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Germivoire 4/2016 ISSN 2411-6750   Luthers und Goethes Italienreise: Eine Illustration des ausländischen Einflusses auf den Werdegang zweier emble...
Author: Alfred Holst
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Germivoire 4/2016

ISSN 2411-6750

 

Luthers und Goethes Italienreise: Eine Illustration des ausländischen Einflusses auf den Werdegang zweier emblematischen Figuren des deutschen geistigen Lebens Ahiba Alphonse BOUA, Univ. Félix Houphouët-Boigny (Abidjan)

Zusammenfassung Italien nimmt einen besonderen Platz im deutschen geistigen Leben. Meistens verweist die bloße Erwähnung dieses Landes in der deutschen Literaturgeschichte, vor allem der 16. und 18. Jahrhunderte, entweder auf den Reformator Martin Luther (1483-1546) oder den Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), die eine Italienreise zu ihren jeweiligen Epochen unternahmen und dadurch stark beeinflusst wurden. Da sich dieses Ereignis als eine der wichtigsten Schienen der deutschen Kulturgeschichte erweist, setzt sich diese Arbeit zum Ziel, die Relevanz Luthers und Goethes Italienreise nochmals zu problematisieren, um dadurch die Auswirkungen ausländischen Einflusses auf den Werdegang des Geistes und

Schaffens

beider

emblematischen

Figuren

der

deutschen

Kulturgeschichte aufzuzeigen.

Stichwörter: Italienreise, Einfluss, Selbst(wieder)entdeckung, Auswirkung Abstract Italy holds a prominent place in German cultural life. The mere mention of this country in the history of German literature, especially of the 16th and 18th centuries, refers generally either to the reformer Martin Luther (1483-1546) or to the poet Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), who travelled, each in his time, to Italy and were significantly marked by this journey. Because of the fact that this event turns out to be one of the most important of the German cultural history, this article aims to problematize again its importance in order to highlight the consequences of foreign influence on the evolution of the mind and the production of both emblematic figures of German cultural history.

Keywords: Italian journey, influence, self-(re)discovery, consequence Ahiba Alphonse BOUA: Luthers und Goethes Italienreise: Eine Illustration des ausländischen Einflusses auf den Werdegang zweier emblematischen Figuren des deutschen geistigen Lebens http://germivoire.net/?ivoire=detailart&idart=459&rub=179

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  Einleitung Die besten Zeiten der geistigen Produktionen, die fruchtbarsten Perioden der Menschengeschichte, waren diejenigen, die am tiefsten von großen Namen und Ereignissen geprägt wurden. So war es mit den 16. und 18. Jahrhunderten im deutschen geistigen Leben, die jeweils von Luther und Goethe beeinflusst wurden. Der Reformator Martin Luther (1483-1546) und der Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) lebten zwar in unterschiedlichen Jahrhunderten, aber ihre Lebensgeschichten weisen gewisse Analogien auf, sobald sie im Zusammenhang mit dem Thema des ausländischen Einflusses gebracht werden: Es geht um die italienische Reise, die jeder von ihnen zu seiner Epoche unternommen hatte.

Da sich dieses Ereignis als eine der wichtigsten Schienen der deutschen Kulturgeschichte erweist, lohnt es sich, die Relevanz Luthers und Goethes Italienreise in ihrem Leben und Werk nochmals zu problematisieren. Methodologisch wird hier geistesgeschichtlich verfahren. Dies setzt unbestreitbar voraus, dass man vor allem die Gründe und die Ziele dieser Reise hinterfragt, um deren Auswirkungen besser aufzuzeigen. Was brachte Luther und Goethe dazu, nach Italien zu reisen? Welches waren die Ziele ihrer Reise? Wie wirkte sich ihre italienische Erfahrung auf ihre jeweiligen Persönlichkeiten und Produktionen aus? Der Klärungsversuch dieser Fragen nach ihrer Formulierungsreihenfolge bildet die Gliederung der vorliegenden Arbeit. 1. Gründe Luthers und Goethes Italienreise Obwohl es um dieselbe Stadt Italien geht, ist doch eine Tatsache, dass Luther und Goethe nicht zur selben Epoche gehörten, was implizit Unterschiede in ihren Reisegründen voraussetzt. Dementsprechend untersuchen wir diese Gründe separat und chronologisch. 1.1. Gründe Luthers Italienreise Der weltbekannte Grund Luthers dreimonatige italienische Reise (November 1510-Januar 1511) ist berufsständig. Luther reise nach Rom als Begleiter

eines

Ordensvertreters

zu

Verhandlungen

über

Ordensangelegenheiten. Er sei also auf Dienstreise, in Auftrag (vgl. S. F.

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  Weber 2011: S. 14). In der Tat entstand ein ernster Streit unter sieben Augustiner-Klöstern und es wurde beschlossen, die Streitpunkte vor den Papst zum Auflösen zu bringen. Als Luther der mutigste und eloquenteste Mönch seines Klosters und auch sehr von allen angesehen und respektiert war, die ihn kannten, wurde er gewählt, um sein Kloster in Rom zu vertreten. Luther machte die Reise zu Fuß in Begleitung eines anderen Mönches. Hier springt schon ins Auge, dass diese Dienstreise Luther als Sprungbrett diente, eine „Pilgerreise“ zu unternehmen. Man erinnere sich daran, dass die Pilgerreise in Rom vom Papst Bonifatius VIII. im Jubiläumsjahr (1300) als eine Pflicht für jeden Christen eingeführt wurde, der dadurch Gottes Sündenvergebung über den Papst suchen solle (vgl. H. Grundmann 1960: S. 10). Dies ist wenigstens überraschend, insofern als es hier um eine Person (Luther) geht, der sich immer moralisch und seelisch verbessern wollte und deshalb seine Taten ständig in Frage stellte. Zu jener Zeit war Luther ein guter Christ, der nicht nur es tief ernst mit Messe und Beichte hielt, sondern auch einen großen Respekt vor allen Sakralbauen hatte. Als Luther und sein Geselle schließlich an einem Ort auf der Straße ankamen, wo sie die berühmte Stadt sehen konnten, fiel Luther auf die Knie, um die „Heilige Stadt“ mit folgenden Worten zu grüßen: „Sei gegrüßt, du heiliges Rom, wahrhaft heilig von den heiligen Märtyrern, von deren Blut es trieft“ (S. F. Weber 2011: S. 14). Die beiden Mönche verbrachten etwa vier Wochen in Rom, wo sie verschiedene Pilgerorte besuchten. Eines Tages aber, indem er auf dem Bauch die Heilige Treppe am Lateran hinaufrutscht, um die vom Papst versprochene Sündenvergebung nach der Erfüllung dieses Opfers zu erlangen, erinnerte er sich an die Worte Gottes: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Römer 1,17). Luther stand auf und ging weg, beschämt. Diese Scham trägt in sich den Keim des Zieles Luthers italienische Reise, das im zweiten Teil der Untersuchung besprochen wird. 1.2. Gründe Goethes Italienreise Im Gegensatz zu Luther beschloss Goethe selber, nach Italien aus zwei Gründen zu reisen. Zunächst soll diese Reise als eine Familientradition, eine Nachahmung des Vaters verstanden werden, der im Jahre 1740 Italien besucht und seiner Familie und Umgebung positiv davon erzählt hatte. „Wie der Vater, so der Sohn“, würde man sagen. Der positive Einfluss jener Reise

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  auf den Vater, deren Spuren in seinen Erzählungen und überall im Familienhaus durch Bilder und Aufzeichnungen italienischer Denkmäler und Landschaften zu finden waren, erweckten bei dem jungen Goethe eine unaussprechliche Lust zum Italien-Besuch, eine Sehnsucht nach Italien, dem Land der Schönheit, wie es in Goethe-Lexikon von Gero von Wilpert zu lesen steht: Die Italienreise seines Vaters (1740), dessen Erzählungen, seine Italienverehrung und Vorliebe für die italienische Sprache, die auch der junge Goethe beim Sprachmeister Giovinazzi lernte, dazu die italienischen Landschaften von Seekatz und die römischen Veduten im Vorsaal des Elternhauses erregten früh die Phantasie, die Sehnsucht und die Liebe Goethes zum –zumindest vermeintlichen– Ursprungsland abendländlicher Kultur und Gesellschaft. (G. v. Wilpert 1998: S. 517-18) Unter der Feder Wilperts ist zu verstehen, dass diese Italienreise Goethe ihm lebenswichtig war, insofern als sie sich zu jener Epoche als eine von Generation zu Generation fortzuführende Familienpflicht erwies. Allein das Faktum, dass Goethes Sohn, Julius August Walther von Goethe, nach dem von seinem Vater positiv tradierten Bild italienischer Städte, auch Italien in Begleitung von Johann Peter Eckermann am 22. April 1830 besuchen ging und sogar in Rom starb (vgl. G. v. Wilpert 1998: S. 390), zeugt von der Präsenz und Bedeutung Italiens im Geist und Leben der Familie Goethe. Außerdem erklärte sich Goethes Raserei, die ihn in Italien brachte, nicht durch den obig erwähnten Grund allein. Dies erklärt sich auch und vielmehr durch die Tatsache, dass er in Deutschland keine Einflussquelle mehr, also alles monoton fand. Lassen wir Wilpert uns ausführlich Auskunft darüber geben: Als Goethe am 3. 9. 1786 eigenmächtig, ohne Urlaub und heimlich unter dem Inkognito Philipp Möller von der Gesellschaft in Karlsbad aufbrach, um seine langgehegte Sehnsucht nach Italien (…) zu erfüllen, war diese Flucht zweierlei: Ausbruch aus einer Krise seines Dichtertums, Verhältnissen

den und

beengenden, amtlichen

festgefahrenen Obliegenheiten

Weimarer wie

dem

aussuchtlosen Verhältnis zu Charlotte von Stein und zugleich Schritt zur geistig-schöpferischen „wahren Wiedergeburt“ und neuer

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  Schaffenskraft durch Selbstbildung, Selbstfindung, Vertiefung und Steigerung des Lebensgefühls. (G. v. Wilpert 1998: S. 518) Dieses Zitat allein besagt alles: Vor dem verhassten Hofleben in der Stadt Weimar, die Goethe plötzlich zu klein und provinziell erschien, und den enttäuschenden Ergebnissen seiner Bemühungen in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereichen sowie in seiner Beziehung zu Charlotte von Stein, fühlte Goethe die Notwendigkeit, sich zu regenerieren. Hätten wir nichts, um uns von dem schlechten Wetter abzulenken, würde nicht der geringste Regenguss uns untröstlich machen? So entschied sich Goethe für die Flucht nach Italien, um „in eine ihm bisher nur indirekt bekannte, lebensvolle mediterrane Welt der Antike, der Renaissance, der Kunst und Architektur, der Musik und des Theaters, aber auch der wechselnden Eindrücke von Landschaften, Städten, Naturwundern, heiter-unbeschwertem Volksleben, Klima und Pflanzenwelt“ von 1786 bis zu 1788 einzutauchen (vgl. G. v. Wilpert 1998: S. 518). Dass es niemandem möglich ist, sich Einflüssen zu entziehen, ist eine Binsenwahrheit. Diese Realität führt oft gewisse Leute dazu, ihren Einflussgegenstand oder -ort zu wählen. Goethes Fall ist eine unwiderlegbare Illustration dieser Realität. Es ging nämlich um einen gewünschten bzw. gewollten Einfluss. Denn – abgesehen von unglücklichen Ausnahmen wie Zwangsexile oder -reisen – man wählt in der Regel das Land, wohin man reisen möchte; doch ist die Idee von Wahl des Landes der Beweis dafür, dass man dort ein bestimmtes Ziel erreichen will und schon von diesem Land beeinflusst ist oder gewissermaßen von ihm beeinflusst sein wird. 2. Ziele Luthers und Goethes Italienreise Wie im ersten Teil wird hier die Frage der Ziele Luthers und Goethes Italienreise auch separat untersucht werden, um die Idee besser zu veranschaulichen, dass jedes Ziel etwas Subjektives, also Persönliches in sich trägt und deshalb sich von einer Person zu einer anderen unterscheidet, obwohl ihre Lebensgeschichten ähnlich zu sein scheinen.

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  2.1. Ziele Luthers Italienreise Derjenige, der, in Anbetracht der Gründe und Umstände, die Luther in Rom führten, glauben würde, dass die abgezielten Ziele Luthers die Wiederherstellung des Friedens unter den sieben Klöstern des AugustinerOrdens einerseits und die Vergebung seiner Sünden von Gott über den Papst durch Gebete und Buße andererseits waren, würde der Wahrheit zum Teil näherkommen. Das gilt auch für den derjenigen, der vermuten würde, dass sich Luther von dieser Reise ein umfassenderes Wissen im Theologiestudium und Gottesdienst zu erwerben erhoffte sowie die Erlernung deren praktische Umsetzbarkeit, das heißt, in Rom weitere Methoden für das Lernen und die Lehre der Bibel erwerben und in sein Heimatland zurückkehren, um eine Prediger- und Lehrkarriere anzutreten. Die wirkliche Absicht Luthers ist vielmehr in der vor seiner Italienreise herrschenden religiösen Atmosphäre Deutschlands bzw. des Abendlands zu finden.

Als Luther nämlich seit 1507 Prediger in der Wittenberger Kirche war, konnte er feststellen, dass viele Gemeindemitglieder „nicht mehr zu ihm in die Beichte kamen, sondern stattdessen in die brandenburgischen oder anhaltinischen Städte wie Jüterbog oder Zerbst reisten, um dort Ablassbriefe zu kaufen“ (S. Bonnke: 2011). Das war eine seit langem vom Papsttum propagierte Praxis der katholischen Kirche. Man erinnere sich daran, dass der Papst Leo X. anfangs des 16. Jahrhunderts eine neue Aktion in dieser Hinsicht lanciert hatte. Er wollte „in der Hauptstadt der Christenheit zu Ehren des Apostels Petrus einen neuen Dom bauen lassen, und zugleich sich selbst ein Denkmal setzen“ und für dieses Projekt brauchte er viel Geld: Daher die Ablassbriefe, deren Vermarktung durch folgende Devise begründet wurde: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“ (S. Bonnke 2011).

Nun versteht man, warum die Christen schon am Ende des Mittelalters versuchten, ihre religiösen Ängste durch verschiedene populäre Praktiken (Heiligen- und Reliquienverehrung, Verehrung der Mutter Gottes, Ablässe zu kaufen, usw.) zu stillen. Es herrschte eine starke Abneigung gegen den Klerus seit dem späten Mittelalter; die zunehmende Gier der Mönche schaffte einen Abgrund zwischen dem Klerus und den Gläubigen; die

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  Entwicklung der Druckmaschine erlaubte die Verbreitung der Bibel und die Veröffentlichung der Bücher, die den Katholizismus kritisieren.

All diese Unruhen, mit denen die Kirche konfrontiert war, konnten aber sowohl den Glauben der schwächsten Gläubigen als auch diesen der Priester und Kirchenleute wie Luther erschüttern, die diesen Glauben verkörpern und lehren. Luther selbst war ständig von der Frage nach dem wahren Fundament des Glauben und der Haltung des Gläubigen Gott gegenüber gequält. Das Hauptziel seiner römischen Reise war es, eine Antwort auf diese innerlichen Fragen und Zweifel zu finden. Die Reise diente also Luther als Sprungbrett „zum Erweckungserlebnis zum Zweifel an den Praktiken der Papstkirche“, wie es bei Heinzelmann zu verstehen ist (vgl. H. Heinzelmann 2004: S. 6). 2.2. Ziele Goethes Italienreise Als er nach Italien reiste, zielte Goethe nicht nur auf die Wiederentdeckung der Werte griechisch-römischer Antike, sondern auch seine Wiedergeburt, d.h. eine Wiederherstellung seiner Seele. Zu betonen ist, dass Goethe zu dieser Zeit gar nicht brauchte, nach Griechenland zu reisen, insofern als er wusste, es befanden sich fast alle noch gut erhaltenen griechischen Kunstwerke in Italien. Während seiner Aufenthalte in Venedig, Neapel, Sizilien und Rom „beschränkte sich“, so Wilpert, „die Selbsterfahrung [Goethes] angesichts der Kunstwelt fast ausschließlich auf Antike und Renaissance – Gotik und Barock bleiben weitgehend unbeachtet“ (G. v. Wilpert 1998: S. 518). Diese Haltung Goethes erklärt sich dadurch, dass er die alten Griechen bewunderte. Er sah sie nämlich groß in allem: im Geist, in Gedanken, in Worten, in Taten. Er war davon überzeugt, dass sich der Mensch zur Größe und Würde seiner Natur nur durch die Nachahmung der alten Griechen erheben kann, wie er zu seinem Sekretär Johann Peter Eckermann am 1. April 1827 sagte: Allein ein edler Mensch, in dessen Seele Gott die Fähigkeit künftiger Charaktergröße und Geisteshoheit gelegt[sic], wird durch die Bekanntschaft und den vertraulichen Umgang mit den erhabenen Naturen griechischer und römischer Vorzeit sich auf das

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  herrlichste entwickeln und mit jedem Tage zusehends zu ähnlicher Größe heranwachsen. (J. P. Eckermann 1955: S. 573). Diese Behauptung Goethes hält nicht von ungefähr. Die griechische Antike symbolisierte für ihn das Vorbild eines vollkommenen Lebens: „Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt“ (J. W. v. Goethe 1982: S. 390), heißt es in seinen Maximen und Reflexionen. Diese Aussage ist überhaupt nicht isoliert. Als Goethe ein Kind war, war seine Begeisterung für die alten Griechen größer als jede Vertrautheit mit ihrer Literatur und Kunst. Die Umgebung, in der Goethe wuchs, hielt fast nichts von den Griechen, aber, wie es in Trevelans Monographie Goethe und Griechen zu lesen steht, war sie bereit, zu glauben, dass das Beste und das Schönste der Griechen Privileg waren (vgl. H. Trevelan 1949). Goethe hatte sozusagen eine angeborene Sympathie für die griechische Antike, die er in Italien wiederentdeckte, indem er sich selbst wiederentdeckte. Gehen wir nicht zu unserer Selbstentdeckung, wenn wir den anderen und das Fremde entdecken gehen? So hatte Goethe vor, sich in Italien persönlich weiter zu entwickeln, seinen Horizont zu erweitern, neue Erfahrungen zu sammeln und neue Kontakte zu knüpfen. Im Allgemeinen wählt man einen Aufenthaltsort, gerade weil man im Voraus weiß, dass man durch ihn beeinflusst sein wird. Als Goethe nach Italien reiste, war sein Ziel nicht, Klassiker zu werden, sondern sich des Klassikers bewusst zu sein, der er bereits in der Sturm und Drang-Zeit auf eine latente Weise war. Die Geschichte der deutschen Literatur berichtet über die Angst vieler Autoren vor dem Verlust ihrer eigenen Persönlichkeit bei einem eventuellen Kontakt mit dem Fremden. Beispielsweise wird Kant von manchen Biografen für sein nur in Königsberg alleinig (ohne Frau und Kind) geregelt, abstrakt und mechanisch geführtes Leben gelobt (vgl. H. Kanz 1993: S. 813-30). Vielleicht glaubte der berühmte Philosoph, sobald seine Persönlichkeit nicht mehr sehr original, sonderbar ist, sobald sie ihm und den anderen nicht mehr abstrakt bzw. philosophisch, also ein wenig unschlüssig, schwankend oder schwach zu sein scheint, würde sie ihm untröstlich machen. Man könnte sagen, Kants Angst vor dem Verlust seiner Persönlichkeit war so zunehmend, dass er lebenslang ablehnte, das Ausland kennenzulernen. Die Angst, seine Persönlichkeit zu verlieren! Goethe selbst

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  hätte dies für eine Dummheit gehalten. Diejenigen, die die Einflüsse fürchten und sie vermeiden, drücken dadurch stillschweigend die Armseligkeit ihrer Seele aus. Nichts Neues in ihnen zu entdecken, weil sie sich zu nichts Anlass geben wollen, das ihre Entdeckung führen kann. Goethe war gegen alle Idee von Originalität, Isoliertheit und negativem Purismus (vgl. J. W. v. Goethe 1982: S. 508)1: Er selbst hielt sich für einen Weltbürger, für einen Sohn einer einzigen Welt, ohne Grenzen, in der er sich überall wie bei sich selbst befinden und von den anderen bilden und beeinflussen lassen kann, um daraus Profit ziehen zu können. 3. Auswirkungen der Italienreise auf Luther und Goethe „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen“ (J. W. v. Goethe 1999: S. 181): Mit diesem Wort Goethes empfiehlt sich, diesen Teil unserer Arbeit zu beginnen. Es zeigt, wie sich der Einfluss als etwas Unwiderstehliches erweist und wie der Mensch ein immer werdendes Wesen ist. Luther und Goethe erfuhren diese Wahrheit, indem sie seit ihrer jeweiligen Italienreisen eine volle Transformation kannten. 3.1. Luthers Erweckung Nachdem er das berühmte Wort Luthers „Rom est regio Antichristi, officina Sathanae“ (I. M. Battafarano 2007: S. 7) zitiert hatte, fasste Battafarano in seiner Publikation Mit Luther oder Goethe in Italien. Irritation und Sehnsucht der Deutschen Luthers italienische Erfahrung folgenderweise zusammen: Luther stilisierte in den späteren Tischreden für seine ihn befragenden Anhänger seinen dreimonatigen2 Rom-Aufenthalt in jungen Jahren, gegen Ende 1510 und zu Beginn 1511, nachträglich zu einer für die Reformation entscheidenden Erfahrung, indem er Italien und speziell Rom als Residenz des Antichristen beschrieb, wo nicht christlicher Glaube, sondern Aberglaube und sittlicher Verfall herrsche. (I. M. Battafarano 2007: S. 7) Diese beschriebene Meinung Luthers über Rom hält nicht von ungefähr. Wir haben anfangs behauptet, Luthers Romreise erweise sich als Erweckungserlebnis zum Zweifel an den Praktiken der Papstkirche. Dass er

                                                                                                                          Vgl. auch Eckermanns Gespräche mit Goethe von den 13. Dezember 1826 und 17. Februar 1832 2 Darunter soll vielmehr die Dauer der Italienreise, d.h. der Hin- und Abreise und des vierwöchigen römischen Aufenthalt, Luthers verstanden werden. 1

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  Rom, die Hauptstadt der Christenheit, so scharf kritisiert, hängt unbedingt von der Art und Weise ab, wie diese Stadt ihn beeinflusste, als er dort ankam. Im kommentierten Filmprotokoll seines Filmheftes über Luther berichtet Heinzelmann ausführlich von Luthers Ankunft in Rom: Wir erleben Luther an Stationen, die den Zweifeln nähern: Ein Mönch verhandelt mit einer Hure, eine andere Hure versucht Luther zu verführen. Fliegende Händler bieten Heilige für alle Lebenslagen an. Ein Reiter in goldener Rüstung sprengt durch die Menge: Papst Julius II. Gegen Geld kann der Schädel Johannes des Täufers besichtigt werden. An einer Art Ladentheke erwirbt Luther mit einem Münzeinwurf einen Ablassbrief für den Großvater…(H. Heinzelmann 2004: S. 6) Diese Erfahrung repräsentiert die wichtigste Wende in Luthers Leben. Aber nicht im Sinne, dass sie Luther einen neuen Charakter gab, wie man zu glauben pflegt, sondern dass sie ihm seinen versteckten wirklichen Charakter herausstellte. Der Charakter des bisherig treuen und gehorsamen Christen überließ dem heftigen und wagemutigen Temperament Luthers der Kindheitsperiode das Feld. Jener ungehorsame Luther ist sozusagen „auferstanden“, der fünf Jahre vor seiner Italienreise (im Sommer 1505) plötzlich seine Studien verließ, seine Bücher verkaufte und in das Augustinerkloster Erfurt zur großen Entrüstung von seinem Vater und seinen Freunden trat (vgl. D. Emme 1986: S. 234-35). Es stellt sich ganz deutlich heraus, dass die italienische Erfahrung aus Luther das machte, was er von Natur aus war: einen Protestler, einen Ketzer, einen Revolutionären. Nicht erstaunlich! Man wird nur, der man ist (vgl. F. Nietzsche 1988: S. 519)3 Diese Erfahrung offenbarte Luther nur einen Teil von sich selbst, der ihm noch unbekannt war. Sie galt ihm als eine Erklärung, ja eine Erläuterung von sich selbst. Einflüsse sind wie Spiegel, die uns nicht unsere effektive oder endgültige, sondern latente Natur zeigen. So wird der sich 1510 in Rom über den Papst und seine Kurie empörende Luther sieben Jahre später die Stabilität der katholischen Kirche durch seinen schriftlichen Kampf gegen den Papst und die Ablasspraxis erschüttern.

                                                                                                                          Hier heißt es: „Was sagt dein Gewissen? – Du sollst werden, der du bist.“ Auch in „Also sprach Zarathustra“ kann man dieselbe Idee finden: „Werde, der du bist!“ Vgl. Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“. a.a.O., S. 297. 3

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  3.2. Luthers schriftlicher Kampf gegen den Papst und die Kirche Das Schreiben war und ist immer noch ein mächtiges Instrument der Informationsübermittlung und -speicherung. „Verba volant, scripta manent“ („Gesprochenes vergeht, Geschriebenes bleibt“), wie das lateinische Sprichwort lautet. In diesem Sinne bedeutet Schreiben Handeln, es ist eine „Kampfwaffe“, ein Mittel zur Kritik, Reform und Bewusstmachung. Das hatte Luther verstanden, aber erst nach seiner Italienreise. Mit anderen Worten bringt die Italienreise Luther dazu, ein engagierter Schriftsteller, der Autor eines bedeutenden schriftlichen Werkes zu werden. Er veröffentlichte im Laufe seines Lebens theologische Schriften. Seine Verpflichtungen führten ihn auch dazu, Streitschriften und politische Schriften zu verfassen.4

Luthers Streitschriften wurden gegen den Papst und seine Kurie verfasst und zielten dadurch auf eine Reform der katholischen Kirche ab. Die in Wittenberg im Jahre 1517 veröffentlichten 95 Thesen, die jeweils ein paar Zeilen Luthers Empörung gegen den Verkauf von Ablassbriefen beinhalten, repräsentieren die berühmteste Streitschrift Luthers (vgl. M. Luther 2006). Dann erfolgen die beiden 1545 veröffentlichten Reden Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet, in der Luther den Papst als Teufelsdiener, Lästerer, Chef der Hurenkirche betrachtet (vgl. M. Luther 2015) und Das Bild des Papsttums. Beide Reden sind die letzten Schriften von Luther. Sie sind extrem kritisch. Die zweite ist illustriert mit frechen Szenen des Malers Lucas Cranach, eines Freundes von Luther.

Luthers umfangreichste theologische Tätigkeit im Sinne seiner Reformabsicht ist zweifellos die Bibelübersetzung ins Deutsche. Er übersetzt zunächst das Neue Testament, das er im September 1522 mit einem Vorwort von ihm selbst und Abbildungen seines Freundes Lucas Cranach veröffentlicht und beendet die volle Übersetzung der Bibel erst im Jahre 1534. Die breite Verbreitung Luthers Übersetzung dank der Druckmaschine erlaubte den Deutschen, die Bibel griffbereit zu haben und trug dazu bei, die deutsche schriftliche Sprache zu schaffen. Luther wird dadurch zum Vater der deutschen schriftlichen Sprache und Lieferanten starker deutscher Sprüche.

                                                                                                                          Unter Berücksichtigung der Übersetzungen einiger seiner Reden, die mehr oder weniger richtig sind, zählt man mehr als 600 Titel.   4

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Was seine Predigten anbelangt, beziehen sie sich auf verschiedene Themen wie den Glauben, die Nächstenliebe, das Seelenheil, die heiligen Sakramente, usw. Besonders zu berücksichtigen sind hier Luthers Lehrschriften, vor allem diese bezüglich der Kritik des Römerbriefs und des Glauben als einziges Mittel zur Rettung des Menschen. In diesen Predigten distanziert sich Luther von der mittelalterlichen Tradition, um die Botschaft des Paulus besser zu erklären: Gott verzeihe bedingungslos dem Menschen seine Sünden und helfe ihm dabei, sich auf den Weg der Heiligung zu machen. Dadurch beschreibt Luther die Erlösung durch die Gnade und glaubt, dass der Glaube das einzige gute Werk sei: Der Mensch erlange Gerechtigkeit allein durch die Gnade Gottes, nicht durch gute Werke (vgl. Luthers Kritik des Römerbriefs 1,17).

Nicht durch Philosophie oder Ethik kann der Mensch Gott begreifen. Er soll sich mit den Heiligen Schriften vertraut machen, denn nur darin offenbart Gott seine Weisheit und seine Barmherzigkeit, wie es im Evangelium nach Matthäus zu lesen steht: „Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit deinem ganzen Verstand. Das ist das erste und wichtigste Gebot“ (Matthäus 22,37-38). Daraus ist zu folgern, es ist der Glaube, der die Gläubigen in der Kirche und in der Gesellschaft dazu anregt, gut zu handeln. 3.3. Goethes Wiedergeburt Wie

im

Fall

Luthers

hilft

Italien

Goethe

dabei,

das

wiederzuentdecken, was er latent war: den Klassiker, der er bis zum Tod bleiben wird. Der Stürmer und Dränger wird nun zum Klassiker, wie Battafarano es deutet, indem er Goethe mit Luther in Bezug auf die italienische Reise vergleicht: Anders reflektierte Goethe über das von seinem Vater positiv tradierte Italien-Bild, das er selbst in einem langen Aufenthalt zwischen September 1786 und Mai 1788 verifizierte und erst nachdreißig Jahren in literarischer Form zu gestalten begann. Bis zum Ende seines Lebens hörte er nie mehr auf, darüber zu reflektieren, wie anders er geworden war, seitdem er Italien als

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  Arkadien und die Sehnsucht danach stets als geistige Lebenskraft erlebt hatte. (I. M. Battafarano 2007: S. 7-8) In Italien wird Goethe den neuen künstlerischen Impuls finden, den er suchte, und die Herrlichkeit der antiken Welt entdecken. Nach dem Besuch der nördlichen Städte und einem Aufenthalt in Neapel und Sizilien ließ er sich schließlich in Rom nieder, dessen Relevanz in der folgenden Passage aus seinen Römischen Elegien hervorgehoben wird: Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom. (J. W. v. Goethe 1982: S. 157) Oder in dieser Strophe: Siehe, dir bin ich nun gar nach Rom gefolget; ich möchte Dir im fremden Gebiet gern was Gefälliges tun. Jeder Reisende klagt, er finde schlechte Bewirtung; Welchen Amor empfiehlt, köstlich bewirtet ist er. (J. W. v. Goethe 1982: S. 165) Man konnte nur auf solche löbliche Worte über eine Stadt gefasst sein, die der Dichter in seiner Korrespondenz als den Ort seiner Wiedergeburt beschreibt: „Wie vieles könnt‘ ich sagen! denn ich bin wirklich umgeboren und erneuert und ausgefüllt“ (J. W. v. Goethe 1982: S. 386). Durch diesen Ausruf lässt Goethe verstehen, erst in Rom schien ihm zum ersten Mal, sich seinem Dasein als Mensch im wahren Sinne des Wortes bewusst zu sein. So kann man die Bedeutung des Einflusses eines fremden Landes auf den Geist und das Genie eines Autors verstehen! Goethe selbst schreibt: „Nun hab' ich hier [in Rom] schon wieder treffliche Kunstwerke gesehen, und mein Geist reinigt und bestimmt sich. Doch brauche ich wenigstens noch ein Jahr allein in Rom, um nach meiner Art den Aufenthalt nutzen zu können…“ (J. W. v. Goethe 1982: S. 352). Die Ewige Stadt entspricht seinen Jugendträumen und sein Aufenthalt war eines der glücklichsten und produktivsten Jahre seines Lebens (J. W. v. Goethe 1982: S. 126). Er studiert dort Kunst und Architektur, beschäftigt sich intensiv mit den Schriften der alten Griechen und entdeckt die Werke der Renaissance. Die erworbenen Kenntnisse im Bereich des Klassischen, das auf Harmonie, Gleichgewicht und Vollkommenheit der Form basiert, führen ihn dazu, universelle Themen wie Weisheit, Schönheit und Maß in seiner eigenen Schöpfung zu behandeln.

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In Italien existiert der Autor der Werke Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773), Prometheus (1773) und Die Leiden des jungen Werther (1774) nicht mehr. Er gibt alles zugunsten des griechischen Denkens und der Kunst auf, er stirbt und wird neu: Die Wiedergeburt, die mich von innen heraus umarbeitet, wirkt immer fort. Ich dachte wohl, hier was Rechts zu lernen; viel verlernen, ja durchaus umlernen müßte, dachte ich nicht. Nun bin ich aber einmal überzeugt und habe mich ganz hingegeben, und je mehr ich mich selbst verleugnen muß, desto mehr freut es mich. […] Gebe der Himmel, daß bei meiner Rückkehr auch die moralischen Folgen an mir zu fühlen sein möchten, die mir das Leben in einer weitern Welt gebracht hat. (J. W. v. Goethe 1982: S. 150) Ziel war es, sein eigenes Leben in Zusammenhang mit diesem der anderen zu verstehen. Daraus ergibt sich, dass niemand ein Leben für sich selbst hat und den Sinn dieses Lebens außer Betracht der anderen verstehen kann. Ein jeder Mensch ist die Summe seiner Erfahrungen, seiner Einflüsse. Sein Reichtum ist das Resultat seines Umgangs mit seinen Mitmenschen und seines

Zugehörigkeitsgefühls

zu

einer

Welt

ohne

Grenzen

und

Unterscheidungen. Weil sich Goethe Italien und den Italienern öffnete, bereicherte er sich selbst, wie Wilpert es gut verstand und so resümierte: „[…] ihr Gewinn ist die Erfahrung der Kunst als zweiter Natur, die nach denselben Gesetzen und Mustern verfährt wie diese. […] Im ganzen bedeutet die Italienische Reise den wichtigsten Wendepunkt in Goethes Leben und Schaffen und den eigentlichen Beginn der klassischen deutschen Literatur“ (G. v. Wilpert 1998: S. 519). Die Italienreise war für Goethe ein Heilmittel, das zur Harmonie seines ganzen Wesens führte, indem er die Klassizität seines Geistes und seiner Seele wiederherstellte.

3.4. Goethes Streben nach Harmonie und Vollkommenheit beim Schaffen

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  Seit seiner Italienreise orientiert nun Goethe seine Gedanken nach den Idealen des Wahren, Schönen und Guten, die Hauptmerkmale des griechischen Klassizismus bilden, den er in Italien erfahren hat. Dort vertiefte er auch seine Auffassung der Religion, die er nicht von der griechischen Mythologie unterscheidet. Die italienische Erfahrung erlaubt Goethe, den Sturm und Drang-Geist zugunsten eines Klassizismus zu bändigen, am Beispiel von dem griechischen Klassizismus, wobei die Natur als eine Freundin betrachtet, die Schönheit gefeiert und die Wahrheit als Norm aller Kunst etabliert wird. Goethe weiß nun, wie man sein Temperament zügelt, seine künstlerische Produktion verfeinert, harmonisiert, idealisiert. Sein sizilischer Aufenthalt änderte seine Auffassung der Kunst, die er nun nicht von der Natur unterscheidet, wie es der Fall bei den alten Griechen war. Ihm war eines klar: er solle sich auf denselben Kunstgesetzen stützen, die den Griechen den Weg zur Vollkommenheit zeigten. Die Kunst wird für Goethe ein Streben nach Perfektion durch ein harmonisches Zusammenspiel, wobei alle menschlichen schöpferischen Vermögen gleich kombiniert werden. So findet man die Spuren einer Vorliebe für Harmonie in allen seiner Werke von 1786 bis zu seinem Tod (1832), also von der Weimarer Klassikzeit. Sie erscheinen tatsächlich als die Früchte Goethes neue Beziehung zu sich selbst und seiner Kunst und drücken stillschweigend seine ewige Sehnsucht nach Italien aus, dem Land, das ihn eines Tages und für immer den Weg zur Vollkommenheit zeigte, und zwar diesen, auf den sich die alten Griechen lebenslang machten. Diese Griechen nachzuahmen erweise sich als eine stetige Notwendigkeit: „Jeder sei auf seine Art ein Grieche, aber er sei’s!“ (J. W. v. Goethe 1982: S. 176): so lautet nunmehr die goldene Regel zur Vollkommenheit des Menschen bei dem Klassiker Goethe. Schluss Italien nimmt einen besonderen Platz in der deutschen Kulturgeschichte. Meistens verweist die bloße Erwähnung dieses Landes in der deutschen Literaturgeschichte, vor allem der 16. und 18. Jahrhunderte, entweder auf Martin Luther, der nach einem etwa vierwöchigen Aufenthalt in Rom zur berühmtesten Figur der Geschichte des Christentums wurde oder auf Johann Wolfgang von Goethe, dessen Aufenthalt von etwa zwei Jahren in Venedig, Sizilien, Neapel und Rom ihm erlaubte, als den Vater der deutschen Weimarer Klassik betrachtet zu werden. Dies führt uns zur folgenden

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  Folgerung: Obwohl es schlechte Einflüsse geben kann, sollen wir Einflüssen nicht ausweichen, sondern sie fördern wegen ihrer Bedeutung und Auswirkungen auf den Werdegang des Menschen. Jeder Mensch muss immer versuchen, von anderen zu lernen, sich an den Erfahrungen seiner Mitmenschen zu bereichern, um dadurch menschlicher zu werden. Derjenige, der hingegen sich isoliert, den Kontakt mit den anderen ablehnt, wird nur seltsam, eigenartig, außerordentlich. Lohnt es sich, das Evangelium hier zu erwähnen? Ja, weil wir glauben, es illustriert sich wohl hier auch: „Wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert […], der wird's erhalten [oder, um den griechischen Text genauer zu übersetzen: „wird’s lebendiger machen“]“ (vgl. Markus 8,35). Daher die Notwendigkeit allen Einflusses.

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