommunale Kooperation – Vielleicht sogar auf regionaler Ebene? Vielleicht vom Land moderiert? – treten müssen: um den Erhalt zu garantieren, um die Qualität zu sichern, um die finanziellen Belastungen spürbar zu senken.

Gerade im Ruhrgebiet, dieser dicht besiedelten Städtelandschaft, ist „Kirchturmdenken“ nicht mehr angesagt. Interkommunale Zusammenarbeit drängt sich förmlich auf.

Die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 mit dem Motto „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ hat viele Türen geöffnet und Kooperationen angestoßen. Die Nachbarstädte Hattingen und Witten haben sich auf den Weg gemacht, mit ihren beiden Museen neue interkommunale Konzepte zu wagen. Die Museumsleitung ist nun in Witten angesiedelt, die Museumspädagogik wird von Hattingen aus organisiert. Das spart Personal, garantiert aber weiterhin hohes Niveau in beiden Häusern und größere öffentliche Wahrnehmung bei gleichzeitigen Synergieeffekten. Darüber hinaus gibt es eine erfolgreiche Zusammenarbeit der Kommunen des mittleren Ruhrgebiets auf dem Gebiet der digitalen Bibliotheken. Schließlich wird in Hattingen eine inhaltliche Kooperation mit Archiven des Kreises und anderer kreisangehöriger Städte angestrebt. Solche vielfältigen Einsparbemühungen im Kulturbereich gibt es nicht nur in Hattingen. Sie sind landauf und landab in der Diskussion. Sie, Frau Ministerin, haben in Ihrer Rede auf der Berliner Tagung auf das Grundproblem hingewiesen: „Wenn Kommunen gezwungen sind, kulturelle Angebote abzubauen und sich immer weniger Städte und Gemeinden auf die Förderprogramme des Landes bewerben können, konzentrieren sich die öffentlichen Mittel für Kunst und Kultur zunehmend bei den Kommunen, die den größten finanziellen Spielraum haben. Das entspricht nicht unserem kulturpolitischen Willen. Die Finanznöte der Städte dürfen nicht dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger dieser Städte und Kommunen kulturell Not leidend werden – im Gegenteil: gerade dort sind die Anstöße und Anregungen, die Kräfte, die von Kunst und Kultur ausgehen können, besonders wichtig. Wir verstehen die Kunst- und Kulturförderung als

gemeinsame Aufgabe von Kommunen, Land, gemeinnützigen Initiativen und privatem Engagement.“ Wir wollen hier keine Verteilungsdebatte anzetteln, aber zum Ausdruck bringen, dass wir uns von dieser Sichtweise durchaus verstanden fühlen. Doch sollten wir gemeinsam diesen Worten auch entsprechende Taten folgen lassen. Dass die Mitgliedsstädte des Gütersloher Kultursekretariats seit vielen Jahren starke Partner im Bereich der Kulturellen Bildung sind, wird vom Land durchaus anerkannt. Wir bekräftigen gerne unser Angebot, diese Partnerschaft zu intensivieren. Dazu bietet der im jüngsten Haushaltsentwurf der Landesregierung bestätigte und erweitere kulturpolitische Anspruch, Land der Kulturellen Bildung, Land der Kinder- und Jugendkultur zu sein, einen sehr geeigneten Anknüpfungspunkt. Da diese Zielgruppen dort abgeholt werden müssen, wo sie leben, kann dieser Anspruch nicht anders als dezentral – also in der Fläche – eingelöst werden. Es würde das Ziel der kulturellen Bildung aber konterkarieren, würden wir, um sie auszubauen, unsere Kunst- und Kultureinrichtungen abbauen müssen. Anlässlich seines 30jährigen Bestehens hat das Kultursekretariat im Herbst 2010 den „Gütersloher Appell“ verabschiedet, in dem wir dem Ministerium bereits angeboten haben, an einem mittelfristigem Handlungs- und Förderkonzept für NRW mitzuarbeiten. Gern bringen wir unsere Erfahrungen langjähriger Kulturarbeit von der Breitenkultur bis hin zur zeitgenössischen Kunst im öffentlichen Raum ein. Ein Anfang ist mit dieser Tagung gemacht. Der Schulkompromiss ist sicher ein nur in Teilaspekten übertragbares Beispiel für die Kulturarbeit und Kulturförderung. Er steht jedenfalls für eine Allparteienkoalition der Vernunft angesichts unabweislicher demographischer Entwicklungen. Es wäre zu bequem und fahrlässig, die Zukunft der Kulturlandschaft NRW als die Verlängerung der Gegenwart zu planen. Wir sollten zu neuem Denken aus eigenem Antrieb und eigener Einsicht kommen.

Wer jetzt nicht handelt, wird in Kürze von den Haushältern verhandelt. Und das ist nicht nur in Hattingen der Fall, sondern überall.

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13 Rede / Dr. Dagmar Goch

Sozialstaatliche gesellschaftliche Integration

Staatsminister a. D.

Prof. Dr. Christoph Zöpel

Kultur in der Fläche aus der Sicht der Raumentwicklung in NRW Einführung Das Thema „Kultur in der Fläche aus der Sicht der Raumentwicklung in NRW“ enthält zwei Begriffe: (1) Kultur und (2) Raumentwicklung; Raumentwicklung wird dabei eingegrenzt auf die weniger dicht besiedelten Räume Nordrhein-Westfalens. Die Begriffe Kultur und Raumentwicklung sind zu definieren und können dann auf sechs Themenfelder bezogen werden, die das Kultursekretariat NRW Gütersloh herausgestellt hat: (a) Kultur und kulturelle Bildung (b) Kultur als harter Standortfaktor (c) Chancen und Strategien intrakommunaler Kooperation (d) Chancen und Strategien interkommunaler Kooperation (e) Mobilitätsfragen des Kulturangebots (f) Kultur und Tourismus. Schließlich geht es um die Frage, wer (3) finanziert notwendige kulturelle Aufgaben in Kulturstaat und Kulturstadt.

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(1) Kultur Kultur verstehe ich auf der Grundlage der soziologischen Theorie Talcott Parsons, ausgeführt vor allem in „Societies“, erschienen 1966. Kultur hat danach gesellschaftlich die Aufgabe von Sinnstiftung, Sinnstiftung führt zu kollektiver kultureller Identitätsbildung, kollektive Identitätsbildung kann zu gesellschaftlicher Integration beitragen. Nun ist im 21. Jhd. bei kollektiven Identitäten Vorsicht geboten. Der Historiker Lutz Niethammer, der den Aufbau des Kulturwissenschaftlichen Instituts im Wissenschaftszentrum NordrheinWestfalen leitete und „in der Fläche“ dieses Landes lebt, nämlich in Schalksmühle, hat ihre Fragwürdigkeit in seinem Buch „Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur“, erschienen 2000, offengelegt. Kollektive Identitäten haben konfliktreich, ja gewalttätig andere Identitäten ausgegrenzt, schwerstverbrecherisch der deutsche Nationalsozialismus. Deshalb können nach den Weltkriegen kollektive Identitäten nur noch multipel sein, um so zu multikultureller Integration beizutragen. Gesellschaftliche Integration darf nicht mehr durch konstruierte Kultur, gerade auch nicht durch das wirkungsmächtigste kulturelle Konstrukt, die Nation, erfolgen, sondern sozial, durch Sozialstaatlichkeit für alle, die in einem Staat leben. Kultur erfährt dabei eine neue Funktion, sie ist für soziale Integration wie für multiple Identitäten unverzichtbar erforderlich. Kulturpolitik ist damit eine notwendige staatliche Pflicht.

Kulturell unterschiedliche Identitäten Sprachen, Ethnien und Religionen sind es vor allem, Integration in hochentwickelten Gesellschaften erfolgt die kulturell unterschiedliche Identitäten begründen. in drei Lebensabschnitten: durch öffentlich finanzierte Dazu kommen unterschiedliche Migrationszeitpunkte – Bildung in Kindheit und Jugend, dann durch Erwerbsarlangfristig rückblickend sind alle Bürger Nordrheinbeit, aus der heraus auch die Finanzierung von Bildung Westfalens Migranten – ob sie vor 2000 Jahren mit den und sozialer Sicherheit zu leisten ist, schließlich im NachRömern nach Bergkamen gekommen sind oder jüngst erwerbsleben, das durch Umverteilung finanziert wird. auf der Suche nach Arbeit aus Tunesien nach Hamm. Während des Erwerbslebens und auch im NacherDie Integration von Menschen mit unterschiedlichen werbsleben ist Weiterbildung erforderlich. Und gesellkulturellen Identitäten verlangt interkulturelle Bildung. schaftliches Engagement ohne Erwerbszweck in der späAls notwendiger Teil von Bildung vermittelt sie differenteren Jungendphase, während der Erwerbstätigkeit und zierte Sinnstiftung, differenziertes Wissen und differenvor allem im Nacherwerbsleben sind ohne lebenslange zierte kulturell-ästhetische Fähigkeiten, um sie gesellWeiterbildung nicht möglich. Dass die Frühverrentung schaftlich zu integrieren. der Industriearbeiter ohne Weiterbildungsperspektiven vollzogen wurde, gehört zu den gesellschaftlichen DeKulturelle Identität in Nordrhein-Westfalen fiziten der Agglomeration Ruhr, zu der ja aus dem Kreis Der Umgang mit migrationsbedingten multiplen Idender 65 Mitgliedskommunen des Kultursekretariats auch titäten in einem bestimmten Raum, so in einem Land Hamm sowie Städte des Ennepe-Ruhr-Kreises und des wie Nordrhein-Westfalen, macht regionsbezogene Kreises Recklinghausen gehören. Identitätsbildung sinnvoll, regionale Eigenidentitäten Die notwendige Bildung in allen Lebensabschnitten sinnvoll – so sie nicht, weil historisch gefestigt, als umfasst Wissensvermittlung, Förderung kulturellselbstverständlich wahrgenommen werden. Es gibt ästhetischer Fähigkeiten und gesellschaftliche Sinnsicherlich nordrhein-westfälische Identität, so als „Wir stiftung. in Nordrhein-Westfalen“, konstruiert von Johannes Das führt zum Themenfeld (a): Kultur und kulturelle Rau, verbunden mit Landesorden und Autobahntafeln, Bildung. Da die Förderung kulturell-ästhetischer Fähigso im Verständnis als Industrieland, defizitär geworden keiten, also die Aufgabe kultureller Bildung, integrativer mit dem globalen Bedeutungsverlust der IndustriewirtTeil von Bildung in allen Lebensabschnitten ist, muß schaft in Zeiten der Dienstleistungs- und Wissenswirtsie sozialstaatlich gefördert werden. Diese öffentlischaft einschließlich der Kultur- und Kreativwirtschaft. che Finanzierung ist ohne räumliche Differenzierung Aber Defizite der kulturellen Eigenidentität Nordrheinzu sichern, jeder Mensch in Nordrhein-Westfalen hat Westfalens und seiner Teilräume bleiben deutlich erkenndarauf den gleichen Anspruch. Das raumordnungspolibar. Sie haben politisch-institutionell mit den Aufgaben tische Gebot der Herstellung gleichwertiger regionaler und dem Selbstverständnis der Landschaftsverbände Lebensverhältnisse hat zu gelten. Räumlich unterRheinland und Westfalen-Lippe zu tun, dem Land sind schiedlichen Voraussetzungen kultureller Bildung, also durch sie wichtige kulturelle Handlungsmöglichkeiten vor allem den Gegebenheiten dichterer oder dünnerer vorenthalten. Die Defizite bestehen sowohl bei einer Besiedlung, ist analog zu den räumlich unterschiedliNordrhein-Westfalen integrierenden wie bei das Land rechen Voraussetzungen der schulischen Allgemeinbilgional differenzierender Identitätsbildung. Die territorialdung Rechnung zu tragen – also in der „Fläche“ durch staatliche Geschichte des Landes liegt in ihrer Bedeutung örtliche Zentralisierung der Einrichtungen und durch hinter der Bayerns, Württembergs oder Sachsens zurück Bildungspersonenverkehr; hinzu können mobile Verund hat keine integrierende Wirkung. So sind es regiomittlungsangebote kultureller Bildung kommen. Mit gunaldifferenzierende historische Identitäten von Städten, ten Gründen werden die Aufgaben kultureller Bildung die Bedeutung erlangen können: Köln, die Römer- und in hohem Masse außerhalb der allgemeinbildenden Kurfürstenstadt, Aachen, mittelalterliche Krönungsstätte Schulen erfüllt, so in Volkshochschulen, Musikschulen, der deutschen Kaiser, dann die Residenzen der TerritoVereinen, und das staatlich, kommunal und privat. Die rialstaaten Berg und Mark Düsseldorf und Hamm, dann Finanzierung und der rechtliche Rahmen sind aber Münster, Paderborn, Minden als Bischofssitze, Siegen, landeseinheitlich zu regeln unter Berücksichtigung der Detmold und Lemgo, auch Essen als kleinere Residenzräumlichen Unterschiede. sitze, Dortmund, Wesel, Soest als Hansestädte. Die Pflege historischer Identitäten sollte auch geschichtspolitische Suche nach Bezügen zur Gegenwart Multiple Identitäten und zur Zukunft sein. Nach den Weltkriegen ist in dieSozialstaatliche gesellschaftliche Integration ist Voraus- sem „Sinn“ vor allem die Bewahrung überkommener setzung dafür, dass multiple kulturelle Identitäten gelebt multipler Identitäten erforderlich. werden können und so zu multikultureller Integration In Nordrhein-Westfalen dazu geeignet sind vor allem führen. Mit der Handreichung „Interkulturelle Kulturardie Renaissance und das multikulturelle Preußen des Großen Kurfürsten wie Friedrich II. beit“, die das Institut für Kulturpolitik der KulturpolitiDie Renaissance ist exemplarisch bedeutsam mit schen Gesellschaft 2010 für das Kultursekretariat NRW Gerhard Mercator, der in Duisburg die „Globalisierung“ Gütersloh erarbeitet hat, ist zu der Problematik, die wissenschaftlich dokumentierte; es gehört zu den multiple kulturelle Identitäten ermöglicht ein wesentlicher Beitrag geleistet. Bedeutsam ist die Schlussfolge- kulturellen Glücksfällen für das Land, dass eine kulturell bedeutende private Stiftung in Essen Mercators Namen rung der Handreichung: Kultur und kulturelle Bildung trägt. In der Agglomeration Ruhr sind Renaissancesetzen an den kreativen Potenzialen von Zuwanderern an, nicht an ihren Defiziten und können so der Selektivi- bauten durch die Schwerindustrialisierung weitgehend tät der Berufsausbildungs- und Beschäftigungssysteme zerstört worden, allerdings in Castrop-Rauxel, Hattingen, Herne, Herten und Witten, um in den entgegenwirken.

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Mitgliedskommunen des Kultursekretariats NRW Gütersloh zu bleiben, Denkmäler dieser Epoche wieder findbar. Anders die Weserrenaissance, sie prägt den Osten Nordrhein-Westfalens, personifiziert in Simon VI., Graf zur Lippe und Kammerherr des Heiligen Römischen Reiches, lokalisiert auf Schloss Brake in Lemgo. Preußen ist mit den Landschaftsverbänden verbunden, sie sind Nachfolger der 1815 gegründeten Provinz Westfalen bzw. der 1822 gegründeten Rheinprovinz. Diese Gründungen erfolgten allerdings zu Beginn der Restauration Preußens nach den napoleonischen Kriegen, sie knüpfen an ein Preußen an, dessen beste Zeit vorbei war, das 1871 nach zynischen Kriegen im Deutschen Reich aufging und noch nicht in der vorbildlichen Demokratie der Weimarer Republik – der Zeithistoriker Horst Müller hat das in dem Buch „Parlamentarismus in Preußen 1919–1932“ eindrucksvoll dokumentiert – angekommen war. In meiner ministeriellen Amtszeit habe ich mit den Gründungen des Preußenmuseums in Minden und Wesel wie des Weserrenaissancemuseums in Lemgo dazu geschichtspolitische kulturelle Inititialzündungen gegeben. Es ist schmerzlich, dass Land, Landschaftsverbände und Standortkommunen wenig daraus haben werden lassen.

(2) Raumentwicklung Landesentwicklungspolitik Die Gestaltung seiner räumlichen Entwicklung ist als Landesentwicklung, so der fachliche Begriff, eine wesentliche politische Aufgabe des Landes. Sie manifestiert sich in Landesentwicklungsplänen und in den Regionalplänen der Regierungsbezirke bzw. des Regionalverbandes Ruhr. Ihre große Zeit lag Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, als Friedrich Halstenberg – als Chef der Staatskanzlei – für sie die politische Verantwortung trug, das Nordrhein-Westfalen-Programm 1975 des Jahres 1970 ist mit ihm verbunden. Abschnitt 6.3 des „NWP 75“ hatte „Kulturelle Einrichtungen“ zum Gegenstand, mit den Bereichen Theater und Musikwesen, Staatliche Museumspflege, Kulturdenkmäler und Bibliothekswesen, die räumliche Verteilung der entsprechenden Einrichtungen über das Land wurde kartographisch dargestellt. Ideologische Planungsfeindlichkeit hat die Landesentwicklung politisch verkümmern lassen, in der Regierungszeit von Ministerpräsident Wolfgang Clement verkam sie zur Standortvorsorge für industrielle Vorhaben, in Verkennung globalen sektoralen Strukturwandels. Kulturlandschaft Umso bemerkenswerter ist eine landesplanerische Innovation aus einer Periode, in der Landesentwicklung dem Wirtschaftsministerium zugeordnet war, das dabei von Christa Thoben – zuvor auch mutige Kultursenatorin in Berlin – geleitet wurde: die Kulturlandschaften. Bei der weiteren Erarbeitung eines neuen Landesentwicklungsplans Nordrhein-Westfalen wird die „Erhaltende Kulturlandschaftsentwicklung“ weiter präzisiert. Nach dem Erarbeitungsstand vom 26.01.2012 soll die „Vielfalt der Kulturlandschaften und des raumbedeutsamen kulturellen Erbes (…) im besiedelten und im unbesiedelten Raum“ erhalten und gestaltet werden. Diese Zielsetzung bezieht sich auf 32 historisch gewachsene Kulturlandschaften, auf 29 landesbedeutsame Kulturlandschaftsbereiche, beides kartographisch erfasst, auf Historische Stadtkerne, Denkmäler und andere kulturlandschaftlich

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wertvolle Gegebenheiten sowie auf neu zu gestaltende Landschaftsbereiche. Damit ist die räumliche Relevanz von Kultur für die gesamte Fläche Nordrhein-Westfalens, gerade auch bei unterschiedlich dichter Besiedelung, planerisch ausgewiesen. Für die Ausweisung der historisch gewachsenen Kulturlandschaften, der landesbedeutsamen Kulturlandschaftsbereiche und weiterer bedeutsamer Kulturlandschaftsbereiche haben die Landschaftverbände wichtige Vorarbeiten geleistet, sie sind in den von ihnen herausgegeben Publikationen „Erhaltende Kulturlandschaftsentwicklung in Nordrhein-Westfalen. Grundlagen und Empfehlungen für die Landesplanung“ (Köln-Münster 2007) und „Lebendiges Erbe. Kulturlandschaften in Nordrhein-Westfalen“ (Regensburg 2009) anschaulich veröffentlicht. Denkmäler, Historische Stadtkerne, andere kulturlandschaftlich wertvolle Gegebenheiten und neu zu gestaltende Landschaftsbereiche bilden das räumliche Substrat von Kultur in Nordrhein-Westfalen. Denkmalschutz In zeitlicher Dimension sind Baudenkmäler der alltäglich erfahrbare Zugang zu Kultur und damit zur lokalen Identifizierung. Deshalb wird Denkmalschutz in seiner kulturellen Bedeutung falsch eingeschätzt, wenn er sich primär auf die Bewahrung kunsthistorischer Bauten konzentriert. Die wesentliche gesellschaftliche Funktion von Denkmalschutz ist: er bewahrt multiple Identitäten zeitlicher Schichten und präsentiert sie gleichzeitig. Vielleicht gibt die Raumentwicklungspolitik dem Denkmalschutz neuen Rückhalt, Denkmäler als kulturell „bedeutend für die Geschichte des Menschen, für Städte und Siedlungen oder für die Entwicklung der Arbeits- und Produktionsverhältnisse“ zu erhalten, wie es das nordrhein-westfälische Denkmalschutzgesetz in § 2 rechtsverbindlich regelt. Historische Räume und Flächen Wohl mehr noch als einzelne Denkmäler dienen historische Stadtkerne, wie auch historische Ortskerne, die in Nordrhein-Westfalen seit 1985 ausgewiesen werden, der lokalen Identifizierung über den Zugang zu Kultur. Von den Mitgliedsstädten des Kultursekretariats NRW Gütersloh gehören Arnsberg, Bad Salzuflen, Detmold, Hattingen, Kempen, Lemgo, Lippstadt, Minden, Siegen, Soest und Warendorf zu den historischen Stadtkernen, zu den historischen Ortskernen aus Hattingen Blankenstein, aus Herten Westerholt und aus Meschede Eversberg. Es ist nicht immer einsichtig, wenn die Erweiterung inzwischen sehr restriktiv erfolgt. So gehört Unna nach meinem Urteil zu den historischen Stadtkernen, auch wenn eine größere Parzelle der Innenstadt noch „flächensaniert“ wurde bevor das Land zu Beginn der 1980er Jahre diesen städtebaulichen „Unsinn“ beendete. Die Landschaftsverbände weisen in ihren Grundlagen und Empfehlungen für die Landesplanung für die 32 historisch gewachsenen Kulturlandschaften auf besondere Orte hin, hier liegt ein neuer Ansatz für die Bewahrung identitätsbildender Stadt- und Ortsbereiche. Die Zerstörung von Baukultur ist eine immer wiederkehrende kulturelle Gefährdung im Prozess der räumlichen Entwicklung. Die Bombardements des Zweiten Weltkriegs haben in ganz Nordrhein-Westfalen unwiederbringliche Kulturverluste hinterlassen. Aber die Abrisse gingen danach weiter. Aus heutiger Sicht scheinen die Kriegszerstörungen gerade Bauplaner kulturell entsensibilisiert zu haben, innerstädtische Flächen wurden für sie zum Verfügungsraum. Für die Entwicklung der

europäischen Städte sind die Gründerjahre, als sich rapider Bevölkerungszuwachs und Industrialisierung vollzogen, prägend. In den 1970er Jahren wurden viele nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten gebliebene Quartiere dieser Zeit abgerissen, oft um sozial mehr als problematischem Geschosswohnungsbau Platz zu machen. Seit den 1980er Jahren konnten diese Planungen beendet werden. Jetzt gibt es, noch vereinzelt, derartige Planungen wieder, spektakulär in DuisburgBruckhausen. Auch ohne Fortschrittsgläubigkeit sind sie ein kultureller Rückschritt. Die Identität eines Ortes bildet sich auf der baulichen Grundlage der Konstanz von Grundrissen und der Bewahrung des Erscheinungsbildes des Aufrisses. Andere kulturlandschaftlich wertvolle Gegebenheiten Mit dem kulturräumlichen Tatbestand anderer kulturlandschaftlich wertvoller Gegebenheiten verlässt der Entwurf des neuen Landesentwicklungsplans den dichter besiedelten Raum und erfasst die – auch freie – Fläche. Damit wird eine Konsequenz aus der zurückgehenden agrarischen oder rohstoffnutzenden Bedeutung der Fläche gezogen. Der Nutzen freien Landschafsraumes entsteht aus kulturell ästhetischen Bezügen, die Wohnzwecken oder dem touristischen Aufenthalt dienen können. Neu zu gestaltende Landschaftsbereiche Eher für postindustrielle Räume ist die neu gestaltete Landschaft bedeutsam. Sie ist möglich, wo in großem Umfang bisherige Nutzungen aufgegeben oder geändert wurden. Dabei kann die Sanierung von Schäden erforderlich sein. Die Aufgabe Landschaften neu zu gestalten stellt sich zuerst in ehemaligen Bergbaugebieten, die Mitgliedsstädte aus der Agglomeration sind davon betroffen. Auch kulturell europaweite Bedeutung haben hier die Renaturierung der Emscher und der Emscher Landschaftspark.

Raumstruktur NRW Die Thematisierung der Fläche – offenkundig im Gegensatz zum dicht besiedelten Raum – ist für Nordrhein-Westfalen fragwürdig. Das Land ist insgesamt urbanisiert, es gibt kaum ländliche Räume, weite Flächen von Freiraum sind nicht gleichzusetzen mit ländlichem Raum. Die Einwohnerdichte kann diese Feststellung untermauern. Sie beträgt in der Bundesrepublik Deutschland 230 Einwohner auf dem Quadratkilometer, in Nordrhein-Westfalen 524. Vielleicht lassen sich Kreise mit einer Dichte unter dem Bundesdurchschnitt als ländlich bezeichnen, es wären dann lediglich die Kreise Euskirchen, Coesfeld, Warendorf, Höxter, Hochsauerlandkreis, Olpe und – mit genau 230 – Soest; die Mitgliedskommunen Arnsberg, Brilon, Euskirchen, Meschede, Soest und Sundern gehörten so dazu. Dann gibt es weiten überdurchschnittlich dicht besiedelten Raum, große Städte und vielleicht Metropolen. Wird danach gefragt, welche Städte in NordrheinWestfalen Funktionen und Merkmale von Metropolen – wie sie Hans-Heinrich Blotevogel im Handwörterbuch der Raumordnung 2005 definiert, nämlich Entscheidungs- und Kontrollfunktion, Innovations- und Wettbewerbsfunktion, Gateway-Funktion – tatsächlich erfüllen, dann gibt es nur eine, die Metropole Köln-Bonn. Dazu kommt eine eingeschränkte Metropole, nämlich Düsseldorf. Und es gibt die benachteiligte

Millionenagglomeration Ruhr. Andere Städte müssen nach dem Selbstverständnis des Kultursekretariats NRW Gütersloh größer als Hamm sein, müssen also über 181 000 Einwohner haben und das sind nur 16 – einschließlich Köln und Düsseldorf. Alle diese 16 Städte haben ein Theater – das ist das ausschlaggebende Kriterium für die Mitgliedschaft. Aber noch einmal zur benachteiligten Millionenagglomeration Ruhr: dem Kultursekretariat NRW Gütersloh gehören 3 seiner 11 kreisfreien Städte an, Bottrop Hamm, Herne, und 14 kreisangehörige Städte aus den Kreisen Ennepe-Ruhr, Recklinghausen und Unna, nämlich Bergkamen, Bönen, Ennepetal. Gevelsberg, Gladbeck, Hattingen, Herten, Kamen, Lünen, Marl, Schwerte, Unna, Waltrop, Witten. Keine Stadt aus dem Kreis Wesel gehört dazu, aber dort gibt es auch zwei Landestheater, in Moers und Dinslaken. Gehört die Agglomeration nun zum verdichteten Bereich Nordrhein-Westfalens oder zur Fläche? Ohne hier auf die Siedlungsgeschichte der durch schwerindustrielle Raumnahme entstandenen Agglomeration Ruhr weiter einzugehen: Thomas Sieverts kam hier auf den Gedanken, sein im Rahmen der IBA Emscherpark entstandenes Buch über die Strukturen städtischer Entwicklungen im 20. Jahrhundert „Zwischenstadt“ zu nennen; die Aufteilung der Kommunen der Agglomeration auf die Kultursekretariate Wuppertal und Gütersloh gibt ihm irgendwie Recht.

Zukünftige Raumentwicklung Seit Gerhard Mercator kann, seit den Weltkriegen muss Raumentwicklung zunächst global gesehen werden. Sie ist so die räumlich differenzierende Gestaltung der Erde im Zuge ihrer Besiedlung. Die räumlichen Formen der Besiedelung sind das Ergebnis der Bevölkerungsentwicklung, seit Ende des Zweiten Weltkrieges eines kontinuierlichen Anstiegs von 2,5 Milliarden auf 7 Milliarden Menschen Ende 2011. Dieser Bevölkerungszuwachs, der im 19. Jahrhundert als Folge technologischer Innovationen, besonders in der Medizin, begann, schlägt sich global nieder in zunehmender räumlicher Dichte und damit in Prozessen der Urbanisierung und der Bildung von Agglomerationen. Über die Hälfte der Menschheit lebt in Städten. Dieser Anstieg der Weltbevölkerung dürfte aber in 4 bis 5 Jahrzehnten zu Ende gehen. Schon heute beruht er ganz überwiegen auf der steigenden Lebenserwartung weltweit. Gleichzeitig nimmt, wieder weltweit, die Zahl der Kinder pro Frau ab. Es ist abzusehen, dass diese beiden gegenläufigen Entwicklungen zum Ausgleich kommen, etwa bei einer Weltbevölkerung von 9 bis 10 Milliarden Menschen. Nordrhein-Westfalen, die Bundesrepublik Deutschland, Westeuropa sind Vorläufer dieser globalen Entwicklung, die sie kaum beeinflussen können. Die Lebenserwartung hat in Deutschland 80 Jahre überschritten, die Zahl der Kinder pro Frau beträgt 1,5. Die abnehmenden Kinder- und Schülerzahlen und der steigende Anteil Älterer sind weltgesellschaftliche Entwicklungen. Beeinflussbar ist nur die Migration. Nordrhein-Westfalen, die Bundesrepublik Deutschland, Westeuropa haben noch für einige Jahrzehnte Zeit, den Rückgang der Bevölkerung durch Zuwanderung auszugleichen. Ob ihre Bürger und politischen Systeme das wollen, ist eine offene Frage. Dass interkulturelle Bildung dazu beitragen kann, ist schon gesagt. Damit kann der Blick auf die Bevölkerungsentwicklung in Nordrhein-Westfalen gerichtet werden. Die Prognosen des Amtes Information und Technik

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Nordrhein-Westfalen sagen für 2030 einen Rückgang von heute knapp 17,99 Millionen auf 17,33 Millionen voraus. Dazu ist festzuhalten, dass es zwischen 1983 und 1989 weniger als 17 Millionen Einwohner gab, mit dem niedrigsten Stand 1986 mit 16,67 Millionen. Die aktuelle Aufregung über die „schrumpfende“ Bevölkerung ist auf der Grundlage längerfristiger Erfahrungen nicht ganz nachzuvollziehen. Erst 2040 könnten die Zahlen von 1990 wieder erreicht sein. Eintreten wird der Anstieg Älterer und der Rückgang Jüngerer. Für die Raumgestaltung in Landesperspektive – und auch für finanzielle Planungen – ist also ein Bevölkerungsrückgang für die kommenden 25 Jahre in Wahrheit kaum relevant, hingegen sind es die Veränderung der Altersstruktur. Unterhalb der Bevölkerungsentwicklung des Landes gibt es auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte erhebliche Unterschiede. Sie rechtfertigen aber keinen generellen Gegensatz zwischen der Fläche und den verdichteten Städten, in beiden Kategorien gibt es Zuwachs- und Rückgangsprognosen. Der Rückgang im Landesdurchschnitt soll 3,7 % betragen. In den Kreisen, also in der Fläche nimmt die Bevölkerung im Rhein-ErftKreis und im Rhein-Sieg-Kreis um 3,1 %, im Kreis Borken um 2,9 %, im Kreis Kleve um 2,5 % und in den Kreisen Gütersloh und Paderborn um 1,6 % zu. In den großen Städten gibt es Zunahmen in Bonn um 11,8 % und in Köln um 11,1 %. Hier sind metropolitane Funktionen erfüllt und sie strahlen im Rahmen einer Metropolregion auf den Rhein-Erft-Kreis und den RheinSieg-Kreis aus. Für Düsseldorf wird eine Zunahme um 11,1 %, für Münster um 5,5 % und für Aachen um 2,6% prognostiziert. Rückgänge erwarten alle Städte und Kreise, die höchsten der Ennepe-Ruhr Kreis um 12,3%, Unna um 11,6% und Recklinghausen um 11,1%, in der Agglomeration Ruhr. Für das „Ruhrgebiet“ sind die historischen Benachteiligungen nicht ausgeglichen und die möglichen gemeinsamen Funktionen einer „Metropole Ruhr“ – noch? – nicht erfüllt. Den höchsten Rückgang in den Kreisen erwarten außerhalb der Agglomeration Höxter um 15,1 %, der Märkische Kreis um 14,8 %, der Hochsauerlandkreis um 13,4 %, Siegen-Wittgenstein um 11,5 % und Lippe um 10,7 %. Räumliche Probleme infolge des Bevölkerungsrückgangs konzentrieren sich in Südostwestfalen, hier ist sicher die Landesentwicklungspolitik gefordert Antworten zu finden.

Öffentlicher Raum Städtische oder urbane Kultur präsentiert sich zuerst im öffentlichen Raum, sei es der umbaute, sei es der gebaute. Beide können, ja müssen um der Urbanität willen, kulturell genutzt werden. In der mehrkulturellen Nutzung des gebauten öffentlichen Raums – Theater, Museen, Bürgerhallen, Freizeitzentren – liegen die (c) Chancen und Strategien intrakommunaler Kooperation. Das gilt für öffentliche und private Kulturleistungsangebote. Die privaten sind das Erwerbsarbeitsfeld der Kreativ- und Kulturwirtschaft. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung hat jüngst zu „Kulturund Kreativwirtschaft in Stadt und Region“ Analysen und Vorschläge veröffentlicht. Im Zusammenhang mit der Kreativ- und Kulturwirtschaft wird primär kulturlandschaftlicher Öffentlichen Raum zum Wirtschaftstandort, den (b) Kultur als harter Standortfaktor braucht.

Raumgestaltung Die Bevölkerung, aber nicht nur ihre Zahl, sondern auch ihre Kulturalität, ihre sozialökonomischen Bedürfnisse und ihr lebensweltliches Handeln bestimmen die Entwicklung und Gestaltung des Raums. So kann der gestaltete Raum, auch Nordrhein-Westfalens, als Kulturlandschaft, Wirtschaftsstandort und Lebensraum gesehen werden, wobei die Kulturlandschaft für Sinn, Freiheit und Ästhetik, der Wirtschaftsstandort für Erwerbsarbeit, der Lebensraum für das Sozialeben des Alltags stehen, sie sind miteinander in Einklang zu bringen, und das für Eingeborene und Migranten. Fast in ganz Nordrhein-Westfalen erfüllen diese drei generellen Raumfunktionen zugleich städtische Funktionen, in Köln wie in Hamm und in Sundern. Städtische Funktionen sind gekennzeichnet durch Dichte, Zentralität, Finanzierungskraft und – kulturell besonders relevant – Öffentliche Räume. Städte bilden aber auch Knoten in einem räumlichen Netz.

Im landesweiten Netz bedeutet mobiles Kulturangebot Kooperation über regionale Abgrenzungen hinweg, wobei unterschiedliche Netzknoten attrahierend oder ausstreuend sein können, Schauspiel in A und Oper in B sind dabei eher ausstreuend, Museum in C und Bibliothek in D eher kontrahierend. Museen können allerdings auch ausstreuend kooperieren durch Ausleihe oder Austausch von Exponaten.

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Räumliche Netze Städte lassen sich dann als verdichtete Knoten in räumlichen Netzen verstehen. Und Netze dienen der Verbindung und der Kooperation zwischen den Knoten. Hier liegen die Grundlagen von (d) Chancen und Strategien interkommunaler Kooperation wie der (e) Mobilitätsfragen des Kulturangebots. Interkommunale Kooperation ist möglich in der regionalen Fläche oder im landesweiten Netz. Regionale Kooperation bedeutet gemeinsame kulturelle Einrichtungen und Angebote der beieinander liegenden Kommunen, zu denen gefahren wird oder die fahren. Dabei gilt ein Einwohner/Leistungsangebotsschlüssel – je weniger dicht die Besiedelung einer Kommune, desto eher müssen ihre Einwohner fahren, umso mehr muss zu ihnen gefahren werden. Die regionale Flächenzusammenarbeit kann in den 31 Kreisen oder auch in den 32 Kulturlandschaften stattfinden. Dabei konzentrieren sich Einrichtungen mit höherer Nutzerdichte in den regional zentralen Orten. Mit den Mobilitätsfragen des Kulturangebots verbinden sich Kulturpolitik und Personenverkehrspolitik. Gerade auch in der Fläche muss sie bessere und flexiblere öffentlichen Verkehrmittel vorsehen, wegen steigender mit Moblitätseinschränkungen verbundener Lebenserwartung der älteren und abnehmender Automobilbegeisterung der jüngeren Generation.

Bei Theatern ist das „ausstreuende Wirken“ längt Realität, das gilt für Kommunal- wie für Landestheater. Lediglich 22 der 396 Kommunen sind Standorte von Theatern, dabei alle 16 Städte, die größer sind als Hamm, dazu Mühlheim und Moers sowie die 4 Landestheater in Neuss, Castrop-Rauxel, Detmold und Dinslaken. Jenseits der 16 großen Städte ist in der räumlichen Verteilung der Theaterstandorte keine Rationalität zu erkennen. Ob eine bessere räumliche Koordinierung zu einem gleichwertigeren Angebot führt, ist zumindest

prüfenswert, wobei die Prüfung sicherlich einen Finanzierungsausgleich berücksichtigen müsste. Die Zahl der Museen ist ausweislich des Statistischen Jahrbuchs 2010 mit 684 so groß, dass sich Kooperation bei der Organisation und beim Austausch von Ausstellungen – 2010 fanden insgesamt 1266 statt – aufdrängt. Die Museen in der Agglomeration Ruhr haben im Jahr der Kulturhauptstadt dazu Möglichkeiten aufgezeigt. Das Kultursekretariat NRW Gütersloh sollte eine Bestandsaufnahme sowohl regionalkonzentrierender wie landesweiter Kooperationen ausarbeiten, und Besucherdichten und Finanzierungen dabei kalkulieren. Im landesweiten Netz werden die Mobilitätsfragen des Kulturangebots zu der Beziehung zwischen (f) Kultur und Tourismus. Das nordrhein-westfälische Netz verlängert sich über die Landesgrenzen hinaus und trifft auf weitere Knoten. Für die kleineren wie größeren nordrheinwestfälische Städte stellt sich die Frage wie attraktiv sie, ihr kulturelles Angebot über die Landesgrenzen hinaus sind. Städtische Identitäten und kulturelle Attraktionen, dauerhaft und temporär, sind die Faktoren.

(3) Finanzierung Räumliche Strategien werfen die Frage auf, wie sie finanziert werden können. Dazu ist zunächst festzustellen, dass die Integration von Raumplanung und Finanzplanung bisher nicht gelungen ist. Der Raumplaner Friedrich Halstenberg ist 1978 als Finanzminister auch daran gescheitert. Aber bevor die allfällige Diskussion einsetzt, welche Steuermittel wer wofür einsetzt, bleibt festzustellen, dass die derzeitigen finanziellen Probleme der Kultur in den Kommunen – wie der Kommunen generell, wie des Landes, wie der Bundesrepublik Deutschland, wie vieler europäischer Staaten – Folge einer dauerhaften Unterfinanzierung sind, die zu lange durch Kreditaufnahmen verdrängt wurde. Ohne eine politische Verständigung darüber, welche öffentlichen Aufgaben und wie viel sozialstaatliche Sicherheit als Grundlage gesellschaftlicher Integration erforderlich, und welche Steuern und Abgaben deshalb zu leisten sind, wird auch Kultur notleidend bleiben. Die nordischen Staaten haben diese Verständigung erreicht, sie sind, gerade auch in der globalen und europäischen Finanzkrise, die erfolgreichsten in Europa. Auf einer zweiten Ebene kann dann über die Finanzierung von Kultur in Nordrhein-Westfalen gesprochen werden. In Nordrhein-Westfalen wird Kultur ganz überwiegend von den Kommunen finanziert, das erfordert höhere kulturpolitische Zuweisungen an die Gemeinden als in Ländern mit mehr landesstaatlicher Kultur. Dazu die Daten des Kulturfinanzberichts 2010 der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder: der Kommunalisierungsgrad der öffentlichen Ausgaben für Kultur betrug 2007 bundesdurchschnittlich 50,9%, in Nordrhein-Westfalen 78,8%. Hingegen betrug er im Saarland weniger als 40%, in Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen weniger als 50%. Dabei liegen die Kulturausgaben Nordrhein-Westfalens einschließlich seiner Kommunen im Ländervergleich unter dem Durchschnitt von 89,88 € pro Kopf, bei 79,56 €, Spitzenreiter ist Hamburg mit 191,86 € vor Sachsen mit 170,84 €, Schlusslicht ist SchleswigHolstein mit 56,21 € nach Rheinland-Pfalz mit 57,76 €. Diese Daten müssen Maßstäbe für das Handeln der Kommunalaufsicht gegenüber den kommunalen

Haushalten sein. Und damit stehen die Vorschläge der Regierungspräsidenten zum Ausgleich unterfinanzierter kommunaler Haushalte mit Schwerpunkt bei kulturellen Einrichtungen und Angeboten dem Prinzip gleichwertiger kultureller Lebensverhältnisse entgegen. Sie missachten die Verteilung der Kulturausgaben zwischen Land und Kommunen, sie schaden der gesellschaftlichen Notwendigkeit kultureller Bildung und dem Ansehen, also der kulturellen Identität von Städten und auch des Landes. Die Schließung von Museen und Theatern verringert notwendiges Angebot. Auch betriebswirtschaftlich grotesk wird es, wenn bebauter öffentlicher Raum verkauft werden soll. Bei flüchtigen Finanzmärkten – Kommunen, die ihre Abwasseranlagen von amerikanischen Steuerzahlern haben finanzieren lassen wollen oder von Kreditinstituten in hochriskante Geldanlagen gedrängt wurden, kennen sie nun – ist nutzbarer Immobilienbesitz auch für Kommunen eine richtige Anlage. Wer sagt das der Kommunalaufsicht? Diese kommunalaufsichtlichen kulturellen Verheerungen lassen sich nur abstellen, wenn die Finanzierung kommunaler Kulturaufgaben gesetzlich geregelt wird. Kulturelle Leistungen gehören zu den Pflichtaufgaben der Kommunen. Eine offene Frage bleibt die Finanzierungsart. Soll sie im Rahmen der Schlüsselzuweisungen, als Zweckzuweisung, innerhalb des Gemeindefinanzierungsgesetzes oder durch eigene Gesetze – wie z. B. im Weiterbildungsgesetz – erfolgen? Mit ihrem „Antrag für ein Gesetz zur Förderung und Entwicklung der Kultur, der Kunst und der kulturellen Bildung in NRW“ – Drucksache 15/2365 – haben die Fraktionen der SPD und Bündnis 90/ Die Grünen dazu eine notwendige Initiative ergriffen. Aktuell wartet der darin enthaltene Prüfauftrag an die Landesregierung, „ob und wie sichergestellt werden kann, dass auch Kommunen mit Haushaltssicherungskonzepten oder im Nothaushalt ein gewisses Mindestmaß an Kulturförderung und Kulturangebot als freiwillige Aufgabe vorhalten, weiterleisten oder entwickeln können, ohne dass ihnen dieses kommunalaufsichtlich untersagt werden kann“, einer problemgerechten Antwort. Dem Plädoyer für die öffentliche Finanzierung kultureller Aufgaben steht häufig der Hinweis auf private Finanzierungen entgegen. Hier ist zweifellos differenziert zu denken. Kultur- und Kreativwirtschaft bedeuten privatwirtschaftliche Tätigkeiten, die von Angebot und Nachfrage von Kulturkonsumleistungen leben. Vielfach aber bedarf sie des öffentlichen Raumes. Ob die Privatisierung, also die Entöffentlichung bildender Kunst kulturgesellschaftlich sinnhaft ist, bleibt eher fraglich. Zivilgesellschaftliches kulturelles Engagement gehört zu den Freiheitsrechten demokratischer Gesellschaften, oft aber ist es ohne öffentlichen Raum – und auch ohne öffentliche Förderung, wenn es um sozial gleiche Chancen geht – nicht möglich. Schließlich bleibt das Mäzenatentum – ohne das kämen viele kulturelle Angebote nicht aus. Aber die Frage sei erlaubt, ob nicht eine gerechtere Besteuerung als Voraussetzung öffentlicher Kulturförderung kulturell breiter wirksam wäre als manche Förderung aus niedrig besteuertem Einkommen und Vermögen nach privatem Gusto. Der ausgewogene Kompromiss auch bei der Finanzierung von Kultur ist eine sozialkulturelle Errungenschaft, aber er setzt Kulturstaat und Kulturstadt voraus.

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konflikt. Die Kosten für Kulturelle Bildung sind im Verhältnis zu anderen Kultursparten und -institutionen eher marginal. — Ein besonderes Problem diesbezüglich ergibt sich in der Fläche: Bespieltheater können sich keinen theaterpädagogischen Apparat leisten, der zur Nachwuchssicherung jedoch unabdingbar ist. — Einigkeit herrschte über folgende Punkte: — Die Wertschätzung für Kultur ist in vergangenen Jahren gestiegen. — Kulturelle Bildung ohne Kultur ist in einer Stadt nicht denkbar. — Kulturelle Bildung darf nicht zu Lasten der Kultur gehen. — Jeder, der selber Kulturelle Bildung betreibt, möchte, dass Kultur in vernünftigem Maße produziert werden kann. — Das „Ausspielen“ von Kultur gegen Kulturelle Bildung, wie es für die Mittelvergabe befürchtet wird, darf keinesfalls in den Köpfen der Kulturmacher geschehen. — Das Verhältnis von Kunst / Kultur und Kultureller Bildung soll nicht durch Abgrenzung bestimmt sein. – Wichtig ist es, die Zusammenhänge und Interpendenzen zu sehen. – Die verbesserte Zusammenarbeit der beiden Bereiche ist dringend notwendig.

Themen-Marktplatz

Kultur und Kulturelle Bildung

Es besteht Bedarf — an einer neuen Plattformen des Dialogs: Akteure der Kulturellen Bildung handeln aus kommunaler Perspektive, Vertreter der Schulen agieren vor dem Hintergrund landesverbindlicher Lehrpläne. — an einer besseren Vernetzung der Akteure der Kulturellen Bildung, an einer Bündelung der vielfältigen Initiativen. — durch einen intensivierten Dialog zu einem vertieften Bewusstsein für die besondere Bedeutung der Kulturellen Bildung zu gelangen. Dringende Empfehlung: Der Diskussionsprozess hin zum Kulturfördergesetz sollte unbedingt von Kulturschaffenden mitgetragen werden, die dabei an einem Strang ziehen.

Kultur und Schule

Die folgende Zusammenfassung weist drei Themen als Schwerpunkte der Diskussion der Arbeitsgruppe aus.

Kulturelle Bildung — Sehr verschiedenes Verständnis über die Definition Kulturelle Bildung — Annäherung an eine Definition über die Wirkungsweisen Kultureller Bildung. Sie — … befähigt, sich zu artikulieren, — … versetzt in die Lage, Dinge (Kunst, Kultur) wahrzunehmen und — … Dinge anders und spezifisch wahrzunehmen. (Bitte der Arbeitsgruppe: Diese Unterscheidung solle auch die Landesregierung wahrnehmen.) — Kulturelle Bildung kann durch bildungspädagogische Ziele nicht hinreichend beschrieben werden. — Problematisch: Fokussierung der Bildungsarbeit auf Kinder und Jugendliche; Kulturelle Bildung soll ein Leben lang stattfinden. — Kinder und Jugendliche müssen aber aufgrund ihrer enormen Defizite (sozial, motorisch, kommunikativ…) früh erreicht werden. — Bildung und Heranführung junger Menschen an Kultur ist dringend notwendig und darf nicht zu spät erfolgen. — Entwicklungspsychologisches Zeitfenster bei

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Kindern ist wertvoll und soll sinnvoll genutzt werden. — Investition in junge Menschen durch Kulturelle Bildung wirkt nachhaltig, sie ermöglicht „lebenslanges Ernten der Früchte“. — Es muss außerschulische, eigenständige Zugänge zur Kulturellen Bildung für junge Menschen geben.

Kultur und Kulturelle Bildung — Sorge vieler Kulturschaffender: Die kulturpolitische Wichtigkeit und Förderungswürdigkeit der Kulturellen Bildung wird von der Landesregierung stark in den Vordergrund gestellt. — Durch diese Akzentuierung könnten die Ressourcen für Kunst und Kultur ohne expliziten Vermittlungsansatz gefährdet werden. — Spannungsfeld zwischen genuiner Kulturarbeit und reiner Kunstproduktion — Kulturpolitischer Richtungswechsel hin zu Kultureller Bildung (Fokus auf Bildungs- und Vermittlungsgehalt von Kunst) birgt die Gefahr, den Eigenwert kultureller Güter zu mindern. (Bsp.: Verkürzung der Theaterspielpläne auf abiturrelevante Themen). — Mehrheitlich geteilte Meinung: Die Kontroverse Kunst / Kultur vs. Kulturelle Bildung ist ein Schein-

— Kulturelle Bildung muss auch in der Schule stattfinden; hier muss die Begeisterung für Kultur geschaffen werden. — Im schulischen Bereich wird jedoch ein Defizit festgestellt: Freiräume kultureller Betätigungen sind nahezu komplett verloren gegangen. — Mangel an qualifiziertem Musik- und Kunstunterricht — Um diesen Trend umzukehren, muss der Schule die Möglichkeit gegeben werden, besseren Unterricht durchzuführen (mehr Zeit, qualifiziertes Personal). — Vorschlag: Weiterbildung von Lehrern durch externe Fachkräfte der verschiedenen kulturellen Institutionen. — Der „große Tanker Schule“ muss seinen Kurs grundsätzlich ändern. — Forderung: Kulturelle Bildung in das reguläre Schul-Curriculum aufnehmen. — Gefahr: Verschulung Kultureller Bildung — Folgerung: es muss auch außerschulische Orte der Vermittlung geben.

Leitung: Peter Kamp, LKD Unna Volker Gerland, Landesverband der Musikschulen in NRW Dr. Ina Rateniek, Koordinatorin Kulturrucksack NRW Sarah Braun, Kultursekretariat NRW Gütersloh

Abschluss und Ausblick — Aktuell stehen zu wenige Mittel für Kulturelle Bildung zur Verfügung: Mangelverwaltung. Die Förderung soll als Investition in junge Menschen betrachtet und entsprechend ausgebaut werden. — Um Kulturelle Bildung angemessen betreiben zu können, müssen Möglichkeiten gegeben sein, Kultur in geregeltem Rahmen produzieren zu können. — Kulturelle Bildung muss auch in der Schule stattfinden. Hier bedarf es einer Kurskorrektur.

21 Arbeitsgruppe / Kultur und Kulturelle Bildung

Kunst- und Kulturförderung, sie wirken „standortstabilisierend“ oder sogar anziehend für die nachwachsende Generation und können so die Auswirkungen des demographischen Wandels lindern. Für den Standort eines Wirtschaftsunternehmens und für die Bewertung des urbanen Umfeldes allgemein wird das Kulturimage einer Stadt zunehmend wichtig; ein ansprechendes Kulturangebot ist für die Lebensqualität unverzichtbar. Ein Unternehmensstandort muss nicht nur für die Arbeitszeit, sondern auch für die zunehmende Freizeit attraktiv sein, nicht nur für die Arbeitenden, sondern auch für ihre Familien. Allerdings trägt die mangelhafte Kulturberichterstattung eher zu einer nachlassenden Wahrnehmung der Kulturlandschaft bei, als deren Folge Kultur weniger wichtig erscheint, was wiederum einen allgemeinen Image- und Attraktivitätsverlust nach sich ziehen kann. Gegensteuern lasst sich diesem Prozess mit bürgerschaftlichem Engagement, mit Prestigepersonen, die auch für Kultur stehen, und Prestigeprojekten, die die Identifikation der ortsansässigen Wirtschaft mit den lokalen Kultureinrichtungen und deren Unterstützung und Nutzung sinnfällig und glaubhaft machen.

Themen-Marktplatz

Kultur als harter Standortfaktor

Die Unterscheidung in „hart“ und „weich“ bleibt letztlich eine Definitionsfrage (weiterführende Untersuchungsergebnisse verantwortet von der Ludwig Maximilians Universität München siehe rechts unten). Im Zusammenhang mit kommunaler Kulturarbeit und Kultur in der Fläche geht es daher eher um eine Akzentverschiebung in Richtung Wichtigkeit und Dringlichkeit, es geht um Argumentationshilfen im Verteilungskampf der kommunalen Haushalte. Bei vielen Mandatsträgern darf das kulturpolitische Verständnis als eher weniger ausgeprägt gelten, von daher ist auch im Innenverhältnis der Kommunalpolitiker aller Couleur der Kampf zwischen entbehrlicher Kultursubvention und notwendiger Standortinvestition vielerorts noch nicht entschieden. Aus kulturimmanenter Sicht werden Kunst und Kultur dabei als „Wert an sich“ gesetzt, als systemrelevant betrachtet – auch vor dem Hintergrund der Entwicklung von der Produktions- zur Wissensgesellschaft. Aus übergeordneter kommunalpolitischer Perspektive wird diese Wertediskussion allerdings von der Rentabilitätsfrage dominiert. Die Befürworter der Kulturinvestitionen begeben sich dann auf die verschlungenen Pfade der Umwegrentabilität. Das System Ökonomie macht in gleichem Maße für sich die Messbarkeit geltend, wie das System Kultur die Unmessbarkeit. Doch welcher Kulturetat wäre in welcher Höhe innerhalb einer ausschließlich fiskalischen Systematik legitimierbar? Von den kommunalen Entscheidungsträgern aus Politik, öffentlicher Meinung und Wirtschaftsleben wird die Aussagekraft von Zahlen allerdings wesentlich höher

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eingeschätzt, als das Beharren auf der „Wert-an-sichThese“. Auf beiden Argumentationsebenen sollten die Argumente aber möglichst schlüssig sein. Kulturelle Entwicklungsplanung ist Voraussetzung eines Kommunikationsprozesses über kulturelle Standortqualität. In diesem Zusammenhang wird der Zuschnitt des früheren Ministeriums, das für Stadtentwicklung und Kultur zuständig war, als gutes Beispiel des Zusammendenkens dieser beiden wichtigen kommunalpolitischen Disziplinen gesehen. Ein kommunales Leitbild sollte in jedem Fall ein authentisches, sehr ortsspezifisches sein. Eine Leitbilddiskussion bietet darüber hinaus die Chance einer neuen Identitätsbildung. Kommunen müssen sich allerdings entscheiden, ob sie sich groß und stark genug fühlen, ein eigenständiges Kulturprofil anzustreben, oder ob sie ein solches eher im regionalen Verbund suchen, was in Teilbereichen auch mit lokalem Verzicht verbunden sein kann. Ein eigenes kulturelles Profil kann aber gegebenenfalls zum wichtigen Unterscheidungsmerkmal bei der interkommunalen Standortkonkurrenz ausgebaut werden. Der Sekundärnutzen von Kulturarbeit für den Zusammenhalt und Ausbau der demokratischen Gesellschaft („Sozialkitt“) – beginnend mit der Kulturellen Bildung und endend mit der Kulturgeragogik – ist unbestritten. Dass aber auch wirtschaftlicher Unternehmenserfolg wesentlich mit der kreativen Kompetenz der Mitarbeiterschaft zusammenhängt, gilt inzwischen ebenso als Binsenweisheit. Kreative Milieus verlangen Künstler-,

Die Kommunikation zwischen Wirtschaft, Kultur und Trendsettern der öffentlichen Meinung braucht mehr Plattformen – vielleicht auch Events – um wechselseitige Vorurteile und Ignoranz abzubauen. Für diesen Austausch, zwischen Kultur – Wirtschaft – Medien wird ein beispielgebendes Veranstaltungsformat auf Landesebene angeregt.

Leitung: Jens Imorde, Projekt- & Kulturberatung Dr. Susanne Schulte, GWK Münster Andreas Genschel, Landesverband der Musikschulen in NRW

http://www.imm.bwl.uni-muenchen.de/forschung/schriftenefo/ap_efoplan_03.pdf http://www.imm.bwl.uni-muenchen.de/forschung/schriftenefo/ap_efoplan_08.pdf http://www.imm.bwl.uni-muenchen.de/forschung/schriftenefo/ap_efoplan_16.pdf

23 Arbeitsgruppe / Kultur als harter Standortfaktor

der Trägergemeinschaft (z. B. die Landestheater und -orchester, das Weserrenaissance Museum, Schloss Brake in Lemgo) Einrichtungen von überregionaler Qualität zustande, die einer Kommune und Region besonders zugute kommen. Kooperationen können Liebgewonnenes, auch Institute, in Frage stellen, allerdings auch zu deren fachlicher Weiterentwicklung und Profilierung beitragen. Kooperationen können neue Zielgruppen erschließen – verschiedene Ethnien über deren Kulturvereine – und bisherige zur Disposition stellen. Kooperationen können neue Formen gemeinsamer Ressourcenerschließung und -verwaltung bedeuten – z. B. zentrales Management für dezentrale Spielorte, oder die Zentralisierung von Kulturpädagogik. Solche Prozesse bedürfen der politischen Rückendeckung und Einbeziehung ebenso wie einer offenen dialogischen Disposition bei allen Akteuren. Kooperationsvorteile können in allen Bereichen der Kulturarbeit liegen: in einem gegenseitigen fachlichen und organisatorischen Support, in der Effizienzsteigerung von Werbung und Verwaltung, in der Entwicklung neuer Angebote und Projekte (z. B. Kulturrucksack im Bereich der Kulturellen Bildung) in der Zusammenlegung von Angeboten und Einrichtungen usw. Wieweit es sinnvoll ist, dauerhafte Kommunikationsstrukturen (gemeinsame Planungen, Besprechungen) oder fachlich und/oder regional wirkende Kooperationsinstitute (wie die Kultursekretariate oder die Regionalbüros) zu errichten, kann nur im Einzelfall entschieden werden.

Themen-Marktplatz

Chancen und Strategien intra- und interkommunaler Kooperation

„Ohne Netzwerke geht es nicht.“ Mit der Projektförderung der Kultursekretariate, die fördern, was es schwer hat, und die das Besondere ermöglichen, und ebenso mit der Projektförderung der Regionalen Kulturpolitik, die regionale Identität schafft und Beispielhaftes fördert, verfügt NRW bereits über vorbildliche Einrichtungen der interkommunalen Kulturkooperation. Sie haben – inzwischen über Jahrzehnte – den Nachweis erbracht, dass kulturelle Kooperationsverbünde und -projekte nicht vorrangig dem „Finanzausgleich“ sondern der Qualitätssteigerung dienen. Die derzeitige finanzielle Situation der meisten Kommunen und die demografische Entwicklung provozieren jedoch lautere Forderungen nach darüber hinaus gehenden und weiterführenden Kooperationen: nicht nur punktuell und projektbezogen, sondern strukturell und nachhaltig. Formale und informelle Kooperationsformen – möglichst auf gleicher Augenhöhe – in die eigene Kommune hinein, zwischen öffentlichen und freien Trägern und Gruppierungen aller Art sollten aus der heutigen Kulturarbeit nicht mehr wegzudenken sein. (Zu den wichtiger werdenden Gruppierungen zählen sicher auch die vielen Ehrenamtlichen, je ländlicher, desto wichtiger.) Kooperationen sollten die fachlichen und finanziellen Ressourcen der je eigenen Stadtverwaltungen (z.B. Jugendamt, Wirtschaftsförderung) ebenso einbeziehen wie die der örtlichen Kulturtrei-

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benden, Vereine und Einrichtungen. Dies gilt für die interkommunale Zusammenarbeit gleichermaßen, ebenso für das Zusammenwirken mit Partnern außerhalb der traditionellen Kulturszene (Sponsoring). Kooperationen dienen der gezielten Weiterentwicklung der Kulturarbeit ebenso wie deren Finanzierung. Die Ziele einer Kooperation sind grundsätzlich zwischen den Partner/innen gemeinsam zu entwickeln, falls notwendig mit Hilfe externer Moderation. Kooperationen sind arbeitsintensiv, müssen professionell organisiert sein und kommunikativ und zielgerichtet agieren (Controlling). Dazu sind zum einen langfristige gemeinsame Zielsetzungen zu vereinbaren, zum anderen müssen Kooperationen mit einer hinreichenden, fachlich versierten Personalressource, mit Sach- und Projektmitteln hinterlegt sein. Kooperationen dürfen nicht dazu dienen, die bisherige Kulturarbeit der eigenen Kommune lediglich erhalten und für deren Fortbestand nur neue Finanzressourcen erschließen zu wollen. Wer Kooperation will und dazu auch eine gewisse Arbeitsteilung der Kulturanbieter nicht ausschließt, muss sich auf Veränderungen einlassen – und diese offen und gezielt anstreben. Dazu gehört auch die kooperative Definition neuer Kulturräume – regionale Zusammenarbeit setzt aber auch regionale Identifikation voraus –, die Bildung kultureller Werbegemeinschaften und die Entwicklung eines gemeinsamen Marketings – auch unter Einbeziehung der Wirtschaftsförderung und der Touristiker. Andererseits bringt die Kooperationsform

Die Regionale Kulturpolitik der Landesregierung sollte in jedem Fall einbezogen und ihre Fördermöglichkeiten ausgebaut werden, insbesondere für interkommunale Projekte und zur Schaffung oder Verbesserung interkommunaler Kooperationsstrukturen.

Leitung: Dr. Paul Schrömbges, Kulturdezernent Stadt Viersen Josef Schwermann, Zweckverband Kulturforum Steinfurt Georg Scheuerlein, Hochsauerlandkreis Dr. Vera Lüpkes, Weserrenaissance Museum Schloss Brake, Lemgo

25 Arbeitsgruppe / Chancen und Strategien intra- und interkommunaler Kooperation

— Aktionen / Projekte, die das Publikum mobil machen — Lange Nacht der Museen — Extraschicht im Ruhrgebiet — regionale Themenprojekte (Thema „Essen“ der Museumsinitiative OWL) — www.nrw-skulpturen.de (im Aufbau) — Best Practice in der Kulturellen Bildung — Kulturstrolche (www.kulturstrolche.de ) — Landesförderprogramm KünstlerInnen in Schulen (www.kulturundschule.de ) — Theaterproduktionen für Klassenräume — Museumskoffer für Schulklassen — Museums-/Theaterpädagogen im Außendienst geförderte Tourneeorganisation („Kindertheater des Monats“ der beiden Kultursekretariate, „Junges Theater“ des Kultursekretariats NRW Gütersloh) — Kulturscouts (OWL) — außerschulische Lernorte

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Mobilitätsfragen des Kulturangebots

Mentale und organisatorische Voraussetzungen gesteigerter Mobilität — Abschied von der kulturellen Vollversorgung in kommunalen Grenzen — Hinterfragen der kommunalen Kirchtürme — neue Lust auf mehr Vielfalt — Veranstaltungen neben den angestammten Schauplätzen auch in den Alltagsräumen anbieten — Integrationsmöglichkeiten für mobile Künstler und mobile Veranstaltungsformate schaffen — Kooperation mit dem ÖPNV: Fahrplan / Kombitickets / gemeinsame PR Neue Kommunikationsformen und Informationswege — die Priorität von Kunst und Kultur sollte gewahrt bleiben und nicht zum Marketing wechseln — zur Erweiterung der kulturellen Teilhabe müssen alle Informationskanäle genutzt werden — Datenbanken für Anbieter und Besucher aufbauen (bei Beachtung der Datenschutzbestimmungen) — zielgruppenspezifische Ansprache / soziale Netzwerke (als aktuelle Form der Mund-zu-MundPropaganda) — besonders mobile Kulturangebote brauchen neben dem lokalen Veranstalter auch einen lokalen Kommunikator, der den Ortsbezug herstellt — permanente Evaluation, ob die Kommunikationsformen und Informationswege zielgruppenaffin sind

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Appell an alle Kulturköpfe: Es braucht auch eine innere Mobilität, einen dynamischen statt eines statischen Kulturbegriffs. Neue Medien nicht nur als Kommunikationskanal sondern auch als Kunstform nutzen.

Appell an die öffentliche Förderung Beteiligung an Produktionskosten, die Mobilität ermöglichen, spezielle Förderung der Reisekosten und -nebenkosten

— neben der Information wird deren Verpackung / die richtige Ansprache zunehmend wichtiger — die verschiedenen Einzugsbereiche der Medien und der Kulturangebote sind häufig kontraproduktiv, das ist durch neue regionale PR-Netzwerke verbesserbar — die Dringlichkeit für neue Kommunikationswege sollte sich auch im Personalbestand und den Kompetenzen niederschlagen — direktere und schnellere Information über Nutzung des Web 2.0

Leitung: Reinhart Richter, Richter Beratung Osnabrück

Zum Ausbau, zur Qualifizierung, zur Nachahmung empfohlen Beispiele mobiler Kulturangebote / Kulturrezeption — Landestheater und Landesorchester – neben den eingeführten Gastspielorten bieten sich neue mediale Formen an: Public Viewing, Liveübertragungen (Kino, Internet) — Kooperationsangebote des Kultursekretariats in nahezu allen Kultursparten — Best Practice (Auswahl) — Wanderausstellungen (LWL-Museumsamt) — Rathauskino / Mondscheinkino (open air) — geförderte Auftrittsnetzwerke — Programme zur Abspielförderung (Freie Szene NRW) — Bibliotheksbusse — Day of Song — Das digitale Museum

27 Arbeitsgruppe / Mobilitätsfragen des Kulturangebots

Themen-Marktplatz

Kultur und Kulturtourismus

Aus der Stoffsammlung des Themenmarktplatzes und ihrer Gewichtung kristallisierten sich fünf Themen/ Fragestellungen heraus: — Angebot und Nachfrage: Was möchte der Tourist? — Organisations- und Kooperationsstrukturen: Touristiker vs. Kulturmacher — Kulturvermarktung: Wie werden Angebote sichtbar gemacht? — Best Practice: Wie macht man es richtig? — Kulturtourismus: funktioniert nur in der Metropole? Dazu wurden die folgenden Arbeitsergebnisse erzielt.

Popularisierung vs. kultureller Anspruch — Anspruch an Bildungsvoraussetzungen sollte nicht zu hoch sein. Je höher er ist, umso kleiner wird die Zielgruppe. Für 50 „Spezialisten“ im Jahr lohnt ggf. der Aufwand nicht. — Mehrstufiges Erkenntnis-/Erlebnisniveau ermöglichen. Familien-, Laien- und Fachpublikum unterschiedliche Ansätze bieten. — Der Kulturtourist sucht auf dem Land/„in der Fläche“ regionale Kultur, keine Kopien der Kulturangebote in den Metropolen. — Der Kulturtourist liebt für ihn neu und gut erzählte, authentische, weiterempfehlenswerte Geschichten.

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Kooperation — Kulturschaffende und Touristiker finden notwendigerweise – auch wenn sie eine völlig andere Sprache sprechen – immer mehr zueinander. Regelmäßige Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe und in gegenseitigem Respekt vor den unterschiedlichen Perspektiven ist unerlässlich (Beispiel: Kompetenz-Netzwerk Kultur im Tourismus NRW e. V.). — Dringend notwendig ist die interkommunale terminliche Abstimmung bei Open-air-Angeboten. — Berührungsängste schwinden. Immer mehr Kulturinstitutionen sind auf die touristische Vermarktung ihrer Angebote angewiesen. — Hilfsprogramme für Kulturtourismus sind „angewandte Stadtentwicklung“ und umgekehrt. Tourismus ist kein Resteverwerter. Nur wenn die Einheimischen das eigene Angebot schätzen, kann dies Kulturtouristen schmackhaft gemacht werden. — Aber: nicht jedes Produkt ist touristisch (für jede Zielgruppe, in jeder Entfernung) vermarktbar, denn es gilt: Urlaubszeiten sind kostbar, Interessen begrenzt und Alternativen allgegenwärtig. Vermarktungsempfehlungen — Nutzen Sie zur kulturtouristischen Vermarktung die eigene und/oder kommunale Homepage und Social-Media-Portale (nur wenn Sie etwas zu erzählen haben).

— Drucken Sie nur Flyer etc., wenn Sie wissen, wie diese vertrieben werden sollen. — Marketing- und PR-Aktionen wirken nur nachhaltig mit mittel- und langfristigem Engagement (Bsp: Kooperationen auch nach Ruhr.2010 nötig!) — Bilden Sie Partnerschaften mit den regionalen Medien und der lokalen Wirtschaft. — Fragen Sie Ihre regionalen Tourismusorganisationen nach Marktforschungsdaten für Ihre potenziellen und am ehesten Erfolg versprechenden Zielgruppen. — Nutzen Sie Events wie die „Regionale“ als Plattform/Gelegenheit zur Themensetzung. — Kontaktieren Sie kulturtouristische Kalender- und Angebotsseiten wie die der zwölf touristischen Regionen in Nordrhein-Westfalen wie z. B. www. kultur-im-ruhrgebiet.de, www.kulturkenner.de, www.dein-nrw.de

Fazit Kulturtourismus in der Fläche — erfordert aktive Kooperation von Kulturmanagern und Touristikern zur lokalen/regionalen/überregionalen Vermarktung — muss in seinen Vermarktungschancen realistisch beurteilt werden — muss seine Kommunikation ebenso mit einem klaren, strategischen Marketing-Konzept ausrichten wie Institutionen in der Metropole mit Kultur-Überangebot — sollte dem Besucher einen weiteren Anreisegrund vorschlagen, z.B. Rad-/Wanderweg/Ausflugsziele in der Nähe — sollte Service-Qualität, Aufenthaltsqualität und Gastronomie bieten. (Infos zu Service-Qualität Deutschland in NRW unter: www.q-nrw.de oder Tel: 0211/91320-533)

Best Practice: Wie macht man es richtig? — Ein attraktives Ziel „in der Fläche“ mit überregionaler Ausstrahlung: Römermuseum in Haltern — Gute Gastronomie-Angebote quersubventionieren das Kulturangebot. — Gute Vernetzungsbeispiele gibt es bereits im Fahrradtourismus (Bsp: Infrastruktur und touristische Ausrichtung des Ruhrtalradwegs) — „Extraschicht – Nacht der Industriekultur“ ist vorbildliches Modell ohne Mobilitätsprobleme. — Neanderthalmuseum: Haus „in der Fläche“ zieht mit außergewöhnlich inszenierten Themen viele Kulturtouristen an. — Beispiel für Kultur und Wirtschaftskooperation in der Städteregion Aachen: www.economy-meetsart.de — Arbeitsgemeinschaft Historische Stadt- und Ortskerne NRW (www.hist-stadt.nrw.de)

Ausblick/Empfehlung Erstellung eines Leitfadens zur Förderung des „Kulturtourismus in der Fläche“ zu u.a. folgenden Themen: — Definition von Zielgruppen — Zielgruppenansprache und Kooperationen — Veranstaltungsmanagement — Service-Qualität im Tourismus Literaturtipp — Hausmann, Andrea; Murzik, Laura (Hrsg.): Neue Impulse im Kulturtourismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden, 2011. — Steinecke, Albrecht: Kulturtourismus: Marktstrukturen, Fallstudien, Perspektiven. Oldenbourg Wissenschaftsverlag München, 2007.

Kulturtourismus: funktioniert nur in der Metropole? Umfrage an die Gäste vor Ort: Welche Art von Urlaub verbringen Sie hier? Urlaubsart

Umfrageort ländliche Region

Umfrageort städtische Region

Insgesamt

Besichtigungsreise

32,26 %

25,05 %

26,52 %

Kultururlaub

26,53 %

21,39 %

16,89 %

Städteurlaub

34,49 %

34,74 %

24,79 %

Veranstaltungs-/ Eventbesuch

21,44 %

34,35 %

19,46 %

Mai 2009–April 2010, Quelle: Qualitätsmotor Deutschland-Tourismus

In der Selbstwahrnehmung der Touristen: Nein!

Leitung: Prof. Dr. Ute Dallmeier, International School of Management Dr. Dieter Nellen, RVR Ute Schulze-Heiming, Kleve Marketing GmbH & Co.KG Jens Nieweg, Tourismus NRW e.V.

29 Arbeitsgruppe / Kultur und Kulturtourismus

„Eine bessere Finanzausstattung wird kaum erreichbar sein, vorrangig geht es um mehr Kooperationsbereitschaft.“ Meinolf Jansing, Geschäftsführer Kultursekretariat NRW Gütersloh

„Es war unser Anspruch, eine Tagungsform zu finden, die sich das Fachwissen der Teilnehmer aus so vielen Kultursparten zunutze macht und in die Ergebnisse einfließen lässt.“ Annegret Schwiening-Scherl, Geschäftsführerin Landesverband der Musikschulen in NRW e.V.

5. Februar 2012 19:05 – 20:00 Uhr

WDR 3 Kulturpolitisches Forum Spitze in der Breite – Wie die kulturelle Entwicklung jenseits der Metropolen sinnvoll gefördert werden kann

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1 Bettina Jahnke Intendantin des Rheinischen Landestheaters Neuss 2 Dr. Brigitte Labs-Ehlert Literaturbüro OstwestfalenLippe 3 Peter Landmann Abteilungsleiter Kultur im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW 4 Dr. Paul Schrömbges Kulturdezernent der Stadt Viersen 5 Stefan Keim Jounalist

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Stefan Keim: Hamm in Westfalen, ich bin jetzt ein paar Jahre nicht mehr hier gewesen und als ich aus dem Bahnhof heraus kam, war ich völlig überrascht: ein herrlich gestalteter Vorplatz und ein ganz neuer Bau für die Volkshochschule und für die Stadtbibliothek, in der sich auch das Heinrich-von-Kleist-Forum befindet, in dem wir jetzt gerade sitzen. Herzlich willkommen zum Kulturpolitischen Forum WDR 3. Wir diskutieren heute über das Thema „Spitze in der Breite, Kultur auf dem Lande“. Das ist die Abschlussdiskussion einer Tagung, die sich hier, veranstaltet vom Kultursekretariat NRW Gütersloh und von den Landesverbänden der Musikschulen und Bibliotheken in NRW, zwei Tage lang mit diesem Thema beschäftigt hat. Wir haben jetzt hier vier Leute mit ganz verschiedenen Perspektiven versammelt: Bettina Jahnke (BJ), seit zweieinhalb Jahren Intendantin des Rheinischen Landestheaters Neuss, Dr. Brigitte Labs-Ehlert (LE), künstlerische Leiterin des Festivals „Wege durch das Land“, Dr. Paul Schrömbges (PS), Kulturdezernent der Stadt Viersen, und als Vertreter des Landes Peter Landmann (PL), Leiter der Kulturabteilung im dafür zuständigen Ministerium. Frau Jahnke, fangen wir mit Ihnen an. Am Montagmorgen spielen Sie Woyzeck im Gymnasium Meppen. Das ist Alltag für ein Landestheater. Freuen Sie sich darauf? Bettina Jahnke: Ich persönlich natürlich schon, weil das einer unserer Abstecher ist, oder eines unserer Gastspiele, die wir sehr gerne machen. Wir haben den Woyzeck natürlich im Programm, wie viele andere Theater auch, er ist Abiturstoff. Wir richten uns danach, wir müssen uns danach richten, damit diese Abstecherorte uns auch einkaufen. Das ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil dadurch fast alle Theater den Woyzeck im Programm haben, und Segen, weil dadurch die Schüler zu uns kommen, also eine zweischneidige Sache. SK: Fluch und Segen. Ich habe natürlich nach dem Gymnasium Meppen gefragt, ohne das Gymnasium Meppen zu kennen, aber Sie haben ein sehr modernes, auch noch gar nicht so lange bestehendes Theater in Neuss, auf dem neuesten Stand der Technik, das sollte kein Wortspiel sein mit Neuss, aber das ist wirklich ganz großartig ausgestattet. Wie sieht es denn aus in Meppen? Müssen Sie da viele Zugeständnisse machen, können Sie so ein Stück bei solchen Abstecherorten überhaupt so präsentieren, wie Sie es einstudiert haben? BJ: Ja, das ist die Grundvoraussetzung. Also bei uns als Landesbühne gehört das Reisen zum Programm. Wenn der Regisseur und sein Bühnenbildner zu uns ins Haus kommen, gibt es als allererstes eine Konzeptionsprobe, wo alle Gewerke zusammen sitzen, und dann wird geprüft, kann dieses Stück wirklich an allen Orten, wohin wir es verkauft haben, auch gespielt werden – mit der gleichen Qualität. Dass dort natürlich mal Unterschiede sind, dass dort ein Abgang oder ein Aufgang mal rechts statt links ist, oder dass eine Lampe 10 cm tiefer oder höher hängt, das zählt dazu nicht. Aber es gibt keine A- und keine B-Variante.

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SK: Macht man da von vornherein vielleicht auch Zugeständnisse, wenn man weiß, ich muss das Stück über Land schicken? BJ: Also es ist schon so, dass wir sagen, es muss in einer bestimmten Zeit aufgebaut werden können, es muss danach in einer Stunde wieder abgebaut werden und es muss in einen Container passen. Das ist sozusagen der äußere Rahmen, das ist auch manchmal, wie ich schon sagte, Fluch und Segen zugleich. Der Segen ist hier, dass die Künstler sehr gefordert sind und dass ich im Vorfeld mit den Bühnenbildnern und mit den Regieteams solange diskutiere und rede, dass wir nach einer gemeinsamen variablen Lösung suchen und die auch meistens finden. Dadurch kommen sehr interessante und manchmal auch sehr absurde und auch schöne Bühnenbilder heraus. Es muss nicht immer ein Verlust oder ein Defizit sein. SK: Das Rheinische Landestheater als ein Beispiel für eine Institution, die produziert und dann einen ganz großen Bereich abdeckt. Ich hab nachgeschaut, Sie haben in der letzten Saison allein 84 Abstecher gemacht, also Gastspiele. Brigitte Labs-Ehlert, Sie bringen auch Kultur in die Fläche, aber mit einem völlig anderen Konzept. „Wege durch das Land“ ist ein Festival, das in diesem Jahr auch wieder im Mai beginnt und sich dann bis Ende Juli fortsetzt. Bei Ihnen ist es so, dass Sie eigentlich nur Unikate machen, das heißt, Sie gehen in Orte, Sie lassen Lesungen, Musik auf Wiesen und in Schlössern stattfinden und das Programm hat immer etwas mit dem Ort zu tun, oder? Dr. Brigitte Labs-Ehlert: Ja, das ist das Besondere bei diesem Literatur- und Musikfest „Wege durch das Land“, dass sich das Programm entwickelt aus der Geschichte, aus den Persönlichkeiten, die an diesem Ort gelebt und gewirkt haben. Es sind manchmal literarische Schauplätze, aber eigentlich werden dann über unsere Veranstaltung diese Orte alle zu Literaturorten, weil die Literatur an diese Orte geht. Jetzt 2012, in der 13. Saison, haben wir Veranstaltungen auch mit literarischen Exkursionen an 35 Orten in OWL, d. h., das Publikum lernt in dieser Zeit die ganze Landschaft, auch den kulturellen Reichtum unter dem Gesichtspunkt Literatur und Musik kennen. SK: Sie erkunden also wirklich eine Region mit den Mitteln von Literatur und Musik und Sie haben immer wieder absolute Topstars dabei: Otto Sander, Klaus-Maria Brandauer, natürlich auch musikalische Topstars. Wie schaffen Sie es, dass die alle nach OWL kommen und das jedes Jahr? LE: Die großen Schauspieler kommen inzwischen seit vielen Jahren nach OWL, oder sagen wir ins östliche Westfalen, weil wir natürlich über die Regierungsbezirksgrenze und auch schon mal über die Landesgrenze hinaus springen, weil das doch wirklich ein Kulturraum ist. Sie kommen vor allen Dingen wegen der interessanten Texte, Texte, die sie eben so nicht im Repertoire haben oder mit denen sie selbst auf Tournee gehen, und wie gesagt, diese Texte haben dann immer etwas mit dem Ort zu tun. Ich finde es ganz wichtig an dieser Stelle zu sagen, diese großen Schauspieler kommen so gerne in die Region, weil sie

die Landschaft vorher nicht kannten, auch nicht wussten, wer hier alles gelebt und gewirkt hat. Ich nenne ein paar Namen, Annette von Droste-Hülshoff ist natürlich bekannt, Jürgen von der Wense, Arno Schmidt, Kloppstock, Stollberg, Malwida von Meysenbug, die alle haben ja im östlichen Westfalen oder in Westfalen gewirkt, und das interessiert auch die Künstler. SK: Jürgen von der Wense als ein Beispiel, der wurde von Klaus-Maria Brandauer gelesen, was ja auch etwas völlig Neues für Herrn Brandauer war. Wir haben hier zwei Beispiele sitzen, für großartige Veranstaltungsreihen oder Institutionen, die hervorragend auf dem Land funktionieren. Nun gibt es aber auch die andere Seite. Es gibt die wegbrechenden Abboreihen, es gibt Angebote, die eingedampft, verkleinert werden, völlig wegfallen. Es gibt Landschaften, die zum Teil auch kulturell veröden. Dr. Paul Schrömbges, Sie sind Kulturdezernent in Viersen und Sie sind auch Stellv. Vorsitzender des Kulturausschusses des Städtetages von NRW, d. h. Sie beschäftigen sich auch über Ihre Stadt hinaus mit der Lage der Kommunen und vor allen Dingen auch der Kultur. Wie ist denn das eigentlich heute? Ich stelle mir vor, als Sie angefangen haben, da wirkte man als Kulturdezernent ja noch richtig, da konnte man noch richtig gestalten. Wie ist das denn heute? Verwaltet man nur noch den Mangel? Dr. Paul Schrömbges: Ich bin eigentlich ein Gegner davon, eine Notdebatte zu führen. Natürlich muss man sich in Anbetracht der zurückgehenden Ressourcen konzentrieren, auch wir haben in Viersen Abboreihen zusammenlegen müssen. Das Wichtigste aber, worauf wir achten, ist, hochwertige Kultur zu präsentieren. Wir haben Auslastungsquoten, die deutlich über 90 % liegen. Für den Einzugsbereich unserer Stadt präsentieren wie ein Angebot, das von den kulturaffinen Menschen sehr gerne angenommen wird. Wir leben allerdings eben auch in einem kulturellen Ballungsraum. Krefeld, Mönchengladbach, Düsseldorf, Köln, Essen sind innerhalb weniger Fahrminuten zu erreichen und wir müssen uns in diesem Raum auch positionieren und das wiederum führt dazu, dass man sich qualitativ hochwertig präsentieren muss. SK: Ja klar, man könnte ja auch zum Beispiel die Frage stellen, warum braucht Viersen eigentlich aufwendige Operngastspiele, wenn Sie das Theater Krefeld-Mönchengladbach direkt in der näheren Umgebung haben, die ein paar Zuschauer mehr aus Viersen ja auch gut brauchen können? Also warum gestalten Sie eigentlich noch selbst? Warum mieten Sie nicht Busse? PS: Das ist zuerst eine Frage der Identität. Eine Kreisstadt hat auch den Selbstanspruch, ein kulturelles Zentrum zu sein für die Region, die sie zu vertreten hat. Es ist ja durchaus so, dass wir uns untereinander abstimmen. Ich spreche regelmäßig mit den Kollegen in Mönchengladbach und Krefeld. Wir wissen ja auch, dass wir alle im selben Teich angeln und dass wir für eine Struktur ein Angebot entwickeln, die über unsere Stadtgrenze deutlich hinausweist. Wir haben bei dieser Tagung auch über harte Standortfaktoren gesprochen. Eine Stadt ohne ein entsprechendes Bildungs- und Kulturangebot wird im interkommunalen Wettstreit schlechtere Karten haben – auch das ist ein ganz wesentlicher Aspekt.

SK: Also Kultur ist eindeutig für Sie auch ein Wettbewerbsfaktor um sagen zu können: Viersen ist TOP? PS: Ja! SK: Herr Landmann, wir haben ja, was die Landesregierung angeht, in den vergangenen Monaten sehr viel darüber gesprochen, wenn es darum ging, die großen Bühnen zu retten. Es wird vom Land sehr viel gefordert: Stabilitätspakt, verschiedene andere Geschichten. Das Land hat allerdings auch jetzt keinen Haushalt, der übersprudelt mit Geld, aber welche Rolle spielt denn überhaupt die Debatte um die Nöte der Kultur in kleineren Städten innerhalb der Landesregierung. Peter Landmann: Sie spielt eine sehr große Rolle. Man kann sagen, sie ist das dominierende Thema. SK: Wahrhaftig? PL: Ja, doch, das muss man sagen. Wir haben es ja wegen der Finanznot der Städte z. B. mit einem Phänomen zu tun, dass die von uns initiierten Programme und Fördermöglichkeiten von Städten gar nicht mehr abgerufen werden können, weil sie nicht in der Lage sind, den notwendigen, wenn auch kleinen Eigenanteil aufzubringen. Und wir haben auch das Problem, das auch hier bei der Tagung schon eine Rolle gespielt hat, dass diese Städte von der Kommunalaufsicht möglicherweise daran gehindert werden, solche Förderung entgegen zu nehmen. Das ist natürlich etwas, was die Kulturpolitik des Landes auch sehr in Schwierigkeiten bringt. SK: Vielleicht machen wir das noch einmal klar. Also es gibt Förderprogramme der Landesregierung, die sagen, Städte ihr könnt Geld für verschiedene Projekte bekommen, wenn ihr eine Eigenbeteiligung einbringt. Und die Städte wollen das machen, sind dann aber zum Teil in Nothaushalten, es gibt Aufsichtbehörden und die sagen ihnen, ihr dürft das gar nicht. Das heißt, die Denke, die man früher hatte, „hei, wir kriegen Geld von außerhalb, dann werden wir wohl den Eigenbeitrag schon irgendwie aufbringen“, diese Denke funktioniert nicht mehr. PL: Ja, die ja an sich auch vernünftig ist. Es ist auch wirtschaftlich sinnvoll für eine Stadt, z. B. ein Projekt durchzuführen, für das sie 80 % Fremdfinanzierung bekommt und nur noch 20 % selbst aufbringen muss. Das ist ein Konflikt, der sich auch innerhalb der Landesregierung abspielt. Das ist eine schwierige Diskussion zwischen den Kollegen im Innenministerium, die die Kommunalaufsicht beaufsichtigen, die ihrerseits bei den Bezirksregierungen sitzt, und uns. Wir haben da auch widerstreitende Interessen, da kommt man nicht dran vorbei. Wir versuchen jetzt – im Rahmen des Kulturfördergesetzes – für dieses Problem eine Lösung zu finden, aber das ist sehr schwierig. SK: Da sprechen Sie ein großes Wort aus: Kulturfördergesetz. Ich denke, das ist eines der großen Projekte für dieses Jahr, was die Kulturpolitik angeht. Sie veranstalten jetzt einige Regionalkonferenzen, d. h. Sie machen nicht einfach einen Entwurf, sondern

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Sie versuchen wirklich herauszufinden: Was sind die Ansprüche? Was können wir leisten? Wie gehen Sie da vor? PL: Wir wollen in jedem Regierungsbezirk eine ganztägige Konferenz abhalten, und die Kulturschaffenden und die Kulturverantwortlichen im Land dazu einladen, mit uns zu diskutieren, was denn die Herausforderungen für die Zukunft sind. Und die große Gratwanderung ist nun: zum einen werden wir mehr Transparenz schaffen, vielleicht über neue Verfahren reden, wie die Landesförderung funktionieren soll. Aber die spannendste Frage ist letztlich die – und das ist sicherlich auch einer der Impulse, ein solches Gesetz zu machen – können wir mit einem solchen Gesetz einen Beitrag dazu leisten, dass kulturelle Infrastruktur im Land stabilisiert wird. Einerseits ist das Land selbst auch in riesigen Finanznöten. Auch beim Land geht es darum, eine politische Möglichkeit zu finden, den Kulturetat des Landes und die Kulturaktivitäten des Landes zu sichern. Aber natürlich ist es in NRW, wo 80 % der Kulturlasten bei den Städten liegen, noch viel wichtiger, ob wir einen Weg finden, die Kulturarbeit in den Städten zu stabilisieren. Und das wird eine der spannenden Fragen sein, ob das Gesetz dazu einen Beitrag leisten kann. SK: Stabilisieren ist das Wort, das Sie jetzt zweimal gesagt haben. Natürlich will man vermeiden, dass Institutionen, dass Kultur wegbricht. Herr Schrömbges, bei Ihnen in Viersen haben Sie das Motto „Kultur in Viersen, immer in Bewegung“. Ich nehme an, das haben Sie nicht aus Zufall, sondern es macht ja auch die Kultur aus, dass sie in Bewegung sein muss, d. h. es muss auch Neues entstehen können. Reicht da stabilisieren? PS: Ich glaube, man sollte das nicht entweder oder, sondern sowohl als auch diskutieren. Natürlich muss ich die vorhandenen Institute stabilisieren, ich kann die Festhalle nicht abschaffen, ich möchte die Galerie nicht schließen. Aber das Programm selbst kann ich mit Dritten und Vierten durchaus konstruktiv weiterentwickeln. Wir haben dazu diverse Ansätze. Das eine ist die intensive Vernetzung im Gütersloher Kultursekretariat, das uns gestern und heute hier zusammengeführt hat, aber auch der Kulturraum Niederrhein. Das macht viel Arbeit, ist aber auch sehr produktiv. Wir haben uns allerdings auch in unsere Stadt hinein neu vernetzt. Unsere Niederrheinwerke, unsere Stadtwerke fördern einen artist-in-residence, ein wunderschönes Programm, das jetzt ins vierte Jahr geht, so dass wir also auch konkrete Künstlerförderung vor Ort machen, wo unsere Kulturpädagogin dann die Klassen hinbringt. Das sind ganz neue Strukturen, die sich da entwickeln und die sich eben durch Kooperation in der Stadt selbst entwickelt haben und weiter entwickeln werden. SK: Bleiben wir mal bei artist-in-residence. Ich bin von einem Modell, das es in Moers gibt, gerade völlig begeistert. Die haben einen improviser-in-residence, das klingt vielleicht erst einmal etwas seltsam, aber es gibt ja in Moers das Jazz-Festival, das inzwischen MoersFestival heißt, und aus dem Zusammenhang ist diese Idee entwickelt. Da gibt es einen Musiker, der bekommt wie ein Stadtschreiber eine Wohnung in der Stadt. Die

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Wohnung steht jedem offen. Man kann dort hin gehen, er macht Projekte mit Schulen, er macht Projekte mit einzelnen Bürgern, die kommen und sagen: „Ich kann Mundharmonika spielen, können wir was zusammen machen?“ Er gibt Hauskonzerte, macht über das ganze Jahr verteilt unglaublich viel in der Stadt und kostet erstmal verhältnismäßig wenig, bzw. mir hat letztens der Kulturdezernent aus Moers ganz stolz gesagt, in diesem Jahr kostet er uns gar nichts, denn wir haben Mittel der Bundeskunststiftung aufgetrieben, um diesen zu finanzieren. Was macht den Ihr artist-inresidence? PS: Er hat eine großzügig bemessene Wohnung in der alten Lateinschule, die von den Stadtwerken saniert worden ist, mit einem separaten Atelier. Er ist im Moment ein Er, darum spreche ich auch in der maskulinen Form. Eine Ausstellung in der Städtischen Galerie im Park wird den Abschluss dieses Aufenthaltes bilden und die Stadtwerke kaufen ein Kunstwerk an. Wir sind eigentlich nur im Overhead präsent, indem wir bei der Auswahl mit den Kunsthochschulen zusammen wirken und diesen Künstler im Laufe des Jahres betreuen und begleiten, aber die Finanzierung wird durch die Stadtwerke sicher gestellt. SK: Vernetzen war gerade auch ein ganz wichtiges Wort. Sie haben davon gesprochen, dass Sie stark mit Mönchengladbach und Krefeld zusammen arbeiten, den beiden größeren Städten in der direkten Umgebung. Frau Labs-Ehlert, ich denke Sie müssen ja unfassbar vernetzt sein auf dem Lande und zwar auch mit vielen Privatleuten, denn es geht ja gar nicht um Institutionen, sondern es geht um Leute, denen Schlösser, Burgen – entsprechende Wiesen natürlich auch – gehören und die Sie davon überzeugen müssen, dass Sie mit ein paar hundert Leuten dahin kommen können und dort Ihre Veranstaltungen machen dürfen. Wie bauen Sie so ein Netzwerk auf? LE: Vor 13 Jahren ist die Idee zu „Wege durch das Land“ entstanden und es gab einige Gastgeber, die von vorneherein gesagt haben, ich öffne zum ersten Mal mein privates Anwesen, mein Schloss oder auch meine Fabrikhalle. Das hat sich dann auch bei den Besitzern und Eigentümern von interessanten historischen Bauten herumgesprochen, so dass sehr schnell weitere Türen geöffnet wurden. Inzwischen ist es so, dass jemand auf mich zukommt – auch z. B. Städte kommen auf mich zu – und sagen, wir haben hier eine interessante alte Kirche oder wir haben ein Herrenhaus und wäre das vielleicht etwas für eine Station für „Wege durch das Land“. Da ist ein großes Netzwerk in diesen 13 Jahren entstanden, wir haben 75 verschiedene Orte in Ostwestfalen-Lippe mit „Wege durch das Land“ besucht. Manche nur einmal, manche jedes Jahr. Aber es gibt noch eine ganz andere, für mich auch sehr wichtige Vernetzung: über „Wege durch das Land“ haben kleine Initiativen vor Ort den Mut gefasst, eigene Projekte zu entwickeln. Zum Beispiel das Kulturgut Holzhausen, dort ist ein ganz phantastisches von den Gutsbewohnern eigenständig organisiertes Voice Festival entstanden. SK: Das heißt doch auch für Sie als künstlerische Leiterin dieses Festivals, dass Sie ja auch diese Offenheit

haben müssen, diese Initiativen anzunehmen und gleichzeitig auch kritisch zu durchleuchten, ob das zum Niveau Ihres Festivals passt, oder? LE: Es kann schon mal vorkommen, dass ein Ort nicht einfach wegen seiner Lage oder wegen seiner Authenzität nicht in Frage kommt, sondern weil er nicht genug an Geschichte, an Schichtung hergibt. Dann muss ich wirklich sagen, es ist nicht möglich. Dann kann aber folgendes entstehen. Steinhagen hatte ein Jubiläum und hatte mich eingeladen zu gucken, wo man etwas veranstalten kann, doch alle Räumlichkeiten waren nicht geeignet. Nachher hat diese Veranstaltung bei Frau Schlichte von Steinhäger im Wohnzimmer stattgefunden. SK: Mit wie vielen Leuten? LE: Die Veranstaltung wurde vier Mal durchgeführt. Ich glaube es passten ungefähr 160 Leute jedes Mal hinein. Es war ein großes Wohnzimmer, eine Deele, und es gibt einen Text von Erich Kästner, in dem der „Steinhäger“ eine Rolle spielt, der natürlich dann gelesen wurde. SK: Es gibt ja einige Beispiele von Kulturfestivals auf dem Lande, das Schleswig-Holstein-Musik-Festival ist – glaube ich – der große Klassiker, aber auch Kunstfestivals mit offenen Galerien in Niedersachsen, wo das Publikum per Fahrrad von Atelier zu Atelier und Galerie fährt. Wie vernetzt sind Sie denn mit Touristikunternehmen? Spielt Marketing und Touristik für Sie auch eine Rolle? LE: Im Prinzip schon. Wir haben aber ein – inzwischen muss ich wohl sagen – durchaus ein Problem. Das Programmheft erscheint Ende März und innerhalb der ersten Woche sind 95 % der Karten verkauft. Für die Touristiker besteht dann einfach das Problem, dass sie bei mir eigentlich ein Kontingent fest abnehmen müssten. Natürlich gibt es so kompakte Wochenenden, zu denen müssten zehn Leute aus Berlin oder sonst woher kommen. Das haben wir noch nicht ganz gelöst, wie man solche Pakete an die Touristiker weitergeben kann und dass sie sie dann auch verkaufen. Das Publikum kommt jedenfalls deutschlandweit nach Ostwestfalen-Lippe. SK: Aber die organisieren das bis jetzt weitgehend individuell? LE: Genau. SK: Ein Luxusproblem, wenn man schon 95 % der Karten verkauft hat. Bettina Jahnke, Sie haben ja auch eine große Steigerung der Zuschauerzahlen in den zweieinhalb Jahren, die Sie in Neuss arbeiten, erreicht, fast 60.000 waren es in der vergangenen Saison, 2.000 mehr als in der Spielzeit davor, und davor waren es noch weniger. Also wirklich eine Erfolgsgeschichte. Ich habe schon erwähnt, 84 Abstecher. Sind es auch 84 Orte? Wie viele Orte sind es denn, in denen Sie spielen? BJ: Das kann ich gar nicht genau sagen. Das weiß ich wirklich nicht, da würde ich jetzt lügen. Es sind

genügend und sehr viele. Also wir spielen von Dormagen, was vor der Tür ist, bis hin zu Lahm in Bayern, Neuwied, Erlangen, also wo man uns ruft, fahren wir eigentlich hin. Auch teilweise mit Übernachtungen, da muss man über den Preis dann mit dem Veranstalter reden. Aber im Prinzip sind wir schon bemüht, die Anfragen auch zu erfüllen. Mir sind immer die liebsten, wenn Stücke angefragt werden. Also wenn z. B. Lahm anruft und sagt, Sie haben die Orestie im Programm, das interessiert uns, das möchten wir gerne sehen. Dann bin ich bereit, auch über die sieben Berge mit meinem Ensemble zu fahren. SK: Herr Landmann, wenn so ein Landestheater, z. B. Neuss über die sieben Berge fährt, kommt dann vielleicht auch einmal von Düsseldorf ein Rüffel, Leute, ihr seid ein Landestheater, das ist nicht euer Job? PL: Das haben wir bisher noch nie irgendwie kritisch beleuchtet. Wenn es so wäre, dass innerhalb des Landes die Angebote des Theaters signifikant nicht mehr abgenommen würden und sich stattdessen das alles im Passauer und Regensburger Raum abspielen würde, dann müsste man ein Gespräch führen mit der Intendanz. Aber das ist nicht so, das ist wirklich nicht so. BJ: Wir sind ja auch Werbeträger für NRW. Ich meine, wenn Neuss in Bayern spielt … SK: Die Frage war auch nicht so ganz ernst gemeint. Es gab ja vor einiger Zeit mal eine große Krise der Landestheater. Ist die jetzt überwunden? Ist Ihre Arbeit gesichert? BJ: Da ich erst zweieinhalb Jahre dabei bin, kann ich das gar nicht bestätigen. Ich mache für mich persönlich die Erfahrung, dass der Ruf oder das Vorurteil, dass die in der Provinz auch nur provinziell denken bzw. nur leichte Kost oder das allgemeine konventionelle Theatergut sehen möchten, dass das nicht stimmt. Dass wir z. B. mit der Orestie oder auch mit schwierigen und auch komplizierten Stücken trotzdem einen sehr guten Abnehmerkreis finden und dass ich die Erfahrung mache – ich fahre auch persönlich herum, guck mir das an, rede auch viel mit den Kulturamtsleitern –, dass da sehr phantasievolle und sehr engagierte und sehr kreative Menschen am Werk sind, die wirklich auch immer nach der eierlegenden Wollmilchsau suchen. Also wie kann man es schaffen, dass eben nicht nur das Abiturstück gezeigt wird, sondern vielleicht auch noch – hinterrücks, durch die Brust – ein moderner Dramatiker, also eben Kasper Häuser Meer z. B. gezeigt wird. SK: Kasper Häuser Meer, ein Stück von Felicia Zeller, das ein richtiges Sprachkunstwerk ist. BJ: Eine Sprachoper, für die wir dann wirklich fünf bis sechs Abnehmer haben, das freut mich dann besonders. Wo man versucht, auf Risiko zu gehen, und wo es sicherlich schwierig ist, dafür Zuschauer zu bekommen. Aber die, die dann drin waren, rauskommen und sagen: „ Mensch, freiwillig wäre ich da nicht reingegangen. Aber das ist toll, also wunderbar, ich gehe bereichert wieder raus.“ Und das sind natürlich die Stücke, die auch mehr Arbeit machen. Die machen den

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Kulturamtsleitern vor Ort mehr Arbeit und uns auch, aber das sind mir auch die liebsten Kinder. SK: Spitze in der Breite, das Kulturpolitische Forum WDR 3, heute aus Hamm und wir sprechen gerade mit Bettina Jahnke, der Intendantin des Rheinischen Landestheaters Neuss darüber, dass man auch in der Fläche nicht nur die Komödie zeigen kann, dass man auch neue Dramatik und komplexere Stücke durchaus aufs Land schicken kann. Sie stehen da ja in Konkurrenz auch mit Tourneetheatern, die dann z. B. auch mit einem Fernsehstar kommen um den herum ein paar Schauspieler gruppiert sind und nette Komödien spielen, aber die ja auch – ich denke z. B. an das Eurostudio Landgraf – durchaus hochwertige Produktionen im Angebot haben. Wie hat sich denn da die Konkurrenz entwickelt? Sind die Bandagen härter geworden? Müssen Sie mehr verhandeln? BJ: Auf alle Fälle. Die Bandagen sind härter geworden. Zum einen was wir mitbringen, ist z. B. ein Begleitprogramm. Wir bieten an, dass die Dramaturgin mitkommt, dass wir ein Vorgespräch mit dem Publikum führen, dass wir ein moderiertes Nachgespräch anbieten, dass wir bei Jugendstücken z. B. auch in die Schulen gehen oder wenn sie eine Schulklasse in der Vorstellung haben, betreuen wir die auch. Das ist etwas, was die Privattheater nicht machen. Die kommen, bauen auf, spielen und fahren wieder. Das zweite ist, dass auch mein persönlicher Kontakt zu bestimmten Kulturorten sehr wichtig ist. Also mir ist es wichtig, dorthin zu fahren wo wir spielen, mit den Dramaturgen im Gespräch zu sein. Dass es so eine Art Partnerschaftsprogramm gibt, das ist ein Bereich, in dem wir andere Möglichkeiten und eben auch einen anderen Apparat zur Verfügung haben, anders agieren können. Das ist das Pfund, das ich dann in die Waagschale werfe. Mal funktioniert es, mal nicht. Oft ist es auch so, dass mir die Amtsleiter sagen, der Fernsehstar hat sich zwar gut verkauft, aber dann war die Enttäuschung groß, weil er nicht so aussieht wie im Fernsehen. Und dann muss man den nicht nochmal holen. Das sind so Erfahrungen, die häufig gemacht werden. Dann nehmen sie doch lieber die Landesbühne, da wissen sie, was sie haben. SK: Die Erfahrung habe ich auch gemacht. Da werden teilweise Werbefotos veröffentlicht von den Fernsehstars, die noch aus ihren großen Kinozeiten aus den 70er Jahren stammen. Herr Schrömbges, Sie in Viersen, sind Sie eigentlich auch ein Kunde vom Landestheater Neuss? PS: Die liegen zu nah dran. Aber es ist natürlich schon so, dass das Einkaufen von Ensembles eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Man muss ja auch feststellen, dass die Zahl der Ensembles nicht zunimmt, die man überhaupt einkaufen kann. Das betrifft auch die Musikszene, nicht nur die Theaterszene. Wenn man an ein städtisches Programm rangeht, dann muss man schauen, dass man das anbietet, was geht. Die Comedians sind stark im Vormarsch. Das muss man deutlich sagen. Aber als Spielstätte sind wir auch in der Verantwortung, das anzubieten, was es schwer hat. Das tun wir auch. Wir versuchen einen Mix herzustellen. Wir trennen auch schon mal die Festhalle zur Hälfte ab, um

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eine andere Raumwirkung zu erzielen, und machen gute Erfahrungen damit. Was bestens angenommen wird, sind übrigens Stücke für Kinder und Jugendliche. Ab und an leisten wir uns dann mal ein Superevent. Unsere Festhalle wird jetzt 100 Jahre alt und da werden wir Anne Sophie Mutter nach Viersen holen. Aber dann steht man im Grunde davor, das entweder durch Drittmittel zu sponsern, oder die Karten auf eine Preisebene zu heben, die an Teilen der Stadtgesellschaft vorbei geht. Die Sorge ist nicht, die Festhalle zu füllen, sondern dass wir dieses Angebot für Nichtviersener machen, und da sind wir dann in so einem Zielkonflikt. Man muss sich ständig neu definieren und auch mit großer Sensibilität in die eigene Stadt hineinhorchen. Aber das gelingt, wir sind sehr gut vernetzt und gerade unsere Spielstätte ist sehr gut nachgefragt.

Logo im Programmheft – unterstützt wird. Es gibt am Veranstaltungsort selbst natürlich überhaupt keine Werbemaßnahmen.

SK: Wo Sie das gerade ansprechen, dass man sich auch Partner, Sponsoren suchen muss. Ich habe manchmal den Eindruck, dass das auf dem Land, in der Fläche, in kleineren Kommunen vielleicht sogar ein bisschen einfacher ist als in den Großstädten – vielleicht auch deswegen, weil dort mögliche Sponsoren denken, oh Gott, oh Gott, wenn ich jetzt dem was gebe, dann steht gleich der und der und der auch noch auf der Matte und ich bin plötzlich in Diskussionen, in denen ich gar nicht sein will. Frau Labs-Ehlert, ohne Sponsoren könnten Sie Ihr Festival gar nicht realisieren, oder?

LE: Also erstens kommen die Unternehmer selbst zu den Veranstaltungen, das heißt, sie sind auch wirklich daran interessiert, was dort stattfindet; und das ist immer ein drei- bis vierstündiges, hochanspruchsvolles, intellektuelles, philosophisches, literarisches Programm und sie berichten in ihren Firmen, Zeitschriften, Kundenzeitschriften oder eben auch für die Mitarbeiter von dem Literatur- und Musikfest.

LE: Überhaupt nicht. Das Festival wird zu 30 % von der öffentlichen Hand finanziert. Also – ich schaue Herrn Landmann an – vom Land NRW und von den Kreisen in OWL und man kann das eigentlich ganz offen sagen, es sind 1/3 Eintrittsgelder und 1/3 Sponsorenmittel, die jedes Jahr für „Wege durch das Land“ neu eingeworben werden müssen. SK: Sie haben keine Sponsoren, die sagen, wir sind jetzt für die nächsten fünf Jahre dabei, sondern jedes Jahr geht es von vorne los mit Klinkenputzen? LE: Es ist schon so, dass die Sponsoren sagen, dass „Wege durch das Land“ für OWL ein so wichtiger Imageträger geworden ist, dass sie dieses Festival jedes Jahr unterstützen und das auch mehr oder weniger für die Zukunft versprechen. Aber trotzdem ist es schon so, dass in einem Jahr auch aus wirtschaftlichen Gründen diese und jene Firma nicht dabei ist. Aber dann entsteht manchmal auch etwas ganz Persönliches, dass dann vielleicht zwei Jahre später dieser Sponsor wieder kommt und sagt, so jetzt bin ich wieder dabei, die wirtschaftliche Lage hat sich verbessert. SK: Von selbst, Sie müssen gar nicht anrufen? LE: Was ich versuche ist, für die Sponsoren ein sehr individuelles Konzept zu entwickeln. Also ich spreche mit dem Sponsor ganz genau darüber, welche Veranstaltung er unterstützen soll. Es gibt Unternehmen, denen liegt irgendwas ganz besonders am Herzen, und dann sprechen wir darüber, ob es in diesem Jahr vielleicht diese oder jene Veranstaltung sein könnte, die dann speziell – immer nur vertreten durch das

SK: Weil es ja ziemlich blöd aussieht, wenn man da grade das authentische Flair eines Schlosses haben will und da ist dann die riesige Werbung aufgebaut. Das geht gar nicht. LE: Nein, das geht nicht. SK: Haben Sie denn den Eindruck, dass die Unternehmen im östlichen Westfalen das, was Sie machen, auch als harten Standortfaktor begreifen? Dass die nicht nur sagen, es ist schön, dass sich alle wohl fühlen, sondern es ist wichtig für uns. Wir haben was davon!

SK: Herr Landmann, „Wege durch das Land“ ist ja ein Festival, in dem die Städte, wenn ich es richtig verstehe, eine eher kleine Rolle spielen, was die Finanzierung auch was die Durchführung betrifft. Es geht hier um die Kreise, es geht um das Land, es geht um Sponsoren und ein Drittel, was sehr viel ist, wird durch Eintrittspreise refinanziert. Ist das eine Festivalform der Zukunft, was Kultur auf dem Lande angeht? Kann man das nachmachen? PL: Also erstmal muss man sagen, dass es schon ein ziemlicher Kampf war, die Kreise überhaupt mit in die Verantwortung zu bringen. Man kann sagen, wir haben sie – jetzt will ich ein geschicktes Wort wählen – wir haben sie sanft genötigt, indem wir unsere Landesförderung, eine Steigerung der Landesförderung, davon abhängig gemacht haben, dass sie nun aber auch mit ins Boot steigen. Und es war kein einfacher Weg, das zu erreichen. Also, wenn ein solches Festival nicht von den örtlichen Gebietskörperschaften, wirklich mitgetragen wird und sich das auch zeigt in einem wirklichen Engagement, dann kann so etwas auch trotz Landesförderung nicht funktionieren. Also insofern ist dieses Miteinander, das da jetzt entstanden ist, sicherlich die Grundvoraussetzung. Ich denke aber nicht, dass eine solche Drittelfinanzierung generell ein Rezept ist. Dass ein Drittel in Zukunft von privaten Sponsoren kommen muss, das wäre illusorisch. Das wäre jedenfalls in Deutschland unter den hier gegebenen, auch juristischen und steuerrechtlichen Bedingungen illusorisch. Aber natürlich ist es gerade heutzutage ein Weg, noch etwas Neues auf die Beine zu stellen, wenn es einem gelingt, in so relativ großem Maß tatsächlich private Unterstützung zu finden. SK: Schauen wir doch mal, wie die Landesförderung zur Zeit aussieht. Sie fließt ja zu einem großen Teil in die Projektförderung, wenn ich richtig informiert bin, und es war bei „Wege durch das Land“ so, dass Sie

eine dreijährige Projektförderung bekommen haben, von 2010 bis 2012, zunächst erst einmal. Wenn ich das richtig gehört habe, dann überlegen Sie gerade, doch noch stärker auf eine strukturelle Förderung zuzugehen. Würde das z. B. bedeuten, dass ein Projekt wie „Wege durch das Land“ auch eine strukturelle Förderung bekommen könnte? PL: Wir müssen da noch ein bisschen unterscheiden. Der Gegenbegriff zur Projektförderung ist eigentlich der der institutionellen Förderung. Also man fördert nicht mehr eine bestimmte Veranstaltung, sondern man fördert eine Institution mit allen ihren Notwendigkeiten insgesamt und das hat auch einen erheblichen Faktor von Stabilität: institutionelle Förderung ist auf Dauer angelegt, Projektförderung ist auf Einmaligkeit angelegt, im Prinzip. Und dann gibt es halt manchmal Projektförderungen, die eigentlich auf Einmaligkeit angelegt sein sollen oder sind, die aber faktisch auf Dauer geleistet werden, weil sich das Projekt so gut entwickelt, wie z. B. „Wege durch das Land“. Bei diesen steht man irgendwann mal vor der Frage, ob die Projektförderung eigentlich nicht der falsche Weg ist. So war das bei Frau Labs-Ehlerts Festival und wir sind dort jetzt soweit, dass wir eine institutionelle Förderung haben, nachdem es zunächst aus Mitteln der Regionalen Kulturpolitik als Projekt gefördert worden ist. Mit der institutionellen Förderung haben wir nun ein hohes Maß an Stabilität erreicht. Ein anderes Thema ist die Diskussion, ob wir zukünftig mehr strukturell fördern sollen, statt Projekte zu fördern. Wir wollen beispielsweise gerne die Alte Musik-Szene in Köln fördern. Wir fördern sie bisher, weil wir denken, dass das wirklich eine ganz herausragende Qualität hat und eine große Chance für NRW bedeutet, diesen Standort von Alter Musik in Köln weiter zu stärken und auszubauen. Der Normalfall wäre, dass wir immer einzelne Konzerte der einzelnen Ensembles der Alten Musik fördern – das wäre die klassische Projektförderung. Wir werden heute ein Zentrum für Alte Musik einweihen, das im wesentlichen Arbeitsräume, Proberäume, eine administrative Infrastruktur bietet und den Ensembles in Köln dadurch eine Basis, eine Starthilfe, eine Arbeitshilfe gibt, ihnen gute Arbeitsbedingungen schafft. Auf diese Weise fördern wir nicht mehr das einzelne Projekt, sondern die gesamte Szene soll davon Vorteil haben. Dies ist ein beispielhafter Wechsel von einer Projektförderung zu einer strukturellen Förderung. Das wird für die Zukunft sicher immer wichtiger werden. SK: Also es werden Zentren geschaffen, es werden Diskussionszusammenhänge geschaffen… PL: …Kooperationsmöglichkeiten werden geschaffen. SK: Vernetzungen für die Zukunft. Herr Schrömbges, wir haben ja auch diese für die Kultur sehr bedrohlich wirkende Entwicklung der Bevölkerung, den sogenannten demografischen Faktor, und ich habe mal geguckt, wie es bei Ihnen in Viersen aussieht. Im Vergleich von 2003 zu 2020 wird die Einwohnerzahl von Viersen um 5,2 % sinken und insbesondere die Zahl der jüngeren Menschen wird um fast 17 % zurückgehen. Da steht man ja oft sehr ängstlich vor solchen Prognosen, weil man sich denkt, das sind weniger Steuerzahler und das sind auch weniger Besucher für

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Kulturveranstaltungen. Was heißt das für Ihre Arbeit? Ist es eher so, dass sie sagen, es könnten ja noch mehr Leute von der Kultur angesprochen werden, daran müssen wir arbeiten. Oder richten Sie sich darauf ein, dass das Abschmelzen, das man zur Zeit ja schon sehen kann, immer weiter gehen wird? PS: Das ist ein sehr differenziertes Feld. Wir haben ja im Verlauf dieser Tagung auch sehr intensiv darüber diskutiert. Es ist auch keine Einbahnstraße, die sich da entwickelt. Ich glaube, dass die Ansätze sehr unterschiedlich sein müssen. Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Auch demografische Entwicklung hat sehr viele differenzierte Punkte. Wir haben in Viersen ausführlich darüber gesprochen. Was wir tun, ist zunächst einmal an der Basis ansetzen. Dazu gehört das Stichwort Kulturelle Bildung. Man muss doch der Ehrlichkeit halber sagen, als ich 1972 in Viersen Abitur gemacht habe, gingen 5 % des Bildungsbürgertums in die Festhalle. Das ist ja auch ein Teil der Wirklichkeit. Wenn wir heute über Quantitäten sprechen, reden wir über ganz andere Zahlen. Also das ist der zweite Punkt. Die Palette dessen, was man anbietet, muss ein breiteres Spektrum erfassen. Und der dritte Punkt ist, ich glaube, dass es keine Statik in diesem Prozess gibt. Auch mit 50.000 Einwohnern werden wir die Festhalle leicht füllen können. Wir müssen nur eine gute Arbeit und ein gutes Programm machen. Von daher sollte man nicht mit Einseitigkeiten operieren, sondern in jeder Not auch eine Chance sehen. Die demografische Entwicklung stellt Anforderungsprofile an die Quantität, an die Struktur und an die Inhalte. Und dann kommen wir voran. Ich kann nicht feststellen, dass unser Kulturprogramm schlechter nachgefragt wird auf Grund der demografischen Entwicklung. Ich sehe da keinen Zusammenhang. SK: Das heißt, durch eine Verbreiterung des Angebots – nicht nur für das Bildungsbürgertum, wie es vielleicht zu lange geschehen ist – wird eine größere Bevölkerungszahl angesprochen und dann ist der Verlust in der Besucherbilanz auch keine Bedrohung für Sie? PS: Nein, ich sehe darin eine Chance. Wenn man bildungsfernere Schichten in den Blick nimmt, dann muss ich nach Anknüpfungspunkten für die Jungen und Mädchen im Alter von 13, 14, 15 suchen, wie ich sie an Kultur heranführe. Wir haben uns für die Sparte Tanz entschieden. Junge Leute tanzen, hören Musik, das ist das Erste, wo sie mit Kultur in Berührung kommen. Und an dem Punkt steigen wir ein. Es gibt tolle Beispiele aus Berlin, was man da machen kann, und wir haben das auch erfolgreich realisiert. Wir werden den Kulturrucksack, den wir jetzt mit Hilfe des Landes geschnürt haben, auch für diese Projekte nutzen. SK: Der Kulturrucksack ist eine neue Initiative des Landes, bei der es darum geht, die Kreativität von Kindern und Jungendlichen stark zu befördern. Diese Ansprüche an Pädagogik, an Vermittlung usw., das ist ja auch ein Aspekt, auf den sich die Theater in den letzten Jahren extrem eingestellt haben, auch das Rheinische Landestheater. Bettina Jahnke, Sie haben ja vorhin schon erwähnt, Dramaturgen fahren durch die Gegend, gehen in die Schulen, machen Vorbereitungen,

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machen Nachbereitungen, gerade bei Gastspielen, bei Abstechern bedeutet das ja einen riesigen zeitlichen Aufwand. Hat Ihr Theater denn überhaupt noch Zeit für die Kunst? BJ: Ich war in der Arbeitsgruppe Kulturelle Bildung, in der wir genau darüber diskutiert haben. Natürlich besteht darin für uns Theater ein ganz großes und zunehmendes Problem, dass für die Kunst zu wenig Freiraum existiert, oder die Gefahr besteht, dass die Kunst sich sozusagen mit der Bildung zu sehr vermengt und dass wir Theater unseren Freiraum verlieren, etwas Neues zu schöpfen, weil Bildung ja immer etwas mit der Vermittlung des Vorhandenen zu tun hat. Aber wir als Künstler wollen etwas Neues erfinden und müssen das auch. Kunst muss sich auch neu erfinden, braucht das Chaos, sie braucht das Unsortierte, das Ins-BlaueDenken, Kreativität muss sozusagen erst mal das Unkraut gedeihen lassen. Da haben wir etwas Angst im Moment. Es gibt innerhalb der Theaterszene darüber auch eine breite Diskussion: Vorsicht vor der Verschulung der Spielpläne! Vorsicht, dass wir uns unseren Freiraum nicht zu sehr abschneiden lassen! Aber das bedeutet nicht, dass das gegeneinander gehen soll, sondern wir heben nur manchmal den Finger und sagen, lasst uns doch auch ein bisschen spielen. SK: Frau Labs-Ehlert, Sie haben eben gesagt, dass Sie fast ausverkauft sind, das ist natürlich ein Traum, aber auf der anderen Seite manchmal auch eine Gefahr für Veranstalter, wenn man sagt, die Leute kommen ja eh. Dann macht man keine Jugendarbeit und keine Vermittlungsarbeit mehr, lehnt sich zurück, verkauft Karten. und irgendwann wird es ein bisschen schwieriger. Machen Sie auch Jugendarbeit? LE: Also zunächst einmal ist dieses Ausverkauftsein tatsächlich ein Problem, weil wir lange Wartelisten haben und das Problem strukturell, da wir auf die historischen Orte angewiesen sind, auch nicht lösen können. Wir machen allerdings eine ganz intensive Kinder- und Jugendliteraturarbeit. Auch im Rahmen des Literaturund Musikfestes gibt es immer „Junge Wege durch das Land“. Es gibt zum Beispiel für Studenten auch finanzielle Vergünstigungen, eine „Carte blanche“, die natürlich dann greift, wenn eine Veranstaltung in der Nähe einer Hochschulstadt ist. Es gibt in diesem Jahr zum ersten Mal eine sogenannte Akademie der lesenden Künste, die sich ganz dezidiert an junge Menschen richtet: ein viertägiges, langsames Arbeiten an einem Text von Stifter, wobei es nicht um Interpretation oder Analyse geht, sondern wirklich darum, was Stifter in diesem Text mit der Sprache macht. Es geht um den Klang. Eine Schauspielerin ist beteiligt, ein Schriftsteller und eine Musikerin und alle werden sich gemeinsam mit den Teilnehmern mit diesem Text auf diese Weise auseinandersetzen. SK: Wenn ich das richtig verstanden habe, ist ja diese Akademie der lesenden Künste nicht bloß ein Education-Angebot im Rahmen von … Sondern es steckt ein bisschen mehr dahinter, eine Idee für die Zukunft, oder? LE: Ich habe soviel über das Lesen nachgedacht und darüber, was verloren geht, wenn man eben nicht

mehr die Langsamkeit hat, dieses Zurückblättern, sich einzulassen auf alte Texte, auf neue sprachliche Experimente, dass ich mit dieser Akademie für die lesenden Künste angefangen habe, und wir setzen es ein oder zwei Mal im Jahr fort, an verschiedenen Orten als eine fliegende Akademie – überhaupt keine große Institution. Wir machen es einfach und werden sehen, wie sich das dann entwickeln kann. Und nächste Woche habe ich dazu ein Gespräch mit dem Bundesbeauftragten für Medien. Vielleicht wird es dort als ein Modell gesehen, sowohl für eine Exzellenzförderung im Bereich der Lesekompetenz, als auch – weil wir immer in die Schulen gehen werden – als ein neues Leseprojekt für Schulen. SK: Herr Landmann, Sie haben vorhin gezuckt, als es um die Frage ging, ob die Bildung, oder die Kulturelle Bildung, der Kunst selber etwas im Wege stehen könnte. Das ist wohl auch eine starke Diskussion in der Landeskulturpolitik. PL: Ja, richtig. Das ist auch im Zusammenhang mit dem Kulturfördergesetz ein wichtiger Punkt. Es ist natürlich so, dass sich alle einig sind, dass die Kulturelle Bildung ein ganz großer Schwerpunkt bleiben muss. Aber man muss wirklich aufpassen, dass man nicht alles unter dieses Dach zwingt. Dann würde die Kunstförderung wirklich ihren eigentlichen Sinn verlieren. Wir müssen uns schon klar machen, dass die Freiheit der Kunstproduktion und die Möglichkeit zur Kunstproduktion die Denkvoraussetzung für Kulturelle Bildung ist. Wenn das nicht mehr gegeben sein sollte, würde Kulturelle Bildung ihren Sinn verlieren. Es gibt zum Beispiel eine Diskussion, wie die Landesförderung gestaltet sein soll, um starke Impulse in Richtung Kulturelle Bildung zu geben. Da ist vorgeschlagen worden, jede Förderung des Landes mit der Auflage zu versehen, dass ein bestimmter Prozentsatz für Kulturelle Bildung ausgegeben werden muss. Das halte ich z. B. für nicht sinnvoll. Was aber meines Erachtens sinnvoll ist, ist jede Förderung des Landes, jedenfalls alle institutionellen Förderungen, also die dauerhaften, davon abhängig zu machen, dass sich diese Institution in einem angemessenen Umfang wirklich um Kulturelle Bildung bemüht und etwas dafür tut. Denn es kann nicht sein, dass wir mit öffentlichem Geld dauerhaft eine Einrichtung fördern, die das Thema quasi nichts angeht. Wir brauchen also die Gratwanderung wirklich, aber wir müssen unbedingt beachten, dass die Produktionsmöglichkeiten der Kunst im Zentrum unserer Arbeit bleiben.

Das war für mich wirklich so ein Beispiel von Wahnsinn, natürlich auch ein Riesenkraftakt, für die Stadt, etwas Identifikationsstiftendes. Ich hoffe, dass sich die Kempener noch heute daran erinnern, wie ich es als Nichtkempener tue. Ist so etwas heute – bei diesen ganzen Einschränkungen, diesen ganzen Nöten – ist so ein Wahnsinn überhaupt noch denkbar? PL: Das glaube ich schon. Also in Kempen war das damals für viele in der Stadt noch ein bisschen sensationell, so etwas für möglich zu halten. Es gab viele Skeptiker. Heute ist allen klar, dass sowas geht und dass sowas mit ganz großem Engagement der Bürgerschaft tatsächlich umsetzbar ist. In diesem Zusammenhang: als ich in Kempen Kulturdezernent wurde, haben wir nach zwei, drei Jahren entschieden, unsere Theaterreihe abzuschaffen, weil wir gesagt haben, die Leute sollen gefälligst in das zehn Kilometer entfernt gelegene Stadttheater nach Krefeld gehen, und wir haben uns bewusst ein anderes Profil überlegt. Wir haben das damals nicht aus Not gemacht, sondern als kulturpolitische Entscheidung. Solche Entscheidungen könnten in der jetzigen Zeit doch wieder mehr auf der Agenda stehen, weil wir nicht immer überall alles werden machen können, wenn wir kulturpolitisch etwas bewegen wollen. Wollen wir uns in die Zukunft entwickeln, dann werden wir auch mal etwas sein lassen müssen. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der alles, was neu entsteht, immer oben drauf kann. Und deswegen wird eine kulturpolitische Diskussion in den Städten auch verstärkt darüber nötig sein, ob nicht im Blick über die Stadtgrenzen hinaus möglicherweise das ein oder andere auch mal eingestellt wird, um dafür mit dem, was man dann weiterhin macht, eine hohe Qualität und wirklich ein Profil für diese Stadt zu erreichen. SK: Qualität statt Quantität. Nicht einfach nur in Wachstum denken, sondern an ein spannendes Kulturangebot, ein Kulturangebot, das sich immer auch verändern muss, verändern mit der Gesellschaft, für die es da ist und aus der heraus es entsteht. Am Ende dieser Diskussion sind wir eigentlich schon wieder am Anfang der nächsten. Aber das ist immer so und wir diskutieren ja weiter. Herzlichen Dank fürs Zuhören. Das war das Kulturpolitische Forum WDR 3.

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SK: Kunst braucht auch den Wahnsinn, Kunst braucht auch mal die Möglichkeit, grandios zu scheitern. Herr Landmann, meine ersten Erinnerungen an Sie stammen aus den 90er Jahren, da waren Sie Kulturdezernent in Kempen und haben zum Stadtjubiläum ein unfassbares Projekt auf die Beine gestellt. Eine Theaterbespielung der gesamten Stadt und es hat Hunde und Katzen geregnet. Ich war damals dabei, ich hab gesehen, wie die ganze Stadt – und Sie Herr Landmann vorneweg – im Regen gestanden haben, und wenn die Leute hinten nicht sehen konnten und gerufen haben „Schirme aus“, hat man die Schirme zugemacht und alle haben im strömenden Regen gestanden und sich das Ganze nicht nehmen lassen.

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Gefördert vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen

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