THOMAS PIKETTY DAS KAPITAL im 21. Jahrhundert 1

zum Autor:

geb. 1971 in Frankreich; Studienbeginn mit 18 Jahren, Promotion mit 22 Jahren an der École des Hautes Études en Sciences Sociales und der London School of Economics 1993 amerikanischer Traum - 1993 bis 1995 lehrte er als Assistant Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) - übt Kritik am amerikanischen Wissenschaftsbetrieb bei den Ökonomen - keine Verbindung zu den Sozial- und Geisteswissenschaften! (S 53) 1995 Mitglied des Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und ab 2000 Direktor der EHESS - Ecole des Haute Etudes en Sciences Sociales, ab 2007 lehrt er auch an der Paris School of Economics 2

Worum geht es ihm?: Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung

das Ergebnis zuerst: Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung geht ab den 1979er Jahren wieder stark in Richtung Ungleichheit (Divergenz). Er nennt das die "U-Kurven" - in der grafischen Darstellung über die Jahre. Grafik S 44

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Die Ungleichheit der Einkommen in den USA 1910-2010: (Anteil des obersten Dezils am Nationaleinkommen) 1910 40% 1916 44% Beginn 1. Weltkrieg 1920 38% Ende 1. Weltkrieg 1928 49% Nachkriegsjahre / Wiederaufbau 1939 45% Beginn 2. Weltkrieg 1944 32% Ende 2. Weltkrieg 1947 37% Nachkriegsjahre / Wiederaufbau bis 1980 ca 35% stabile Phase 1990 40% Boom der Weltwirtschaft 2007 50% geht es weiter aufwärts? 1

Erkenntnisse daraus: Ohne die Deregulierung durch die Weltkriege wäre wahrscheinlich das Absacken (U-Kurve) gar nicht zustande gekommen - es hätte sich der Anteil am Nationaleinkommen des obersten Dezils viel stärker in Richtung Ungleichheit entwickelt. Das Kapital-Einkommens-Verhältnis in Europa 1870-2010 Grafik S 45

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Ergebnis für Deutschland (Frankreich und Großbritannien verlaufen ähnlich): Der Gesamtwert der Privatvermögen (schuldenfreie Immobilien- Geld- und gewerbliche Vermögen) entsprach in Deutschland: 1910 dem Nationaleinkommen von 6 1/2 Jahren, 1950 dem Nationaleinkommen von 1 3/4 Jahren, 2010 dem Nationaleinkommen von 4 Jahren Erkenntnisse daraus: Formel für divergenzfördernde Kraft: r > g (r = Kapitalrendite, g = Wachstumsrate) Ab den 1950er Jahren findet eine kontinuierliche Zunahme statt. Es besteht ein eindeutiger Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum: Wenn die Kapitalrendite (r) höher ist als das Wirtschaftswachstum (g), dann bedeutet das, dass sich die ererbten Vermögen schneller vergrößern als Produktion und Einkommen. Zitat Seite 46 - 3 Wenn die Kapitalrendite deutlich über der Wachstumsrate liegt - und wir werden sehen, dass das in der Geschichte, zumindest bis zum 19. Jahrhundert, fast immer der Fall war und dass es im 21. Jahrhundert höchstwahrscheinlich wieder zur Regel wird -, dann bedeutet das automatisch, dass sich die ererbten Vermögen schneller vergrößern als Produktion und Einkommen. Die Erben müssen also nur einen kleinen Teil ihrer Kapitaleinkommen sparen, damit ihr Kapital schneller wächst als die Gesamtwirtschaft. Unter diesen Bedingungen ist es nahezu unvermeidlich, dass die ererbten Vermögen eine wesentlich größere Rolle spielen als die im Laufe eines Arbeitslebens gebildeten, und dass die Kapitalkonzentration ein derart hohes Niveau erreicht, dass sie mit dem Leistungsprinzip und den Grundsätzen sozialer 2

Gerechtigkeit, die die Basis unserer modernen demokratischen Gesellschaften bilden, potenziell nicht mehr vereinbar ist.

3 Was ist sein Ansatz? Erstens setzt er voraus, dass das Leistungsprinzip und die Grundsätze sozialer Gerechtigkeit Basis unserer demokratischen Gesellschaft sind - wir verstehen uns nicht mehr als Arbeitspotential, dem das reale Überleben genügt, für den besitzenden Stand. Zweitens stellt er fest, dass die bislang in verschiedenen Zeitperioden vorherrschenden ökonomischen Gesellschaftstheorien - von Malthus bis Karl Marx - ihre Schlussfolgerungen vornehmlich aus zeitbezogenen Anschauungen ziehen, ohne diese Theorien durch Fakten untermauern zu können. Eine zeitlich weit zurückreichende Faktensammlung und ein räumlich auf möglichst viele Länder ausgeweiteter Vergleich ist auch erst heute durch die Computerunterstützung real möglich. Das will er angehen - und findet qualifizierte wissenschaftliche Zuarbeiter, einerseits für die Vertiefung der Faktenlage in Spezialgebieten (Einkommenserhebungen, Erbschaftsverzeichnisse, Vermögenserhebungen) und andererseits zur Ausweitung auf andere wirtschaftlich entwickelte Länder (Deutschland, Japan, China, etc).

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Was sind seine Quellen? zur Einkommensverteilung: Untersuchungen von Kuznets (USA 1913-1948) - Weiterführung bis 2010 und Ausweitung zunächst auf Frankreich, dann mit Forschungskollegen auf andere Länder - begünstigt durch die Einführung der Einkommensteuer in vielen Ländern (Einkommensteuererklärung). Einkommen, das sich aus Vermögen generiert (Mieten, Dividenden, Zinsen, Kapitalgewinne, Pachterträge, Gebühren, etc.) aus anderen Quellen zur Vermögensverteilung: Erbschaftssteuererklärungen - in Frankreich zurück bis zur Revolution Aus den vermögensbezogenen Quellen kann das Nationalvermögen abgeleitet werden und dessen Verhältnis zum Nationaleinkommen. Das hilft, die Bedeutung des Kapitals zu erkennen, z.B. in Bezug auf die Industrielle Revolution.

Theorien der politischen Ökonomie (Volkswirtschaftslehre)

• Pfarrer Malthus (1798) "Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz" Radikale Veränderungen haben begonnen: Bevölkerungswachstum, Beginn der Landflucht, Industrielle Revolution. Arthur Young berichtet vom Elend auf dem Lande, das er bei seiner Studienreise durch Frankreich erlebt hat. Die demografische Dynamik führt zur Stagnation der Löhne in der Landwirtschaft, und zum Anstieg der Bodenrente.

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Malthus (gehobene Klasse) empfiehlt die Abschaffung aller Untersützungsmaßnahmen für die Armen und eine streng kontrollierte Geburtenrate, um das Bevölkerungswachstum zu begrenzen. • David Ricardo (1817) "Über die Grundzüge der Politischen Ökonomie und der Besteuerung" - Das Knappheitsprinzip: Zitat Seite 19 - 4 Paradox: Wenn die Bevölkerung und die Produktion dauerhaft wachsen, wird der Boden im Verhältnis zu den anderen Gütern knapper. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage müsste folglich zu einer anhaltenden Erhöhung des Bodenpreises und des an die Grundbesitzer gezahlten Pachtzinses führen. Letztere werden somit einen immer größeren Teil des Nationaleinkommens und der Rest der Bevölkerung einen immer kleineren Teil erhalten, was das soziale Gleichgewicht zerstören würde. Für Ricardo besteht die einzige logisch und politisch befriedigende Lösung in einer immer höheren Besteuerung der Bodenrente. Bevölkerungswachstum - Boden wird im Verhältnis zu anderen Gütern knapper - führt zu Erhöhung der Bodenpreise und Pachtzinsen. Wenige Bodenbesitzer erhalten immer mehr Anteil am Nationaleinkommen - Störung des sozialen Gleichgewichts. Ricardo sieht nicht die Industrielle Revolution voraus, hat aber mit dem Knappheitsprinzip auch heute recht: Ölpreis (Gegenbeispiel: Venezuela), Bodenpreis und Mieten in Metropolen. • Karl Marx (1848) "Das Kommunistische Manifest", (1867) "Das Kapital" - nach Marx´s Tod von Engels vollendet und herausgegeben Elend der Arbeiter trotz Wirtschaftswachstum - wegen lange stagnierender Löhne. Der Anteil des Kapitals am Nationaleinkommen steigt stark an. Vermögen zeigen eine immer stärkere Konzentration; erste kommunistische und sozialistische Bewegungen; Marx geht wie Ricardo vom Knappheitsprinzip aus, nur sieht er nicht Bodenakkumulation sondern Kapitalakkumulation als Gefahr. "Prinzip der unbegrenzten Akkumulation" - Tendenz des Kapitals, sich ohne natürliche Grenze zu akkumulieren und zu konzentrieren. Die starke Zunahme der Privatvermögen im Vergleich zum Nationaleinkommen seit den 1970er Jahren entspricht allerding dem Marx'schen Prinzip. • Simon Kuznets (1955) - nach der Ansicht Pikettys - ein Hang zum Märchen mit Happyend! Alles wird sich von selber regeln - und zwar durch den Eingriff der "unsichtbaren Hand". "Wachstum ist eine Flut, die alle Boote nach oben trägt". Die "Kuznets Kurve" entspricht einer Glocke - nach einem Anstieg der Ungleichheit wird sich alles wieder von selber beruhigen. Zum Unterschied dazu verweist Piketty auf seine "U-Kurven". Siehe Kurve auf Seiten 44 / 45 um 1950. Wie es wirklich weitergeht wissen wir auch heute nicht!!

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Zitat Seite 47 - 4 Fassen wir zusammen: Der Prozess der Akkumulation und Verteilung der Vermögen birgt starke Kräfte, die auf Divergenz oder zumindest auf eine sehr große Ungleichheit hinwirken. Es gibt auch konvergenzfördernde Kräfte, die in manchen Ländern und zu manchen Zeiten die Oberhand gewinnen können. Aber die gegenläufigen Kräfte können sich jederzeit wieder durchsetzen, wie es zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Fall zu sein scheint und wie es der wahrscheinliche Rückgang des Bevölkerungswachstums und des Wirtschaftswachstums für die kommenden Jahrzehnte nahelegen. Meine Schlussfolgerungen sind nicht so apokalyptisch wie jene, die sich aus dem von Marx herausgearbeiteten Prinzip der unbegrenzten Akkumulation und der permanenten Divergenz ergeben (seine Theorie basiert auf der impliziten Annahme eines langfristigen Nullwachstums der Produktivität). In dem hier präsentierten Schema ist die Divergenz nicht dauerhaft gegeben und stellt nur eine Zukunftsmöglichkeit unter anderen dar. Gleichwohl sind meine Schlussfolgerungen nicht sonderlich erfreulich. Wichtig ist vor allem, dass die fundamentale Ungleichheit r>g, die in unserem Erklärungsschema hauptsächlich für Divergenz verantwortlich ist, nichts mit einem unvollkommenen Markt zu tun hat, im Gegenteil: Je «perfekter» der Kapitalmarkt im Sinne der Ökonomen funktioniert, desto stärker setzt sie sich durch. Zusammenfassung, Oktober 2016, Helmut Guggenberger

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