2006 MOTORRAD

DIE GROS 138 MOTORRAD test + technik 8/2006 SE Perfekt fahren mit Teil 2: Kurvenfahren – die Praxis SAUSE TEIL 1 MOTORRAD 6/2006 KURVENFAHREN, ...
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DIE GROS

138 MOTORRAD test + technik

8/2006

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Perfekt fahren mit

Teil 2: Kurvenfahren – die Praxis

SAUSE TEIL 1 MOTORRAD 6/2006 KURVENFAHREN, DIE THEORIE

TEIL 2 IN DIESEM HEFT KURVENFAHREN – DIE PRAXIS

TEIL 3 MOTORRAD 10/2006 FASZINATION SCHRÄGLAGE

Endlich. Sonntag früh, der Bürger schnarcht noch in die Kissen, die ersten Vögel zwitschern vorlaut durchs Geäst, und wir bringen das Kraftrad in Stellung. Herr, was für ein Tag, was für Kurven, was für eine Lust, durch die Landschaft zu segeln, schwerelos von einer Schräglage in die andere, in sanften Bögen oder harsch durch die S-Kurven gebügelt. Damit der Genuss ohne Reue über die Bühne geht, verrät MOTORRAD die wichtigsten Tipps und Tricks für das flotte Kurventänzchen.

Von Werner Koch; Fotos: Markus Jahn, Koch; Illustrationen: Petrovic, Müller TEIL 4 MOTORRAD 12/2006 EFFEKTIVES BREMSEN

TEIL 5 MOTORRAD 14/2006 FAHREN MIT GEPÄCK

TEIL 6 MOTORRAD 16/2006 FAHREN IN DER STADT

TEIL 7 MOTORRAD 18/2006 FAHREN BEI REGEN

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as Vergnügen verbindet Motorradfahrer jedweder Couleur, egal, ob Sport-Flitzer, Touren-Freaks, Enduristen oder Reiter nackter Eisen: Kurven sind ihre Leidenschaft. Selbst der Chopper-Liebhaber funkt mit seinem Chrom-Hobel gelegentlich dem Sonnenuntergang entgegen. Denn anders als die Autofahrer spielen Kradler der Fliehkraft einen Streich. Anstatt uns wie in einer Zentrifuge gegen die Massenkraft zu stemmen, balancieren wir Motorradpiloten die Kräfte aus und finden gerade darin jene scheinbare Schwerelosigkeit, die mit einem erheblichen Suchtfaktor einhergeht. Ehrlich, wer hat sich in diesem endlos fiesen Winter nicht heimlich mal in die Garage geschlichen, sich aufs geliebte Zweirad geschwungen wie ein Fünfjähriger auf dem Kinderkarussell, am Gasgriff gedreht, am Schalthebel geklickt und ganz leise wroooaaamm, wroooaaam gebrummt? Keine Sorge, wir verraten nix, weil wir selbst der Sucht erlegen sind und keine Sitzung der Selbsthilfegruppe „BekennenMOTORRAD test + technik 139

왎 Die klassische Kurve, die durch ihre Übersichtlichkeit eine fein zurechtgelegte Ideallinie und knackige Schräglagen zulässt. Bereits bei der einfachen Kurvenversion ist zu erkennen, dass beim Anschneiden (gestrichelte Linie) das Motorrad am Kurvenausgang die größere Schräglage fahren muss, während der Fahrer beim Hinterschneiden (durchgezogene Linie) den Scheitelpunkt nach hinten verlegt (Pylone), in diesem Abschnitt schon wieder ans Gas geht und die etwas langsamere Kurvengeschwindigkeit mehr als wettmacht.

Falsche Linie Gedachter Scheitelpunkt

Bremsen Rollen Beschleunigen

왎 Folgen zwei Kurven in kurzem Abstand, kommt der Vorteil des Hinterschneidens noch mehr zum Tragen, weil es der spät gesetzte Scheitelpunkt erlaubt, die folgende Linkskurve von weit außen anzufahren, während es den Fahrer auf der falschen Linie in Richtung Gegenfahrbahn drängt und er für die folgende Linkskurve von einer äußerst ungünstigen Position aus hart Einlenken muss. Eine flüssig-runde Linie ist damit nicht zu machen.

de Kurven-Junkies“ verpassen. Jetzt aber wird’s ernst, und der Spaß beim Kurvenradeln kann schnell auch mal ein Loch bekommen. Wie bereits eingangs und in Teil 1 dieser Serie (MOTORRAD 6/2006) angesprochen, beherrschen wir mit feinen Lenkimpulsen rohe Kräfte, die uns einerseits im Lot halten, andererseits ruck, zuck außer Kontrolle geraten können. Denn sobald wir uns ins schräge Vergnügen stürzen, mobilisieren wir allerhand Kräfte, die auf den Motorrad-Skizzen (siehe rechts) mit Pfeilen kenntlich gemacht sind und mit denen wir bewusst umgehen müssen. Was nicht dazu führen darf, zögerlich oder gar ängstlich aufs Ross zu steigen. Nur wenn wir locker, konzentriert und positiv den Ritt angehen, werden wir ihn auch genießen. Hurtige Richtungswechsel erfordern kraftvolle Lenkimpulse Vor jeder schrägen Kurvenfahrt steht zunächst die Anpassung der Geschwindigkeit auf das gewünschte Niveau. Natürlich wird auf der trockenen Landstraße überwiegend über die Vorderradbremse verzögert, wobei die Hinterradbremse immer mit betätigt wird. Solange das Hinterrad beim Bremsen nämlich nicht abhebt, was es gewöhnlich nur auf der Rennstrecke tut, kann der Hinterreifen Bremskraft übertragen und folglich den Bremsweg verkürzen. Doch das ist ein extra Thema für Folge 4 in MOTORRAD 12/2006. Also flott übers Land gebügelt, dann voll in die Eisen und mit 50 km/h in eine Linkskurve einlenken. Die Körperspannung kurz vor dem Verkrampfen, doch die an sich lammfromme Honda CBF 600 sträubt sich, mit gezogener Vorderradbremse Schräglage aufzunehmen. Aufstellmoment heißt dieses Phänomen und erklärt sich daraus, dass in Schräglage die Reifenaufstandsfläche aus der Lenkachse (Lenkrohr) wandert, woraus sich ein Hebelarm ergibt, der nach hinten zieht. Mit dem Resultat, dass sich die Lenkung zur Kurveninnenseite verdreht, was zum Aufstellen der Maschine führt, wenn der Fahrer nicht mit einer entsprechenden Kraft am Lenker dagegenhält (siehe Skizze rechts oben). Aus diesem Grund sollte man Geschwindigkeit und Fahrstil auf unbekannten Strecken so wählen, dass der Bremsvorgang vor dem Einlenken abgschlossen ist. Ein entscheidender Faktor in der Brems- und Einlenkphase: die Bremswirkung des Motors, die durch Herunterschalten den Bremsvorgang unterstützt. Bei leistungsstarken Bikes ist hier aber Vorsicht geboten, denn in niedrigen Gängen ist die Drehzahl und somit die verfügbare Leistung am Scheitelpunkt zu hoch, die Beschleunigung aus Schräglage gerät zu aggressiv. Was tun? Ganz einfach, es Valentino Rossi und Konsorten nachmachen. Sie drücken kurz vor dem Scheitelpunkt wieder den nächst höheren Gang 8/2006

DIE DREI PHASEN EINER KURVENFAHRT Schräglage aus der Vogelperspektive Reifenumfangskräfte Schwach Mittelstark Stark

Seitenführungskräfte Schwach Mittelstark Stark 왎 Rote Phase: Anpassungsbremsung beim Einlenken.

Dabei entsteht besonders bei breit bereiften Maschinen das so genannte Aufstellmoment, bedingt durch die außermittig zur Lenkachse verlagerte Aufstandsfläche des Vorderreifens (Skizze links). Dieses Phänomen muss der Fahrer durch eine Gegenlenkkraft (blauer Pfeil) ausgleichen. Bei den Fahrversuchen wurde eine Gegenlenkkraft bis zu 25 Kilogramm bei rund zwölf Grad Schräglage gemessen.

왎 Gelbe Phase: Schräglage in der Rollphase. In diesem Fahrzustand sind die Umfangskräfte am Vorderrad minimal, während am Hinterrad je nach Geschwindigkeit, bei konstant 100 km/h zirka acht PS, die Antriebskraft einwirkt. Die Reifen können jetzt hohe Seitenkräfte übertragen und ermöglichen somit eine enorme Schräglage. Sollte diese überzogen werden, verliert meist der schmalere Vorderreifen zuerst die Haftung. Man sollte deshalb versuchen, so früh wie möglich leicht zu beschleunigen, um ihn zu entlasten.

왎 Grüne Phase: Beschleunigen aus Schräglage. Am Kurvenausgang wird sanft das Gas aufgezogen, wodurch sich das Motorrad aufrichtet und sich der Kurvenradius vergrößert. Soll dieser Vorgang beschleunigt werden, hilft ein zusätzlicher Druck am kurvenäußeren Lenkerende. Je nach Beschleunigen wirkt eine mehr oder weniger starke Umfangskraft auf den Hinterreifen, weshalb dieser weniger Seitenkräfte, also Schräglage, verkraften kann als der Reifen vorn, der in dieser Phase minimalste Umfangskräfte übertragen muss.

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Falsche Linie Gedachter Scheitelpunkt Bremsen Rollen Beschleunigen

왎 Verführerisches Kurvengeschlängel mit

großem Risko. Weil der Straßenverlauf zum großen Teil nicht einsehbar ist, kann sich dort ein Auto oder Motorrad „verstecken“, das beim Schneiden der S-Kurve urplötzlich auftaucht. Deshalb ist auch in dieser Passage das Hinterschneiden die bessere Lösung, zumal man damit rechnen muss, dass der Gegenverkehr die S-Kurve ebenfalls schneidet und im schlimmsten Fall auf der falschen Straßenseite daherprescht.

hinein und können mit geringerer Drehzahl und einer entsprechend sanften Motorcharakteristik beschleunigen. Speziell in der Einlenkphase entscheidet die Motorbremskraft über den weiteren Verlauf von Schräglage und Kurvenlinie. Wer mit einem zu kleinen Gang und entsprechend hoher Drehzahl/hohem Bremsmoment einlenkt, ist schon vor dem Scheitelpunkt zu langsam und muss durch Beschleunigen oder Aufrichten korrigieren. Ein Vorgang, der häufig auf SerpentinenStrecken in den Alpen zu beobachten ist. Ist man in einem zu hohen Gang unterwegs, saust die Fuhre mit zu wenig Bremsmoment um die Kurve, was mit einer entsprechend großen Schräglage abgefangen werden muss. Tut man das nicht, treibt die Fliehkraft das Motorrad auf einem zu großen Radius aus der Spur, sprich auf die Gegenfahrbahn oder in den Acker. Ein echtes Desaster beim Einlenken: der Verlust der Motorbremswirkung, zum Beispiel durch einen herausgesprungenen Gang oder eine gezogene Kupplung. Das Motorrad lässt sich unter solchen Umständen nur noch mit enorm viel Kraft in Schräglage bringen und drängt durch die geringe Verzögerung sofort auf einen zu großen Radius. Generell gilt: In brenzligen Situationen, wenn zum Beispiel die Kurve zu eng oder das Motorrad instabil wird, nie die Kupplung ziehen, weil damit die stabilisierende Wirkung der Motorbremse unterbrochen wird. Einzige Ausnahme: die Notbremsung, bei der es gilt, vorn wie hinten mit aller Kraft den Stachel in den Asphalt zu rammen. 142 MOTORRAD test + technik

Phase Nummer zwei: das Rollen, verbunden mit einer mehr oder weniger akrobatischen Schräglage und je nach Motorrad und Fahrertyp individuellem Fahrstil. Wie und in welchen Situationen die drei Sitzhaltungen am effektivsten eingesetzt werden, ist auf Seite 145 unten beschrieben. Nach dem Bremsen folgt die schwerelose Schräglage Weil beim Rollen keine nennenswerten Umfangskräfte (Bremsen oder Beschleunigen) wirken, tendieren die meisten Motorräder beim Überziehen der Schräglage dazu, zuerst übers Vorderrad abzuschmieren. Eine schaurige Vorstellung, weil solche Slides auch von hochtalentierten Schräglagen-Dompteuren nur mit viel Glück und einem stramm ausgestreckten Knie abgefangen werden können. Doch keine Angst, moderne Reifen stecken in optimaler Verfassung – mit rund 35 Grad warmem Laufflächengummi und auf normal griffigem Belag – Schräglagen bis knapp 50 Grad weg. Die meisten Motorräder, Supersportler ausgenommen, ritzen vorher mit Fußrasten, Ständer oder Auspuff fette Rillen in den Asphalt. In jedem Fall sollte die Rollphase so kurz wie möglich ausfallen, weil damit der mögliche Abflug übers Vorderrad eher unwahrscheinlich wird. Kurz nach dem Scheitelpunkt naht der Moment, an dem das Rollen in Beschleunigen übergehen muss. Also: Gaaaaas. Aber bitte schön mit der nötigen Sensibilität, da auch der griffigste Hinterradreifen in voller Schräglage

nur minimale Umfangskräfte verdaut. Je geringer die Schräglage, desto mehr ist an Beschleunigung drin und umgekehrt. Und hier liegt einer der großen Vorteile beim so genannten Hinterschneiden einer Kurve. Man lenkt früh mit relativ geringer Kurvengeschwindigkeit ein, kann dann jedoch – je nach Verkehrssituation und Streckenverlauf – extrem früh wieder beschleunigen und den Kurvenradius entsprechend frei wählen. Zudem ist in Rechtskurven der Abstand zur Gegenfahrbahn am Kurvenausgang angenehm groß, während beim konventionellen Kurvenschneiden die maximale Schräglage am Kurvenausgang kaum mehr zu korrigieren ist und im schlimmsten Fall auf der Gegenfahrbahn endet. (Mehr dazu auf der folgenden Seite sowie in den Skizzen auf Seite 140). Und wie kündigt sich nun ein rutschendes Hinterrad beim Beschleunigen an? Meist damit, dass das Heck in leichten Pumpbewegungen nach außen wandert und sich der Lenker durch den Schräglauf sanft gegen Kurvenrichtung verdreht. Wer diese Signale ignoriert und nicht das Gas zudreht, ist selber schuld, wenn sich das Gestühl kopfüber in den Dreck bohrt. Befinden wir uns auf der korrekten Fahrlinie, dürfte der schnellen und sicheren Kurvenjagd nichts mehr im Wege stehen. Oder doch? Zum Beispiel dann, wenn wir in verzwickten S-Kurven ratz, fatz die Kiste von einer Schräglage in die andere pressen müssen. Solche Manöver gelingen weder über gut gemeinte Gewichtsverlagerungen noch esoterische Schwingungen oder den geheimnisvollen Schenkeldruck, sondern nur über kräftige und gezielte Lenkimpulse. Beispiel gefällig? Um die Honda zackig durch ein rund 100 km/h schnelles Landstraßengeschlängel zu bugsieren, muss beim Schräglagenwechsel mit bis zu 300 Newton, also rund 30 Kilogramm Kraft am Lenker gezogen werden. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Gleichgültig, ob beim Hineinbremsen in Schräglage oder beim schnellen Richtungswechsel, stets sind solche Manöver

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DIE HÄUFIGSTEN FEHLER UND UNFALLURSACHEN Aus Hunderttausenden von Motorradkilometern und der reichlichen Erfahrung der MOTORRADRedakteure lassen sich die grundlegenden Unfallursachen beschreiben.

Anpassungsbremsung Schräglagenangst

왎 Der Klassiker unter den Fahrfehlern: die Angst vor großer Schräglage (Skizze 1), mit der Folge, dass der Kurvenradius auf der Gegenfahrbahn endet. Die Ursache dafür ist meist mangelndes Training von Schräglage und Kurvenspeed. Wer sich generell keine großen Schräglagenlagen zutraut, hat enorme Probleme, wenn sich der Kurvenradius zuzieht, die so genannte Hundekurve, oder die Einlenkgeschwindigkeit zu hoch gewählt ist. Dann gilt es, das Motorrad durch bewusste Lenkimpulse in Schräglage zu zwingen (siehe Teil 1,

mit einem klar definierten Krafteinsatz verbunden. Diese Kraft in stressigen Situationen aufzubringen gelingt nur absolut routinierten Fahrern und erfordert deshalb ein permanentes Training. Dass sich die Linienwahl bei flotter Kurvenfahrt im Lauf der Jahre verändert hat, ist vor allem eine Folge der rasanten Weiterentwicklung der Motorradtechnik. Galt bis zu den 80er Jahren, wo rund 110 Millimeter schmale Vorder- und Hinterreifen montiert waren, noch die goldene Regel von der runden, gleichmäßigen Schräglage und Kurvenfahrt, so erfordern Maschinen mit bis zu 190 Millimeter breiten Hinterreifen und vergleichsweise schmalen 120er-Pneus vorn eine etwas andere Fahrlinie. Vom Rennsport, in dem mit fast identischen Reifenbreiten gefahren wird, inspiriert, hat sich das Anschneiden einer Kurve zum so genannten Hinterschneiden gewandelt (siehe Skizzen Seite 140). Die aufgeführten Streckenpassagen sind keine künstlichen Gebilde, sondern stammen aus den GPS-Aufzeichnungen der MOTORRAD-Testrunde. Bei Messfahrten mit Datarecording wetzte der Pilot, der die richtige Fahrlinie wählte, auf einer Streckenlänge von knapp einem halben Kilometer, gespickt mit den hinterhältigsten Hunde- und S-Kurven, nicht nur sicherer, 144 MOTORRAD test + technik

Hohe Anfangsgeschwindigkeit Panikbremsung

Perfekt fahren mit MOTORRAD, Heft 6/2006). Das funktioniert jedoch nur, wenn die Wasserwaage im Kopf diesen Vorgang zulässt, denn von Natur aus ist die Maschine Mensch nur für 20 Grad Schräglage geeicht. Soll es mehr sein, muss dies geübt werden. Tipp: Wenn es richtig eng wird, das Motorrad im Fahrstil „Drücken“ durch die Kurve zwingen. 왎 Nicht minder sind die Folgen beim „Einfrieren“ auf der Bremse (Skizze 2). Auf der Geraden ordentlich am Quirl gedreht, rast der Bremspunkt schneller auf den Sportsmann zu, als er diesen erfassen

sondern auch gut zwei Sekunden schneller durch das Labyrinth als der Fahrer auf der falschen Fährte. Natürlich sind die Handling-Eigenschaften auch abhängig vom Motorradtyp, von der jeweiligen Fahrwerks- und Lenkgeometrie und vor allem der Bereifung. Ein Blick in die MOTORRAD-Reifentests bringt schon vor dem Kauf Klarheit über die Lenk- und Kurveneigenschaften der teuren Gummis. Denn je nach Typ und Qualität können sich Reifen regelrecht gegen die gewünschte Schräglage stemmen – oder Kurven zielgenau wie von Geisterhand umrunden. In diesem Zusammenhang packen die Routiniers auch gerne den Trick mit der Blickführung aus. Wenn’s eng wird, lenkt der Blick die Fahrrichtung Zum Thema Blickführung, auf dem Motorrad sagt das Lehrbuch: weit vorausschauen. Was im Prinzip stimmt, bei der Landstraßenfahrt allerdings immer im Wechsel mit dem Blick vors Vorderrad einhergehen muss. Denn Schlaglöcher, Rollsplit oder hinterhältige Bitumenstreifen lassen sich mit dem weit nach vorn gerichteten Blick kaum erfassen. Er dient dazu, die Fahrlinie dem erkennbaren Streckenverlauf anzu-

kann. Folglich wird in ziemlicher Panik mit aller Macht geankert. Aber anstatt beim Einlenkpunkt die Bremse zu lösen und einzubiegen, bleibt der erstarrte Reiter voll in den Eisen und wundert sich, warum das Krad nicht einbiegen möchte, sondern wie auf Schienen aus der Spur fährt, Stichwort Aufstellmoment. Auch in solchen Situationen fehlt die Übung, Auge und Gehirn mit hoher Geschwindigkeit und brachialer Verzögerung vertraut zu machen. Das intensive Trainieren findet am besten auf einem geeigneten Übungsgelände oder auf der Rennstrecke unter Anleitung statt. Beides gehört zum Angebot des MOTORRAD action team und kann für alle, die diesbezüglich Schwierigkeiten haben, nur empfohlen werden. Wer sich intensiv und tiefgründig mit dem Thema beschäftigen möchte, dem sei außerdem Bernt Spiegels Buch „Die obere Hälfte des Motorrades“ ans Herz gelegt. Mehr dazu unter www.motorradonline.de. Neben den selbst verursachten Ausrutschern führen oft äußere Umstände in die Bredouille. 왎 Beispiel Nummer eins (Bild 1) ist die Kreuzung oder Einmündung am nicht einsehbaren Kurvenausgang. Gewöhnlich kann man dort mit freier

passen, während der kurze Blick vors Vorderrad die Straße nach Stolperfallen absucht. Geht dem flotten Fahrer durch eine Fehleinschätzung von Kurvenverlauf oder Geschwindigkeit die Straße aus, ist es zwingend notwendig, den Blick dorthin zu richten, wo man landen möchte. Und das ist die richtige Fahrspur und nicht der Graben. Die Blickführung dient außerdem dazu, den Scheitelpunkt einer Kurve anzuvisieren, weshalb dieser bei Fahrtrainings auf der Rennstrecke oft mit rot-weißen Pylonen markiert ist. Symbolisch kann man durch ein gezieltes Training diese Hilfe auch auf der Landstraße nutzen, indem man den gewünschten Scheitelpunkt mit einem konzentrierten Blick fixiert. Die passende Fahrlinie richtet sich stets und ohne Einschränkungen nach der jeweiligen Verkehrslage. Ausschließlich bei übersichtlichen Strecken und großzügig bemessener Straßenbreite kann die Ideallinie umgesetzt werden. Für enge, unübersichtliche Kurvenstrecken gilt die eiserne Regel: so eng wie möglich am rechten Straßenrand fahren, denn in Schräglage nimmt der benötigte Raum eines Motorrads immens zu, wie die Fotos rechts eindrücklich demonstrieren. Eine Tatsache, die von vielen Motorradfahrern beim

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BEIM KURVENFAHREN

Fahrt rechnen, wenn indes ein Linksabbieger die Fahrspur blockiert, ist Schluss mit lustig. 왎 Sollte es in freier Wildbahn nach Diesel oder Benzin riechen, ist Alarmstufe Rot angesagt. Denn nur selten warnen Schilder (Bild 2) vor Ölspuren durch undichte oder vergessene Tankdeckel, und wenn, dann erst Stunden später. 왎 Altbekannter Schlamassel: Bitumen (Bild 3), in gezeigtem Fall mit gleißendem Gegenlicht. Hier wird es kritisch, weil das rutschige Zeug nicht nur bei Regen, sondern auch bei Hitze äußerst gefährlich werden kann. Ergo: Gas raus, selbst wenn die Kurven noch so verführerisch sind. 왎 Die Nummer mit dem Traktor an der Wegeinmündung (Bild 4) zählt ebenfalls zu den Klassikern, nicht zuletzt deshalb, weil die Landmaschine trotz nicht körperlicher Anwesenheit gerne schmierige Lehmspuren hinterlässt. 왎 Und wenn sich das Kniestrumpf-Geschwader nach dem Ausflug müde und matt auf den Heimweg macht, werden Wanderparkplätze (Bild 5) zur Mausefalle. Hier ist vom Rückwärts-Ausparker über den blinden Linksabbieger bis hin zu spielenden Kindern mit allem zu rechnen. Deshalb gilt für jeden lebensbejahenden Kurven-Junkie: Geschwindigkeit runter. 왎 Fehlt nur noch der frisch aufgebrachte Straßenbelag (Bild 6). Mit Bitumen getränkt, ist die Oberfläche oft über Monate hinweg speziell bei Nässe extrem rutschig. 왎 Kalte Reifen sind ebenfalls rutschig, weil der Gummi zu wenig Elastizität aufweist, um sich mit

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왎 Drücken nennt sich diese Art und stammt aus dem Geländesport. In Verbindung mit einem festen Knieschluss lassen sich fast alle Motorradtypen sehr gut manövrieren, speziell auf losem Untergrund oder Schotterstrecken. Besonders geeigneter Fahrstil für langsame und enge, unübersichtliche Kurven, die einen blitzartigen Kurswechsel und eine möglichst schmale Silhouette erfordern. Ist bei allen Motorradmodellen mit aufrechter Sitzposition und breitem Lenker anwendbar. Aber auch Supersportler können mit etwas Übung aus dieser Sitzposition heraus dirigiert werden. Der Nachteil: Motorräder mit geringer Schräglagenfreiheit setzen früher auf.

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Bild 1

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Bild 2

Bild 5

dem Asphalt zu verzahnen. Vorsicht ist insbesondere angesagt, wenn der Reifen beim gemütlichen Dahinrollen bei niedrigen Asphalttemperaturen schnell auskühlt, man die nächste Kurve aber in gewohnt flotter Manier nehmen will. So genannte Kaltstürze gehören leider häufig zu den Unfallursachen beim Kurvenfahren. Denn ohne Grip keine

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Bild 3

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Schräglage. Mindestens 30 Grad Celsius müssen die Motorradreifen aufweisen – das ist per Hand gefühlt deutlich höher als Körpertemperatur –, um ordentliche Seitenhaftung aufzubauen. Auch frisch montierte, neue Reifen verlangen auf den ersten Kilometern ein sehr behutsames Anfahren ihrer recht rutschigen Oberfläche.

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왎 Legen heißt: Fahrer und Maschine bilden in

왎 Hängen – ohne zu würgen. Dieser Fahrstil ist

Schräglage eine Linie. Entweder mit festem Knieschluss oder locker-sportlich abgespreiztem Knie passt dieser Fahrstil für alle Arten von Kurven sowie sämtliche Geschwindigkeitsbereiche und kann in Wechselkurven elegant mit dem Fahrstil „Drücken“ kombiniert werden. Wie beim Drücken lässt sich die Fahrtrichtung sehr schnell korrigieren. Ideal für lange Strecken, weil die entspannte Sitzhaltung wenig Kraft verlangt. In schnellen Kurven können Oberkörper und Knie nach innen verlagert werden, was bei Supersportlern Kurvenstabilität und Handling fördert und bei Tourern die Schräglagenfreiheit erhöht.

speziell auf die Sitzhaltung und Fahrwerksgeometrie von Supersportlern abgestimmt, sollte aber nur in absolut übersichtlichen Kurven angewandt werden, weil Kurskorrekturen in Schräglage lediglich zögerlich verlaufen und der Oberkörper bei knackigen Schräglagen viel Raum zur Kurveninnenseite beansprucht. Ergibt in Kurven unter 40 km/h und Spitzkehren keinen Sinn. Nachteil: kostet Kraft und gelingt nur mit viel Übung auf der Rennstrecke wirklich gut, wobei das Knie nicht zwingend über den Asphalt zwitschern muss. Vorteil: Schräglagenfreiheit, Kurvenstabiltät und -speed erhöhen sich.

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Schneiden einer Linkskurve nicht berücksichtigt wird, was mitunter zu Kollisionen – nicht nur mit entgegenkommenden Autos, sondern auch Motorrädern – führt. Speziell auf verkehrsarmen Nebenstrecken ist die Verführung groß, trotz nicht einsehbarer Streckenführung auf die Ideallinie umzuschwenken. Dabei ist es nur eine Frage der Zeit, wann einem der regionale Milchlaster mit Schmackes ums Eck entgegenkommt. Und dann wird’s verflucht eng. Und schließlich gibt es auch bei den MOTORRAD-Testprofis Tage, an denen selbst mit dem besten Bike nichts zusammenläuft, weil sich die Psyche quer stellt. Schlecht drauf, ängstlich und unsicher, meist ohne ersichtlichen Grund, stochert man verkrampft durch die Landschaft. Solche Situationen mit dem Brecheisen zu bewältigen und einfach draufloszubrettern, um von der Gruppe nicht abgehängt zu werden, kann ins Auge gehen. Die vernünftige Lösung: ein Tempo anschlagen, bei dem man sich rundum wohl fühlt, keinerlei Leistungsdruck zulassen, weder selbst gemachten noch von den Spezln. Denn meist fährt man sich von solchen Blockaden innerhalb weniger Stunden frei und findet zu seinem gewohnten Fahrkönnen zurück. Um die Faszination Schräglage dreht es sich im nächsten Teil der Serie, in dem wir folgende Fragen klären wollen: Wie schräg geht es wirklich, was bedeutet Grip, wo sind die Grenzen und wie um Himmelswillen bekommt man die peinlichen Angststreifen auf den Reifen weg?

DIE PASSENDE BEREIFUNG FÜR UNGEBREMSTEN KURVENSPASS Oft entscheidet die Wahl der Pneus, ob die Kurvensause Spaß oder Tortour wird.

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ie fleißige MOTORRAD-LESER wissen, gibt die Redaktion für die meisten Testmaschinen zwei Empfehlungen bezüglich der Fahrwerkseinstellung. Zum einen das komfortable Touren-Setting, zum anderen die Abstimmung für sportliches Kurvenfahren. Dieses wird auf der extrem anspruchsvollen MOTORRAD-Testrunde und im Handling-Parcours ausgetüftelt. Häufig wird dabei die Druckstufendämpfung an Gabel und Federbein erhöht, um in Wechselkurven mehr Stabilität und in voller Schräglage eine klare Rückmeldung zu erhalten. Zudem reduzieren die Testfahrer oft den Negativfederweg am Hinterrad (ohne Fahrer gemessen) auf maximal fünf Millimeter, um die Lenkgeometrie mehr in Richtung Handlichkeit zu trimmen und gleichzeitig die Schräglagenfreiheit zu verbessern. Doch der entscheidende Punkt ist und bleibt die Bereifung. Gute Straßensportreifen fahren sich deutlich lenkpräziser und handlicher als TourenSchlappen. Der Grund dafür liegt in der Kontur, die beim Sportreifen ähnlich spitz ausfällt wie bei reinrassigen Rennreifen. Das Motorrad kippt dadurch agil in Schräglage. Tourengummis dagegen wölben sich balliger über die Felge, um in der Laufflächenmitte genügend Auflagefläche zu gewährleisten, was dem Verschleiß entgegenwirkt. Dafür weisen Sportreifen im Schräglagenbereich eine größere Aufstandsfläche (Latsch) auf, die Haftung und Rückmeldung verbessert.

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Tourenreifen

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Sportreifen

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왎 Tourenreifen sind so konstruiert, dass die Auflagefläche, der so genannte Latsch, bei Geradeausfahrt groß ist, was den Verschleiß senkt, die Handlichkeit aber einschränkt. Sportreifen hingegen sind spitz konturiert und weisen den größten Latsch im Schulterbereich, also bei Schräglage auf.

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Teil 3: Faszination Schräglage

WELT TEIL 1 IN MOTORRAD 6/2006 KURVENFAHREN, DIE THEORIE

TEIL 2 IN MOTORRAD 8/2006 KURVENFAHREN, DIE PRAXIS

TEIL 3 IN DIESEM HEFT FASZINATION SCHRÄGLAGE

TEIL 4 IN MOTORRAD 14/2006 EFFEKTIVES BREMSEN

TEIL 5 IN MOTORRAD 16/2006 FAHREN MIT GEPÄCK

TEIL 6 IN MOTORRAD 18/2006 FAHREN IN DER STADT

TEIL 7 IN MOTORRAD 20/2006 FAHREN BEI REGEN

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Die Leichtigkeit der schrägen Sause ist es, was Motorradfahren zu einem einzigartigen Erlebnis macht und für den Nervenkitzel sorgt. Entsprechend heiß diskutiert wird das Thema Schräglage an den MotorradStammtischen. Je schräger, desto besser – heißt es dort. Doch wer auf des Messers Schneide balanciert, kann auch ruck, zuck das Gleichgewicht verlieren. MOTORRAD erklärt wichtige theoretische Grundlagen und zeigt, was geht – und was garantiert daneben geht. Von Werner Koch; Fotos: Markus Jahn, fact, Gargolov, Koch; Illustrationen: Petrovic, Müller; Zeichnungen: Michelin; Berechnungen: Dirk Debus/2D

ragen wir mal ganz blöd nach: wozu eigentlich Schräglage fahren? Antwort: Weil sonst unsichtbare Fliehkräfte das gute Krad – rums – einfach aus der Kurvenbahn werfen würden. Um das zu vermeiden, neigen sich Ross und Reiter gegen die Gewalt der Zentrifugalkraft in Schräglage. Je schneller, desto tiefer segelt das Duo über den Grund. So erwächst aus dem konstruktiven Schwachpunkt des Einspurfahrzeugs Motorrad eine faszinierende Dynamik. Und der kann sich niemand entziehen. Nicht einmal der maximal entspannte Chopper-Fahrer widersteht der Schwerelosigkeit einer forschen Kurvensause. Weil Schräglage eben nicht nur schnell macht, sondern auch dieses besondere Gefühl von Akrobatik, Sportlichkeit und Wagemut vermittelt. Je nach Fahrertyp und Philosophie begnügt man sich mit lässigem Schwingen und dezentem Schräglagenwinkel, der bei trockener, staubfreier Straße mit 40 Grad

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20°

Aus dieser Kamera-Perspektive verdreht sich der Horizont gewaltig. Der Fahrer gleicht die Schräglage mit einer möglichst vertikalen Kopfhaltung aus.

gewisse Sicherheitsreserven bei maximaler Kurvenlust garantiert. Auch die Leichtigkeit der so genannten kraftneutralen Kurvenfahrt braucht kein aberwitziges Tempo und lässt sich weit vor dem tatsächlichen Grenzbereich auskosten. Kraftneutral deshalb, weil die Lenkkräfte in großen Schräglagen bei einem ordentlichen Fahrwerk und gut gewählter Bereifung nahezu gegen null tendieren. Zudem verspürt der Motorradfahrer im Gegensatz zum Automobilisten keinerlei Querkräfte. Mit richtiger, also

Der Mensch ist von Natur aus auf etwa 20 Grad Schräglage getrimmt. Mehr verlangt nach Training.

vorauseilender Blickführung und möglichst waagerechter Kopfhaltung kommt der Pilot mit dem schräg ins Blickfeld gerückten Horizont bestens zurecht. Ein Gefühl, das den Menschen schon deshalb fasziniert, weil die menschliche Wasserwaage, medizinisch korrekt: Gleichgewichtsorgan, von Natur aus auf lediglich 20 Grad Schräglage ausgelegt ist. Ohne regelmäßiges Training in größerer Schräglage keine einfache Sache, diese Grenze zu überwinden. Weshalb sicherheitsbewusste

Kradfahrer bei der flotten Landstraßenausfahrt die letzten zehn Prozent Kurvenspeed sicherheitshalber einfach stecken lassen. Als einfaches Instrument zum Ertasten der möglichen Schräglage galt lang – und gilt auch heute noch – die Fußspitze. Objektiv betrachtet kann der schleifende Stiefel natürlich kein wirklich verlässlicher Indikator für die Schräglagengrenze darstellen, als subjektive Hilfestellung beim ersten zögerlichen Herantasten allerdings ist nichts dagegen einzuwenden.

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DER KAMMSCHE Der Kammsche Kreis, benannt nach dem Ingenieuer KREIS Wunibald Kamm, und seine Kraftlinien zeigen, in welchem Verhältnis Seiten- und Umfangskräfte den Reifen beziehungs85% weise die zur Verfügung stehende Haftreibung beanspruchen. Wobei sich das Verhältnis von 36° 36° Umfangs- und Seitenkräften nicht linear verändert. Straßenfahrt Die grünen Linien gelten für eine flotte Landstraßenfahrt, bei der zirka 50 Prozent der Seitenkräfte genutzt werden. Das entspricht einer Schräglage von etwa 35 Grad. In dieser Position 10% könnten noch 85 Prozent der Umfangskräfte zum Bremsen oder Beschleunigen aktiviert 57° werden. Die roten Linien stehen für extreme Rennstreckenschräglage von 57 Grad, 99 Prozent Rennprofi der Seitenführung sind aufgebraucht. Für das Beschleunigen stehen nur noch zirka zehn Prozent an Umfangskräften zur Verfügung. Dank der Entwicklung enorm haftfähiger Gummimischungen hat sich die ursprünglich als physikalische Grenze angenommene Erdbeschleunigung (9,81 m/s²) nach oben verschoben. Nach der vereinfachten FahrRechtskurve physik können bei einem Reibbeiwert von 1,0 theoretisch 45 Grad Schräglage gefahren werden. Tatsächlich aber lassen sich mit griffigen Straßensportreifen 55 Grad realisieren. Noch doller beißen sich die Slicks der tollkühnen MotoGP-Piloten in den Asphalt, die knapp 60 Grad erreichen.

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Linkskurve

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FASZINATION SCHRÄGLAGE Wenn der Horizont verrutscht.

Applaus der Spezl in der berüchtigten Schattenkurve erstmals Kontakt zum Asphalt. Tags darauf lag die Suzi komplett zerknittert im Dreck und setzte damit ein warnendes Signal: Jungs, wenn ihr so weiterkachelt, endet das Spiel im Krankenhausoder auf dem „Neuen Friedhof“. Die Zeichen erkannt, wetzte die Clique ab sofort im Junioren-Pokal über die Rennstrecken. Mit Platz vier bei der Premiere ging’s gleich richtig zur Sache. Jepp, so ein Talent sollte man nicht vergeuden. Die Ernüchterung kam schneller als erwartet, die Herren Toni Mang, Gustav Rainer und Konsorten zogen mir den Zahn. Weltmeister? Ha, nie und nimmer. Aber die Lust an der Schräglage blieb. Immer und bei allen Gelegenheiten bog das Krad auf der letzten Rille ums Eck. Häufig endete der Schräglagenrausch mit Podest und Pokal, manchmal auch mit Schlüsselbeinbruch, Rippenfraktur, Totalschaden. Doch selbst im Tapeverband fanden

meine Mitstreiter und ich noch höchsten Gefallen am Schräglagenritt. Dreißig Jahre später hat sich an der Sucht nichts geändert. Wenn es im MOTORRAD-Top-Test in die Kreisbahn geht oder beim Reifentest die letzte Rille wartet, gibt’s kein Halten mehr: Knisternd zischt das Knie über den Asphalt, das Motorrad locker 50 Grad schräg zur Senkrechten, der Oberkörper zwei Handbreit überm Asphalt. Leichtes Erdbeben in der Front, hinten rubbelt sich der Reifen ans Limit, so schlingert die Fuhre im Grenzbereich daher. Jede Muskelfaser in Anspannung, jeder Nerv am Anschlag. Ein Drahtseilakt, bei dem das Adrenalin gleich literweise aus den Ohren sprudelt. Ufff – gestanden! Dem physikalischen Limit den Mittelfinger gezeigt, die Reifen komplett zerrieben – nur die Mädels stehen heute nicht mehr am Streckenrand. Schade.

Schräglagensüchtig: MOTORRAD-Redakteur Werner „Mini“ Koch.

1973 auf einer Suzuki T 250 mit dem Deutschen Meister Wolfgang Müller im Nacken.

Denselben Effekt hat in jüngerer Zeit bei Hobby-Rennfahrern das schleifende Knie, das, quasi als Stütze gedacht, die Suche nach dem wirklichen Grenzbereich subjektiv erleichtert. Hier gilt jedoch die klare Regel, dass dieser Fahrstil auf der Straße, wenn überhaupt, nur auf ganz wenigen, absolut übersichtlichen Strecken bei minimalstem Verkehrsaufkommen zum Einsatz kommen sollte. Bevor der Sportsmann aber allein mit künstlichen Verrenkungen das Knie auf den Asphalt kriegt

(siehe Foto Seite 77 oben), die Schräglage dabei trotzdem bescheiden bleibt, sollte er sich besser aufs flotte und präzise Kurvenfahren konzentrieren. Denn die Knie-Pads lassen sich auch am Bandschleifer in Form bringen.

Ein ganz entscheidender Punkt beim Balanceakt: die Körperspannung. Nicht zu

verwechseln mit einer ängstlichen Verkrampfung, verhilft eine sanfte, von den Fußballen bis zu den Nackenmuskeln führende Muskelspannung beim knackigen Schräglagen-Tango zu einem feinsinnigen Gespür für den Grenzbereich, weil dadurch die warnenden Signale von Reifen und Fahrwerk deutlicher beim Fahrer ankommen. Außerdem garantiert die konzentrierte Körperspannung eine schnellere Reaktionsfähigkeit bei blitzschnell notwendigen Kurs- oder Lenkkorrekturen.

Fahrtraining mit engagierten Instruktoren in der Kreisbahn gehört beim MOTORRAD action team (www.actionteam.de) zum Standardprogramm.

Nicht nur für Einsteiger geeignet: Der SpeerSchräglagentrainer (www.speer-racing.com) mit Stützrädern nimmt die Angst.

Die unbenutzte Reifenschulter, der so genannte „Angststreifen“, (Pfeil) lässt sich meist nur auf der Rennstrecke vollständig abrubbeln.

M

it siebzehn hat man noch Träume. Sagt man. Stimmt nicht, ich hatte sie genau ein Jahr vorher. Mit sechzehn. In der Schattenkurve, heute heißt das im Motorradfahrer-Jargon Büsnauer S. Doch Schattenkurve ist Vergangenheit, Schattenkurve war zu Zeiten der berühmten Solitude-Rennen vor den Toren Stuttgarts, als mir Knirps der legendäre Phil Read vor die Füße stürzte und ich umgehend beschloss, Motorrad-Rennfahrer zu werden. Mit sechzehn wollte ich nur eines: schräger fahren als die anderen. Und schneller. Zum einen machten solche Vorstellungen gehörigen Eindruck bei den Mädels, zum anderen war und ist Schräglage das Gefühl der absoluten Schwerelosigkeit. Doch ein geeignetes Übungsgelände gab’s leider nicht an jedem Eck. Ausgerechnet auf dem Parkplatz am „Neuen Friedhof“ fand sich ein feines Asphalt-Rondell mit Doppelkurve, Spitzkehre und genügend Auslauf. War die Trauergemeinde abgezogen, preschte die Moped-Gang stundenlang durchs Oval. Wahnsinn, wie schräg so ein 50erle ums Eck biegen konnte. Noch schräger ging’s mit der 250er-Suzuki zur Sache. Vorn Metzeler Rille 10, hinten Block C5, fand auch das Knie unter dem

74 MOTORRAD test + technik

Konzentrierte Körperspannung schärft die Sinne

10/2006

WIE ENTSTEHT GRIP? Warum sind viele Straßen im Frühjahr griffiger als im Herbst? Was ist Hysterese? Und was hat das Glasverhalten mit Haftung zu tun?

eschleunigen, Bremsen oder Kurvenfahren, der viel beschworene Grip, die Haftreibung zwischen Reifen und Straßenoberfläche, ist unverzichtbar. Damit diese Verbindung möglichst viel Kraft übertragen kann, ist es notwendig, dass sich das mehr oder weniger weiche Gummi in den mehr oder weniger tiefen Poren des Asphalts verzahnen kann. Dazu stehen beim Motorrad allerdings nur geringe Auflageflächen zur Verfügung, da die Reifenbreite durch bestimmte physikalische Faktoren begrenzt ist (siehe Kasten Seite 78). Klares Ziel bei der Reifenentwicklung: eine möglichst gute Haftung bei nasser wie trockener Fahrbahn und das bei möglichst allen Temperaturbereichen und Straßenbelägen. Moderne Gummimischungen sind so entwickelt, dass sie auch bei niedrigen Temperaturen eine sichere Radführung garantieren. Denn wäre die Gummimischung bei Kälte zu hart und spröde, man spricht von Glasverhalten, könnten sich die kleinen Spitzen des Asphalts, Im rauen Rennstreckenbelag können sich weiche Gummimischungen bestens verzahnen. Zudem sickert bei Nässe das Wasser in die Vertiefungen. Auch der griffige Landstraßenasphalt garantiert durch die Mikrorauigkeit einen Reibbeiwert von bis zu 0,9. Der glatte Landstraßenasphalt mit den rund polierten Steinen bringt es nur auf etwa 0,7 und ist bei Regen mit Vorsicht zu genießen. Extrem glatte Beläge mit einem Reibbeiwert von weniger als 0,2 kommen im Straßenbau nur in Form von lackiertem oder mit Kunststoff überzogenem Asphalt (Fahrbahnmarkierungen, Curbs auf der Rennstrecke) vor. Bei Nässe können diese fast so rutschig wie Eis werden.

dessen Mikrorauigkeit, nicht mit dem Gummi verzahnen, die Haftung ist dann miserabel. Erst wenn der Reifengummi warm, somit visko-elastisch wird und sein Gummiverhalten erreicht, klappt es auch mit der Verzahnung, weil sich die Asphaltspitzen tief in das Gummi bohren. Richtig griffig wird der Reifen jedoch erst, wenn er mit leichtem Schlupf, also einem minimalen Durchrutschen über die Verzahnung im Asphalt gleitet. Dabei verformt sich das Gummi unter der Last von Mensch und Maschine sowie Umfangs- und Seitenkräften, seine ursprüngliche Form nimmt es nur verzögert wieder an. Man spricht dann von der GummiHysterese. Nix verstehen? Ist auch ein höchst komplizierter Vorgang, der verständlicher wird, wenn man den Daumennagel in einen warmen Renn- oder Sportreifen drückt und das Gummi den Abdruck des Nagels noch eine gewisse Zeit beibehält – das ist in groben Zügen die Wirkung der ominösen GummiHysterese. Womit wir zum Gegenstück des Reifengummis kommen, der Straßenoberfläche. Je nach

Rennstrecke

Makrorau und mikrorau glatte Landstraße

Makrorau und mikroglatt

Makrorauigkeit

76 MOTORRAD test + technik

griffige Landstraße SO SCHRÄG GEHT’S

Mikrorauigkeit

Bei zu niedrigen Reifentemperaturen befindet sich das kalte Gummi (blau) im Bereich des Glasverhaltens, ist folglich zu hart, um sich mit der rauen Oberfläche zu verzahnen. Erst mit steigender Temperatur nimmt die warme Lauffläche (rot) das Gummiverhalten wieder an und bildet einen nahezu formschlüssigen Kontakt zur Straße.

Inhaltsstoffen weist der Reibpartner Asphalt einen mehr oder weniger guten Reibbeiwert auf, der als „µ“ (sprich „Mü“) bezeichnet wird und in unten stehender Tabelle den jeweiligen Straßenbelägen und der theoretisch möglichen Maximal-Schräglage zugeordnet ist. Ach so, warum der Grip auf Landstraßen im Frühjahr besser ist als im Herbst? Weil über den Winter die kleinen Wassereinschlüsse in der Straßenoberfläche, speziell in den runden Steinchen, durch den Frost aufbrechen und feine Spitzen ausbilden, die Mikrorauigkeit (siehe Fotos unten). Sind Salz, Staub und die sandigen abgesprengten Partikel erst einmal gründlich ausgespült, können sich die Reifen in diesen aufgerauten Oberflächen sehr effizient verzahnen. Leider polieren die Autoreifen auf viel befahren Kurvenstraßen, beispielsweise den Alpenpässen, diese Spitzen im Lauf des Sommers wieder glatt, was den Grip speziell bei Nässe oder kalten Reifen verschlechtert.

Seitenkraft

Makroglatt und mikrorau extrem glatter Belag

Re ibb mö eiwe r lag glich t e ( eS Gra chr d) äg-

B

Asphalt rau 1,2 Asphalt normal 0,9 Asphalt glatt 0,7 Kopfsteinpflaster 0,5 Nasser Staub 0,3 Eis 0,08

56 52 44 33 22 7

Makroglatt und mikroglatt

Die so genannte Mikrorauigkeit (rot), deren Rautiefe zwischen 0,001 und 0,1 Millimetern liegen kann, verbessert die Haftung speziell bei Nässe entscheidend, während die Makrorauigkeit (grün) im Bereich zwischen 0,1 und 10 Millimetern angesiedelt ist und überwiegend die grobe Verzahnung bei trockener Straße verbessert.

Seitenkraft

Die Reifenaufstandsfläche, der so genannte Latsch, stellt in Schräglage den Kontakt zwischen Straße und Motorrad her. Die Skizze zeigt einen 180erSportreifen mit spitzer Reifenkontur in 48 Grad Schräglage. Aus etwa 38 cm2 Kontaktfläche ergibt sich die Seitenführungskraft. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass meist nur der kleinere Teil dieser Fläche direkten Bodenkontakt hat.

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So wird’s nix. Wer nur mit Akrobatik das Knie auf den Asphalt bekommt, ist nicht echt schnell. Bei solch verkrampften Aktionen gilt die Konzentration dem schleifenden Knie-Pad und nicht der Kurvengeschwindigkeit. Merke: Nicht das Knie muss zum Asphalt – sondern der Asphalt zum Knie. Nur ordentlicher Kurvenspeed mit sauberer Linie kann Grundlage für tiefe Schräglagen sein.

Wer locker entspannt, mit leicht abgespreiztem kurveninneren Knie und sanftem Hanging-off durch die Kurven surft, ist schneller und bestimmt sicherer und kommt damit automatisch dem schleifenden Knie näher. Allerdings braucht es diese Nummer für die zügige Landstraßenfahrt nicht wirklich. Und beim Herumturnen kann es schon mal passieren, dass man außenrum vom Klapphelm-Fahrer abgebürstet wird.

Wer seinem Talent auf der Rennstrecke freien Lauf lässt, darf getrost mit dem Knie schraddeln. Sich dabei mit leichter Körperspannung so neben das Motorrad hängen, dass der kurvenäußere Arm und der Oberkörper am Tank anliegen, was den Kontakt zum Motorrad und die Rückmeldung verbessert. Dabei sollten die Arme locker den Lenker greifen und der Knieschleifer nur zart über den Asphalt sausen. Durch die Schwerpunktverlagerung zum Kurveninneren spart man ein paar Grad an Fahrzeug-Schräglage.

Ein Indiz, dass in Sachen Schräglage noch was geht, ist der allseits bekannte Angststreifen auf den äußersten Reifenkanten. Je breiter, desto peinlicher empfinden manche Motorradfahrer den jungfräulichen Gummistreifen. Denn geht es nach der Stammtisch-Fraktion, zeugt das von mangelndem Fahrkönnen und tranfunzeligem „Kurvenzuparken“. In Wirklichkeit bleibt der Restgummi bei zügiger Landstraßenpartie deshalb unberührt, weil die Reifenkonstrukteure speziell am Vorderreifen eine Kontur wählen, die den profilierten Anteil des Reifens so weit krümmt, dass er bei maximal möglicher Schräglage auf optimal griffigem Asphalt mit einem Reibbeiwert bis zu 1,2 noch genügend Auflagefläche in Reserve hat (siehe auch Kasten linke Seite). Da auf Landstraßen je nach Belag zwar gute Asphaltstrukturen mit einem Reibbeiwert von 0,8 bis 1,0, aber nur seltenst rennstreckenähnliche Beläge anzutreffen sind, bleiben auch bei den MOTORRADTestern nach der obligatorischen Testrunde oft ein paar Millimeter des Angststreifens übrig. Abgesehen von der Griffigkeit des Belags gibt’s dafür einen einfachen Grund: Auf der Landstraße sollte stets noch eine Portion Grip für einen Bremsvorgang in Schräglage vorhanden sein. Diese Reserve schließt es aus, die maximal mögliche www.motorradonline.de

Haftung zu einhundert Prozent in Schräglage umzumünzen. Bevor wir uns nun in verwirrenden, schriftlichen physikalischen Erklärungen verstricken, nehmen wir zur Erklärung den berühmten Kammschen Kreis zu Hilfe, der die komplizierte Thematik von Seitenund Umfangskräften anschaulich auflöst (siehe Skizze Seite 72). Die Angststreifen verschwinden bei den MOTORRAD-Testfahrern erst im Slalom-Parcours oder in der Kreisbahn, wenn Handling und Kurvenverhalten unter optimalen Bedingungen und auf der letzten Rille ausgefahren werden. Dabei pilotieren die Testfahrer die Motorräder mit möglichst geringen Umfangskräften in maximaler Schräglage. Es gehört eine Menge Erfahrung dazu, derart dosiert Gas zu geben, dass die Maschine im Slalom oder in der Kreisbahn konstant schnell fährt. Aber nur so sind die Umfangskräfte niedrig genug, um die maximale Schräglage überhaupt erreichen zu können. Doppelte Geschwindigkeit gleich doppelte Schräglage? Von wegen Maximal engagierte Motorradfahrer mit gewissen Wettkampfambitionen spüren den richtigen Kick erst, wenn sich die rasante Fahrt bereits im physikalischen Grenzbe-

reich abspielt und man dem Asphalt näher ist als dem Himmel. Für diese Gratwanderung jenseits der magischen 45-GradGrenze (siehe Seite 72 unten) müssen alle Sinne bestens geschult und trainiert sein. Wer glaubt, die Fahrt auf der letzten Rille einfach aus dem Handgelenk schütteln zu können, ist dem Asphalt noch viel näher, als er denkt. Und wenn’s beim Sturz dumm läuft, auch der Hölle. Wer den Tanz auf Messers Schneide wagt, kommt um ein intensives Schräglagen-Training nicht herum. Denn die Grenze zwischen sicherer Kurvenfahrt und waghalsigem Ritt kann nur derjenige beurteilen, der sich bewusst dem Limit genähert hat und das Gefühl kennt, wenn die Reifen langsam aber sicher von souveräner Haftreibung in den heiklen Schlupfbereich übergehen. Zumal beim tollkühnen Heizen meist der schmale Vorderrad-Pneu zuerst die Haftung verliert. Dann untersteuert das Motorrad schlagartig, beschreibt einen zu großen Radius und kippt letztlich schlicht und ergreifend zur Innenseite um. Solche

Vorderradrutscher in maximaler Schräglage abzufangen verlangen nach einem blitzschnellen Ausbalancieren durch den Oberkörper und einem zur Kurveninnenseite korrigierten Lenkeinschlag. Ganz anders bei einem Gripverlust am Hinterrad, bei dem durch Gegenlenken das Übersteuern ausgeglichen wird. Weil sich der Kurvenradius verkleinert, sobald das Hinterrad wieder Fuß fast, kann sich das Motorrad aufrichten und fädelt sich mit etwas Glück selbständig und sturzfrei in der Fahrspur ein. Krallt sich der Reifen nach dem Rutscher allerdings abrupt im Asphalt fest, entlädt sich die im dann stark eingefederten Stoßdämpfer gespeicherte Energie schlagartig und schießt Ross mitsamt Reiter in eine bedrohlich hohe Umlaufbahn. Highsider nennt sich diese wüste Art zu stürzen und endet häufig mit einem gebrochenen Schlüsselbein – oder mehr. Neben der Gratwanderung an der Rutschgrenze unterliegt die rasante Kurvenfahrt einer weiteren, für den Menschen lediglich schwer nachvollziehbaren physi-

kalischen Grundregel dynamischer Massenkräfte. Die wachsen nämlich nicht linear, sondern im Quadrat zur Geschwindigkeit an. Anhand des Diagramms auf Seite 80 und eines kleinen Beispiels wird der Zusammenhang etwas verständlicher: Bei einer Verdoppelung der Kurvengeschwindigkeit in der MOTORRAD-Kreisbahn (46 Meter Durchmesser) von 20 auf 40 km/h erhöht sich die Schräglage nicht linear von 10 auf 20 Grad, sondern auf 32 Grad. Ein Teil der progressiven Steigerung geht auf das Konto der genutzten Reifenbreite und der Höhe des Schwerpunkts von Motorrad und Fahrer. E n tla rv:D a s M ärc h e n v o m ög lic h s te fn S c h w e rp u n k t Hinter der scheinbar lässig dahergezauberten Schräglage stecken also unzählige physikalische Geheimnisse, die es lohnt, genauer genauer studiert zu werden (siehe Kasten unten). Denn so faszinierend wie der schräge Kurvenritt selbst, so spannend

REIFENBREITE UND SCHWERPUNKTLAGE Beide Faktoren wirken sich auf die tatsächlich notwendige Schräglage aus.

D re iM o tra d typ e n im e V rg le ic h .A le d re iM a s c h in eb n ötig e n a u f d e r4 6 -M e tr-K re is b a h n b e i50 k m / h d ie g lic h efe k tive S c h räg la e vo n 4 0 ,5 G ra d ,ie F a h rze u g s c h räg la e is tje d o c h s e ru n te rs c h ie d lc h .

S c h w e rp u n k t E fe k tive rfo d e rlic h e S c h räg la e 4 0 ,5 G ra d F a h rze u g s c h räg la e

45°

4 5G ra d S c h räg la e

4 7 G ra d S c h räg la e

Die Skizze zeigt eine 125er mit einem 130 Millimeter breiten Hinterreifen. Der Schwerpunkt aus Fahrer- und Maschinengewicht liegt mit 650 Millimetern relativ weit oben, da der hoch sitzende Pilot rund ein Drittel der Gesamtmasse ausmacht. Weil sich die Reifenaufstandsfläche nur zirka 55 Millimeter aus der Längsachse verlagern kann, benötigt die 125er 4,5 Grad mehr als die effektiv notwendige Schräglage von 40,5 Grad, die die Reifenbreite nicht berücksichtigt und von einer mittigen Aufstandsfläche ausgeht, dargestellt von der gestrichelten Linie.

78 MOTORRAD test + technik

4 7 °

53°

d S c h räg la e 53 G ra Das moderne Sportmotorrad mit 180er-Hinterreifen und einer Schwerpunkthöhe von rund 600 Millimeten. Die Aufstandsfläche kann sich bis zu 80 Millimeter aus der Längsachse verschieben, was eine zusätzliche Neigung zur effektiv notwendigen Schräglage von rund sieben Grad erfordert. Je höher der Schwerpunkt, desto weniger Schräglage muss bei gleicher Geschwindigkeit gefahren werden, was auch der Handlichkeit zugute kommt. Dies ist mit ein Grund, warum bei den Rennmaschinen der Schwerpunkt bis zu etwa 150 Millimetern höher liegt als bei Straßenmotorrädern.

Die fahrdynamische Katastrophe: ein ExtremChopper auf fettem 240er-Hinterreifen, bei dem sich die Aufstandsfläche gut 110 Millimeter verschieben kann, dazu ein enorm abgesenkter Schwerpunkt, bedingt durch die flache Bauweise, den weit unten platzierten Motor und den tief in der Sitzmulde kauernden Fahrer. Diese Faktoren treiben in Kombination die erforderliche Fahrzeugschräglage in abenteuerliche Dimensionen. In der Praxis verheddern sich jedoch bei solchen Motorrädern schon bei zarter Kurvenfahrt die exponierten Bauteile wie Fußrasten im Asphalt.

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TOP-TEST

Yamaha YZF-R1 Suzuki GSX-R 750 KTM 990 Superduke* Triumph Speed Triple Suzuki GS 500 E* Buell Ulysses* KTM 640 LC4 Enduro BMW R 1100 S* BMW R 1200 GS* Yamaha FJR 1300* Yamaha BT 1100* Harley-Davidson VRSCA V-Rod* Honda Gold Wing* Suzuki VTX 1800*

Ge s kei chwi t (k nd Sc m/h)ighrä (Gr gla ad) ge

sind auch die technischen Zusammenhänge, die bereits bei der Grundkonstruktion jedes Motorradtyps berücksichtigt werden müssen. Die wohl wichtigsten Bestandteile für eine fesche Kurvenfahrt liegen in der richtigen Linienwahl und dem Kurvenradius, beides wurde in Teil zwei dieser Serie in MOTORRAD 8/2006 ausführlich abgehandelt. Im Zusammenspiel mit der gewählten Geschwindigkeit ergibt sich die Zentrifugalkraft, die am Auf-

58 56 55 55 55 54 54 53 51 50 48 46 45 40

53 52 51 51 50 50 46 49 45 46 43 44 42 38

Die MOTORRADKreisbahn mit 46 Meter Durchmesser gibt Auskunft über die mögliche Kurvengeschwindigkeit jeder Maschine. Aus der ungefähren Schwerpunktlage und der tatsächlich genutzten Reifenbreite lässt sich zudem die Fahrzeugschräglage auf etwa ein Grad genau errechnen. Die mit einem Stern markierten Maschinen setzten vor Erreichen der Haftgrenze auf.

Wie alle Supersportler fegt die Suzuki GSX-R 750 superstabil und mit berechenbarem Grenzbereich um den Kreisel, scharrt dabei zart, aber harmlos mit den angeschraubten Angstnippeln. Die GSX-R 750 fängt zuerst an, übers Vorderrad zu rutschen, und zieht dabei gut sichtbare schwarze Streifen.

Das rasende Wohnzimmer, die Honda Gold Wing, schafft es mit engagiertem Körpereinsatz immerhin auf 45 km/h und rund 42 Grad Schräglage, bevor die Fußabstreifer Funken sprühen. Was der Fahrer dank der Stereoanlage großzügig überhört.

Schmale Reifen und hoher Schwerpunkt sind die Gründe dafür, dass die KTM LC4 für ihre 54 km/h nur 46 Grad Schräglage benötigt. Die grob profilierten Pneus quittieren den flotten Ritt mit einem sauberen Drift und akkurat hingezirkelten schwarzen Streifen.

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30 20

Sportreifen Rennreifen Schräglage

10 0

0 10 20 Geschwindigkeit (km/h)

standspunkt der Pneus als Seitenkraft wirkt. Darüber, wie hoch diese ausfallen kann, ohne dass die Maschine seitlich wegrutscht, entscheidet die Seitenführung, also die Reifenhaftung oder der viel beschworene Grip. Wie diese Haftung zustande kommt, ist im Kasten auf Seite 76 ausführlich beschrieben. Ein weiterer, ganz banaler Faktor ist die Schräglagenfreiheit der jeweiligen Maschine. Während moderne Sportler so konstruiert sind, dass selbst auf der Rennpiste nur noch die in den Fußrasten verschraubten „Angstnippel“ über den Asphalt funken, ist bei Touren- und Allroundmotorrädern die Schräglagenfreiheit oft begrenzt. Von tiefergelegten Choppern und Cruisern ganz

30

40

50

Grenzbereich Rennstrecke

Schräglage (Grad)

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Grenzbereich Rennstrecke

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Grenzbereich Straße trocken

SCHRÄGLAGE UND GESCHWINDIGKEIT

Grenzbereich Straße nass

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zu schweigen, denn diese Gattung leidet außerdem häufig unter extrem breitem Hinterrad-Schlappen und enorm tiefem Schwerpunkt. Eine zu tiefe Anordnung der Massen kostet, entgegen der landläufigen Meinung, Handlichkeit, Kurvenspeed und Haftung beim Beschleunigen aus Schräglage. Liegt der Schwerpunkt zu hoch, verschlechtern sich Fahr- und Bremsstabilität. Sind Seitenständer, Fußrasten oder gar Motorblock und Auspufftopf zu tief platziert, verhindert dies, dass die Maschine bei rasanter Fahrt noch mehr Schräglage aufnehmen kann, obwohl die Reifen deutliche Haftungsreserven bereithalten würden. Die Konsequenz: Der Kurvenradius kann im Ernstfall nicht eng genug gezogen wer-

Durch das Chassis-Programm von 2D geben die MOTORRAD-Messfahrten auf Landstraßen, Rennstrecken, und bei Nässe (Foto oben) Auskunft über die tatsächlich möglichen Fahrzeug-Schräglagen auf unterschiedlichen Straßenbelägen. Als Grundlage für das Schräglagen-Diagramm links dient die MOTORRAD-Kreisbahn mit 46 Meter Durchmesser. Die Angaben der Maximalwerte mit Rennreifen entstammen den Angaben der Reifenhersteller. Die Redaktion MOTORRAD möchte jedoch nachdrücklich darauf hinweisen, dass diese Information nicht als Anleitung zum riskanten Selbstversuch dienen soll.

den, was womöglich auf der Gegenfahrbahn oder im Graben endet. Wie stark Bodenfreiheit, Bereifung und Schwerpunktlage Einfluss auf die tatsächlich mögliche Kurvengeschwindigkeit und Schräglage nehmen, demonstriert die Tabelle auf Seite 79, auf der 14 unterschiedliche Maschinentypen von Supersportler Yamaha YZF-R1 bis zum Touren-Dickschiff Honda Gold Wing durch die MOTORRAD-Kreisbahn gejagt wurden. Doch obwohl diese Übung unglaubliche Unterschiede in der Kurven-Performance ans Tageslicht bringt, genießt jeder die Faszination Schräglage, egal, ob auf einer fetten Gold Wing oder brüllenden Rennsemmel.

Auch in der nächsten Folge spielen Schwerpunkt und Reifenhaftung eine wichtige Rolle. Noch mehr allerdings sind die Feinmotorik und Reaktionsschnelligkeit des Fahrers gefragt, wenn es heißt, mit kreischenden Reifen richtig und sicher zu bremsen. Alle Tipps, Tricks und die Technikhintergründe in MOTORRAD 14/2006

Dem Gesichtsausdruck des Fahrers ist zu entnehmen, dass er noch nicht registriert hat, dass die rasante Kurvenfahrt jetzt zu Ende geht. Dieser Sturz übers Vorderrad ließe sich auch nicht mehr mit viel Glück abfangen, weil die untersteuernde Front einen zu großen Radius beschreibt und der Gesamtschwerpunkt nach innen kippt. Dafür gehen solche Abflüge meist glimpflich ab, da sich das Motorrad nicht aufstellt und der Sturzpilot im flachen Winkel auf der Fahrbahn landet. Wie bei allen Stürzen gilt: Erst aufstehen, wenn man zum Stillstand gekommen ist, sich schnell orientieren und dann unter Berücksichtigung des Verkehrs nix wie runter von der Fahrbahn.

80 MOTORRAD test + technik

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DIE HÄUFIGSTEN FEHLER Damit beim fetzigen Kurvenritt nichts daneben geht, hier die wichtigsten Tipps und Tricks.

U

nd ewig lockt die Kurve. Wenn’s 2,5 Kilometer (Bild 1) drunter und drüber geht, will man nichts versäumen. Das führt dazu – und da macht der Autor keine Ausnahme –, dass man den Bürgerkäfig vor sich ruck, zuck noch vor der ersten Biegung in aller Dringlichkeit überholen möchte. Also presst man sich irgendwie, obwohl’s eigentlich nicht mehr geht, am Automobil vorbei. Falsch, völlig falsch. Schon deshalb, weil auf kurvigen Strecken bekanntermaßen gerne der schräglagensüchtige Kradfahrer seine Kreise zieht. Und der ist schneller da, als man glaubt. Bester Schutz vor überstürzten Überhol-Attacken: Stell dir vor, du kommst dir auf der Kurvenstrecke selbst entgegen – alles klar? Die bessere Lösung: kurz rechts ranfahren, ein kleines Päuschen, und schon lässt es sich mit Genuss und ohne Risiko über die Kurvenpiste surfen. Es wippt und schunkelt wie nachts um zehn auf dem Oktoberfest. Weil man sich an das Gegautsche aber schon richtig gewöhnt hat, nimmt man es mit Gelassenheit hin. Doch lustiges Schunkeln ist bei der zügigen und sicheren Schräglagenfahrt fehl am Platz, weshalb man undichte Telegabeln oder Stoßdämpfer (Bild 2) zwingend in der Werkstatt überarbeiten oder ersetzen lassen sollte. Denn eine unzureichende Dämpfung kann die Reifenhaftung selbst auf ebenem Asphalt dramatisch verschlechtern. Kommen noch Bodenwellen oder kurze, harte Querrillen ins Spiel, können die Räder regelrecht aus der Spur trampeln. Solch kapriziöse Überraschungen enden nicht selten im Krankenhaus. Wenn manche Kurvenräuber im metallischen Funkenflug um die Applauskurve preschen, treibt dies eventuell die B-Note nach oben, wenn’s dumm läuft aber Ross und Reiter zu Boden. Speziell massive Bauteile wie Rahmen, Motorblock oder Krümmeranlage (Bild 3) können die Fuhre gnadenlos aushebeln, wobei der Grip oft schlagartig abreißt. Lassen sich solche Probleme nicht mit einer geänderten Fahrwerkseinstellung aus der Welt schaffen (Federn mehr vorspannen, Druckstufendämp-

fung erhöhen), bleibt nichts anderes übrig, als sich mit moderater Schräglage zufrieden zu geben. Dass nur griffige Pellen knackige Schräglagen zulassen, hat sich herumgesprochen. Wie griffig die jeweiligen Reifentypen tatsächlich sind, steht in den Reifentests von MOTORRAD. Dabei ist zu beachten, dass Reifen mit abnehmendem Profil auch in der Haftung abbauen können. Das liegt zum einen daran, dass sich die Lauffläche stärker verformt und somit der Latsch (siehe Seite 76 unten) ungünstiger ausfällt, zum anderen an der Tatsache, dass für die Haftung wichtige Bestandteile des Gummis ausgasen, wodurch die Elastizität und der Verzahnungseffekt nachlassen, Stichwort Hysterese (siehe Seite 76). Womit der Übergang von der aktiven zur passiven Sicherheit eingeleitet ist. Denn wenn Hysterese, Ideallinie und perfektionierter Fahrstil am Ende sind, liegt die Maschine eben im Dreck. Was an sich schon schlimm genug ist. Damit der Mensch bei solchen Aktionen möglichst ungeschoren davonkommt, sollte er seine Haut durch eine zweite schützen. Und da ist, Bequemlichkeit hin oder her, die klassische Lederkombi, ausstaffiert mit wirkungsvollen Protektoren, immer noch die beste Lösung (Bild 4). Nein, wir wollen nicht den Herrn Oberlehrer spielen, weil wir selbst gelegentlich die saloppe Lederjacke/Jeans/ Stiefel-Kombination für die Fahrt ums nächste Hauseck bevorzugen. Auf der bewusst flotten Ausfahrt indes, womöglich mit Ziel Kurvenparadies, haben Jeans nichts zu suchen – auch im heißesten Sommer nicht. Alle weiteren Punkte zur sicheren und spaßigen Kurvenfahrt sind bereits im ersten und zweiten Teil (MOTORRAD 6 und 8/2006) aufgeführt worden. Dazu gehören das technische Grundwissen über Lenkimpulse, die richtige Blickführung sowie die perfekte Linienwahl und das Erkennen der klassischen Gefahrenstellen im Kurvenrevier. Wer diese Teile versäumt hat, sich jedoch brennend dafür interessiert, kann die Hefte natürlich nachbestellen. Ganz einfach anrufen (0711/182-12 29) oder per E-Mail an [email protected] ordern.

Bild 1

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Perfekt fahren mit

ÜBER AL LE

Teil 4: Fahr en mit Gepäck

BERGE TEIL 1 IN MOTORRAD 6/2006 KURVENFAHREN, DIE THEORIE

TEIL 2 IN MOTORRAD 8/2006 KURVENFAHREN, DIE PRAXIS

TEIL 3 IN MOTORRAD 10/2006 FASZINATION SCHRÄGLAGE

TEIL 4 IN DIESEM HEFT FAHREN MIT GEPÄCK

TEIL 5 IN MOTORRAD 18/2006 EFFEKTIVES BREMSEN

TEIL 6 IN MOTORRAD 20/2006 FAHREN IN DER STADT

TEIL 7 IN MOTORRAD 22/2006 FAHREN BEI REGEN

58 MOTORRAD service

16/2006

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Sommerzeit, Reisezeit. Egal, ob Drei-Tages-Ritt durch die Dolomiten oder die mehrwöchige Exkursion zum Nordkap, die jährliche Motorradtour ist und bleibt der abenteuerliche Höhepunkt der Saison. Wer vorher clever plant, wird später von nervigen Pannen verschont. Die Tipps und Tricks von MOTORRAD helfen beim Packen, Fahren, Vorbereiten. Motto: Urlaub von Anfang an. Von Werner Koch; Fotos: fact, Koch; Zeichnungen: Wolfgang Müller

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ugo ist der Straps gerissen. Hugo reißt immer der Straps. Und zwar immer dann, wenn er es besonders eilig hat. Zum Beispiel jetzt, frühmorgens um sechs, wenn die ganze Clique zur Abfahrt parat steht. Da Hugos Gepäck-Strapse von der ganz billigen Sorte sind, hat er sich, ganz pfiffig, gleich zwei Strapse zugelegt. Einen zum gleich abreißen – und den zweiten beim Tankstopp. Seemännisch verknotet, zurrt das Gummiband das Gepäck notdürftig übers Krad, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann Hugos neckische Banani-Slips im Geäst des Mittelstreifens zerfleddern. Egal, Hauptsache, die Strapse waren billig. Hat die lustige Reisegesellschaft auch nur einen Hugo in ihren Reihen, wird der Ausflug zum Desaster. Weshalb Hugo schon lange Jahre allein fährt. Die restliche Truppe transportiert Gepäck und Utensilien längst mit teuren, aber reißfesten Strapsen, wenn nicht gar mit einem soliden Gepäcksystem. Womit wir die Diskussion, ob Packtaschen, Tankrucksack oder Gepäckrolle erst gar nicht entfachen wollen. Hauptsache keine billigen Strapse. Der Rest regelt sich nach Anspruch und Reisedauer. MOTORRAD service 59

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Teil 4: Fahr en mit Gepäck

BERGE TEIL 1 IN MOTORRAD 6/2006 KURVENFAHREN, DIE THEORIE

TEIL 2 IN MOTORRAD 8/2006 KURVENFAHREN, DIE PRAXIS

TEIL 3 IN MOTORRAD 10/2006 FASZINATION SCHRÄGLAGE

TEIL 4 IN DIESEM HEFT FAHREN MIT GEPÄCK

TEIL 5 IN MOTORRAD 18/2006 EFFEKTIVES BREMSEN

TEIL 6 IN MOTORRAD 20/2006 FAHREN IN DER STADT

TEIL 7 IN MOTORRAD 22/2006 FAHREN BEI REGEN

58 MOTORRAD service

16/2006

www.motorradonline.de

Sommerzeit, Reisezeit. Egal, ob Drei-Tages-Ritt durch die Dolomiten oder die mehrwöchige Exkursion zum Nordkap, die jährliche Motorradtour ist und bleibt der abenteuerliche Höhepunkt der Saison. Wer vorher clever plant, wird später von nervigen Pannen verschont. Die Tipps und Tricks von MOTORRAD helfen beim Packen, Fahren, Vorbereiten. Motto: Urlaub von Anfang an. Von Werner Koch; Fotos: fact, Koch; Zeichnungen: Wolfgang Müller

H

ugo ist der Straps gerissen. Hugo reißt immer der Straps. Und zwar immer dann, wenn er es besonders eilig hat. Zum Beispiel jetzt, frühmorgens um sechs, wenn die ganze Clique zur Abfahrt parat steht. Da Hugos Gepäck-Strapse von der ganz billigen Sorte sind, hat er sich, ganz pfiffig, gleich zwei Strapse zugelegt. Einen zum gleich abreißen – und den zweiten beim Tankstopp. Seemännisch verknotet, zurrt das Gummiband das Gepäck notdürftig übers Krad, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann Hugos neckische Banani-Slips im Geäst des Mittelstreifens zerfleddern. Egal, Hauptsache, die Strapse waren billig. Hat die lustige Reisegesellschaft auch nur einen Hugo in ihren Reihen, wird der Ausflug zum Desaster. Weshalb Hugo schon lange Jahre allein fährt. Die restliche Truppe transportiert Gepäck und Utensilien längst mit teuren, aber reißfesten Strapsen, wenn nicht gar mit einem soliden Gepäcksystem. Womit wir die Diskussion, ob Packtaschen, Tankrucksack oder Gepäckrolle erst gar nicht entfachen wollen. Hauptsache keine billigen Strapse. Der Rest regelt sich nach Anspruch und Reisedauer. MOTORRAD service 59

Seite 60

Planung ist der halbe Urlaub: Wenn Blechlawinen in den Urlaub rollen, wählen pfiffige Motorrad-Touristen für ihre Reiseroute besser das kurvige Gefilde.

Planungsphase Nummer eins: wie viele Kilometer am Tag? Bei Solisten ist der Gedanke schnell zu Ende gebracht, in der Gruppe hingegen werden einige Kneipenabende notwendig

sein, um die gemeinsame Route und die Länge der Tour festzulegen. Ganz wichtig dabei: Das schwächste Glied gibt die Tagesetappen vor. Es ist nicht nur extrem stressig, sondern brandgefährlich, Motorradfahrer mit wenig Übung über vier-

hundert oder mehr Landstraßenkilometer pro Tag zu hetzen. Deshalb die Reisetage so großzügig einteilen, dass keine Panik entsteht, wenn man in Verzug kommt. Mieses Wetter, Pannen, Übermüdung – alles ist möglich.

SCHWERPUNKTLAGE UND LENKGEOMETRIE Bei hoher Zuladung verändern sich mit der Balance auch die Fahreigenschaften.

nicht weiter, kann die Serieneinstellung (zum Beispiel 16 Klicks offen) auf den halben Wert (acht Klicks) verändert und das Fahrverhalten/Komfort auf bekannter Strecke ausprobiert werden. Auch die Zugstufe kann, etwas zugedreht, mit einer cremigen Ausfederdämpfung für Ruhe sorgen. Die Messwerte der Bandit 1200 beweisen, dass kaum mehr als 40 Millimeter für die Stoßabsorbtion zur Verfügung stehen. Durch dieses extreme Ein-

S3 S2

S1 S1

Schwerpunkt Achslast vorn kg hinten kg Lenkkopfwinkel Grad Negativfederweg vorn mm hinten mm

S1

S2

S3

118 151 116 174 65,5 64,0

156 270 62,0

30 5

40 35

Druckstufeneinstellung

45 78

hin oder her. Schließlich ist man ja auf Urlaubstour. Gegen Nachmittag kommt der menschliche Organismus dann wieder in Schwung, vorausgesetzt, man hat die Zeit zur Ruhe genutzt und nicht im hektischen Palaver vergeudet. Planungsphase Nummer zwei: die Strecke selbst Diesbezüglich rät die Redaktion geschlossen dazu, den Motorrad-Urlaub tatsächlich als solchen zu genießen. Und zwar von Anfang an. Nichts trifft die Sache besser als die abgelutschte Phrase vom Weg, der auch das Ziel ist. Natürlich wollen wir hurtig der gewohnten Umgebung entschwinden. Doch mit dem Motorrad erschließen sich im Gegensatz zum Automobil völlig neue Wege. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Vom angestrebten Urlaubsort magisch angezogen, lassen wir häufig in ereignisloser Autobahn-Monotonie die kurvigsten Gefilde links liegen, anstatt durch intensives Landkartenstudium die Route so zu kombinieren, dass wir auf oftmals traumhaften Nebenstrecken flott vorankommen. Wer die endlosen Mittelgebirge der Republik wie Eifel, Harz, Hunsrück, die Rhön oder den Bayerischen Wald abseits rast-

90

loser und verstopfter Autobahnen erklommen hat, weiß Bescheid. Wer nicht, sollte sich schlau machen. Mittels übersichtlicher Landkarten, zum Beispiel den erstklassigen MOTORRAD-Exemplaren von Mairs Geographischem Verlag im Maßstab 1:200 000, lassen sich die kurvigsten Reviere querbeet zusammenpuzzeln. Keine Zeit dafür? Keine Zeit! Für elegantes Kurvenswingen? Für traumhafte Landschaften? Für rustikale Landgasthöfe? Für richtig geiles Motorradfahren? Weil Zeit immer relativ ist, ein kleines Beispiel. Wer von Stuttgart in Richtung Schweizer Alpen/Italien rauscht, kann auf der überlasteten Autobahn über Ulm und Memmingen die teuren Reifen eckig fahren und für drei Euro fuffzich eine latschige Käsesemmel am Rasthof verdrücken. Eine Stunde und 42 Minuten bei zirka Tempo 130 (Durchschnitt 113 km/h) zeigt das GPS für den gähnend langweiligen Ritt. Nur 40 Minuten länger (Durchschnitt 72 km/h) dauert die Sause über die zerklüfteten Landschaften der Schwäbischen Alb und die anschließende Kurvenachterbahn durchs sattgrüne Allgäu. Die Reifen rundum aufgerubbelt, geht das knackig schräge Motorradvergnügen nahtlos und auf kürzestem Weg an der österreichischen Grenze bei Bregenz weiter. Uff, den

FEDERHUB UND VORSPANNUNG (LINEARE FEDER)

80 70 60 50 40 30 20 10 0

2

Diagramm Federbasis 1

Vorspannung 20 mm Vorspannung 10 mm

0 100 200 300 400 500 Federkfraft am Federbein (kg/cm)

600

700

800

900

10 mm

Beladen bis zum Anschlag, verändert sich der für die Handlichkeit wichtige Lenkkopfwinkel von 64 auf 62 Grad, parallel dazu wandert der Schwerpunkt extrem weit nach hinten. Deshalb gehören schwere Gegenstände in den Tankrucksack und nicht auf die Gepäckbrücke.

60 MOTORRAD service

Eine Feder wird beim Vorspannen nicht härter, man verändert nur die Federbasis und damit die Fahrzeughöhe. Egal, ob nur mit Fahrer (1) oder zusätzlich mit Sozius (2) beladen, der Negativfederweganteil wird kleiner, der Positivfederweg größer. Weshalb die Maschine hinten höher steht, was Bodenfreiheit und Lenkgeometrie verbessert. Beim Diagramm der Federrate von 100 kg/cm ist das Übersetzungsverhältnis von Hinterachse zum Federbein durch die Umlenkung 2 zu 1: 120 Millimeter am Rad hinten, deren 60 am Stoßdämpfer

Verstellung der Federvorspannung

g

MESSWERTE

ma Be x. lad un

Schwerpunkt Lenkkopfwinkel Achslast

tauchen kippt die Maschine um knapp zwei Winkelgrad nach hinten. Deshalb ganz wichtig: Die Scheinwerferhöhe bei Dunkelheit und drei Meter Abstand zu einer Wand mit Kreide anzeichnen und bei voll beladener Maschine und mit Sozius mittels Einstellschraube am Scheinwerfer (siehe Fahrerhandbuch) auf die gleiche Höhe herunterdrehen, damit die Eichhörnchen ohne Sonnebrille schlafen können.

sol o

eshalb sollten die Einstellmöglichkeiten am Fahrwerk genutzt werden, um das weit eingetauchte Fahrzeugheck etwas zu kompensieren (siehe Kasten rechts). Was zum einen über die Anpassung der Federvorspannung und wenn möglich Druckstufendämpfung geschieht. Hilft das Fahrerhandbuch

lee r

D

Weil die Leistungskurve des Menschen, also seine Konzentration und Ausdauer, nicht linear über den Tag verläuft, sondern mit zwei Kamelhöckern aufgebaut ist, sollte man dem natürlichen Zyklus folgen und sich möglichst früh in den Sattel schwingen. Von etwa sechs bis elf Uhr hält das erste Hoch an, danach fällt der Mensch ins Leistungsloch. Grund genug, eine ausgiebige Pause von gut einer Stunde einzuschieben, die die Reisegesellschaft gleich mit einem leckeren Mittagessen verbinden kann. Nein, wir raten nicht zu sportlich-spartanischer Schonkost und Müsli, sondern zu dem, was schmeckt. Weil der Genuss im Vordergrund steht und nicht der ehrgeizige Langstrecken-Wettlauf. Aber: nicht zu viel, nicht zu fett und wenn möglich eine Mischung aus Kohlehydraten und Ballaststoffen. Hat man sich bei der Schlemmerei doch zu viel aufgetischt, lösen Enzympräparate (Creon, Panzytrat) den lästigen Klumpen im Magen schneller auf. Nicht vergessen bei hitzigen Touren: trinken, trinken, trinken. Die Wasser- oder Apfelschorleflasche gehört immer griffbereit in den Tankrucksack. Wer dehydriert, baut ruck, zuck ab und hat oft mit Kopfschmerzen zu kämpfen. Regelmäßige Trinkund Pinkelpausen müssen sein, Zeitverlust

maximaler Federhub 60 mm

13:30

maximaler Federhub 60 mm

12.07.2006

Federhub am Federbein (mm)

MRD16060D.qxd

16/2006

Anschlagpuffer Zugstufeneinstellung

Um bis zu zehn Millimeter sollte die Vorspannung der Zentralfeder bei voller Zuladung mittels Hakenschlüssel oder Hydraulik erhöht werden.

Bei der Druckstufendämpfung (Stellschraube oben) regelt ein Nadelventil (rot) den hydraulischen Widerstand und somit den Einfedervorgang bei Bodenwellen.

MOTORRAD service 61

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Planung ist der halbe Urlaub: Wenn Blechlawinen in den Urlaub rollen, wählen pfiffige Motorrad-Touristen für ihre Reiseroute besser das kurvige Gefilde.

Planungsphase Nummer eins: wie viele Kilometer am Tag? Bei Solisten ist der Gedanke schnell zu Ende gebracht, in der Gruppe hingegen werden einige Kneipenabende notwendig

sein, um die gemeinsame Route und die Länge der Tour festzulegen. Ganz wichtig dabei: Das schwächste Glied gibt die Tagesetappen vor. Es ist nicht nur extrem stressig, sondern brandgefährlich, Motorradfahrer mit wenig Übung über vier-

hundert oder mehr Landstraßenkilometer pro Tag zu hetzen. Deshalb die Reisetage so großzügig einteilen, dass keine Panik entsteht, wenn man in Verzug kommt. Mieses Wetter, Pannen, Übermüdung – alles ist möglich.

SCHWERPUNKTLAGE UND LENKGEOMETRIE Bei hoher Zuladung verändern sich mit der Balance auch die Fahreigenschaften.

nicht weiter, kann die Serieneinstellung (zum Beispiel 16 Klicks offen) auf den halben Wert (acht Klicks) verändert und das Fahrverhalten/Komfort auf bekannter Strecke ausprobiert werden. Auch die Zugstufe kann, etwas zugedreht, mit einer cremigen Ausfederdämpfung für Ruhe sorgen. Die Messwerte der Bandit 1200 beweisen, dass kaum mehr als 40 Millimeter für die Stoßabsorbtion zur Verfügung stehen. Durch dieses extreme Ein-

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S1 S1

Schwerpunkt Achslast vorn kg hinten kg Lenkkopfwinkel Grad Negativfederweg vorn mm hinten mm

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118 151 116 174 65,5 64,0

156 270 62,0

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Druckstufeneinstellung

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hin oder her. Schließlich ist man ja auf Urlaubstour. Gegen Nachmittag kommt der menschliche Organismus dann wieder in Schwung, vorausgesetzt, man hat die Zeit zur Ruhe genutzt und nicht im hektischen Palaver vergeudet. Planungsphase Nummer zwei: die Strecke selbst Diesbezüglich rät die Redaktion geschlossen dazu, den Motorrad-Urlaub tatsächlich als solchen zu genießen. Und zwar von Anfang an. Nichts trifft die Sache besser als die abgelutschte Phrase vom Weg, der auch das Ziel ist. Natürlich wollen wir hurtig der gewohnten Umgebung entschwinden. Doch mit dem Motorrad erschließen sich im Gegensatz zum Automobil völlig neue Wege. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Vom angestrebten Urlaubsort magisch angezogen, lassen wir häufig in ereignisloser Autobahn-Monotonie die kurvigsten Gefilde links liegen, anstatt durch intensives Landkartenstudium die Route so zu kombinieren, dass wir auf oftmals traumhaften Nebenstrecken flott vorankommen. Wer die endlosen Mittelgebirge der Republik wie Eifel, Harz, Hunsrück, die Rhön oder den Bayerischen Wald abseits rast-

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loser und verstopfter Autobahnen erklommen hat, weiß Bescheid. Wer nicht, sollte sich schlau machen. Mittels übersichtlicher Landkarten, zum Beispiel den erstklassigen MOTORRAD-Exemplaren von Mairs Geographischem Verlag im Maßstab 1:200 000, lassen sich die kurvigsten Reviere querbeet zusammenpuzzeln. Keine Zeit dafür? Keine Zeit! Für elegantes Kurvenswingen? Für traumhafte Landschaften? Für rustikale Landgasthöfe? Für richtig geiles Motorradfahren? Weil Zeit immer relativ ist, ein kleines Beispiel. Wer von Stuttgart in Richtung Schweizer Alpen/Italien rauscht, kann auf der überlasteten Autobahn über Ulm und Memmingen die teuren Reifen eckig fahren und für drei Euro fuffzich eine latschige Käsesemmel am Rasthof verdrücken. Eine Stunde und 42 Minuten bei zirka Tempo 130 (Durchschnitt 113 km/h) zeigt das GPS für den gähnend langweiligen Ritt. Nur 40 Minuten länger (Durchschnitt 72 km/h) dauert die Sause über die zerklüfteten Landschaften der Schwäbischen Alb und die anschließende Kurvenachterbahn durchs sattgrüne Allgäu. Die Reifen rundum aufgerubbelt, geht das knackig schräge Motorradvergnügen nahtlos und auf kürzestem Weg an der österreichischen Grenze bei Bregenz weiter. Uff, den

FEDERHUB UND VORSPANNUNG (LINEARE FEDER)

80 70 60 50 40 30 20 10 0

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Diagramm Federbasis 1

Vorspannung 20 mm Vorspannung 10 mm

0 100 200 300 400 500 Federkfraft am Federbein (kg/cm)

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Beladen bis zum Anschlag, verändert sich der für die Handlichkeit wichtige Lenkkopfwinkel von 64 auf 62 Grad, parallel dazu wandert der Schwerpunkt extrem weit nach hinten. Deshalb gehören schwere Gegenstände in den Tankrucksack und nicht auf die Gepäckbrücke.

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Eine Feder wird beim Vorspannen nicht härter, man verändert nur die Federbasis und damit die Fahrzeughöhe. Egal, ob nur mit Fahrer (1) oder zusätzlich mit Sozius (2) beladen, der Negativfederweganteil wird kleiner, der Positivfederweg größer. Weshalb die Maschine hinten höher steht, was Bodenfreiheit und Lenkgeometrie verbessert. Beim Diagramm der Federrate von 100 kg/cm ist das Übersetzungsverhältnis von Hinterachse zum Federbein durch die Umlenkung 2 zu 1: 120 Millimeter am Rad hinten, deren 60 am Stoßdämpfer

Verstellung der Federvorspannung

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MESSWERTE

ma Be x. lad un

Schwerpunkt Lenkkopfwinkel Achslast

tauchen kippt die Maschine um knapp zwei Winkelgrad nach hinten. Deshalb ganz wichtig: Die Scheinwerferhöhe bei Dunkelheit und drei Meter Abstand zu einer Wand mit Kreide anzeichnen und bei voll beladener Maschine und mit Sozius mittels Einstellschraube am Scheinwerfer (siehe Fahrerhandbuch) auf die gleiche Höhe herunterdrehen, damit die Eichhörnchen ohne Sonnebrille schlafen können.

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eshalb sollten die Einstellmöglichkeiten am Fahrwerk genutzt werden, um das weit eingetauchte Fahrzeugheck etwas zu kompensieren (siehe Kasten rechts). Was zum einen über die Anpassung der Federvorspannung und wenn möglich Druckstufendämpfung geschieht. Hilft das Fahrerhandbuch

lee r

D

Weil die Leistungskurve des Menschen, also seine Konzentration und Ausdauer, nicht linear über den Tag verläuft, sondern mit zwei Kamelhöckern aufgebaut ist, sollte man dem natürlichen Zyklus folgen und sich möglichst früh in den Sattel schwingen. Von etwa sechs bis elf Uhr hält das erste Hoch an, danach fällt der Mensch ins Leistungsloch. Grund genug, eine ausgiebige Pause von gut einer Stunde einzuschieben, die die Reisegesellschaft gleich mit einem leckeren Mittagessen verbinden kann. Nein, wir raten nicht zu sportlich-spartanischer Schonkost und Müsli, sondern zu dem, was schmeckt. Weil der Genuss im Vordergrund steht und nicht der ehrgeizige Langstrecken-Wettlauf. Aber: nicht zu viel, nicht zu fett und wenn möglich eine Mischung aus Kohlehydraten und Ballaststoffen. Hat man sich bei der Schlemmerei doch zu viel aufgetischt, lösen Enzympräparate (Creon, Panzytrat) den lästigen Klumpen im Magen schneller auf. Nicht vergessen bei hitzigen Touren: trinken, trinken, trinken. Die Wasser- oder Apfelschorleflasche gehört immer griffbereit in den Tankrucksack. Wer dehydriert, baut ruck, zuck ab und hat oft mit Kopfschmerzen zu kämpfen. Regelmäßige Trinkund Pinkelpausen müssen sein, Zeitverlust

maximaler Federhub 60 mm

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Federhub am Federbein (mm)

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Anschlagpuffer Zugstufeneinstellung

Um bis zu zehn Millimeter sollte die Vorspannung der Zentralfeder bei voller Zuladung mittels Hakenschlüssel oder Hydraulik erhöht werden.

Bei der Druckstufendämpfung (Stellschraube oben) regelt ein Nadelventil (rot) den hydraulischen Widerstand und somit den Einfedervorgang bei Bodenwellen.

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Voll bepackt verändern sich Fahrleistungen und Bremsverhalten. Da enorm viel Gewicht auf dem Hinterrad lastet, wird das Vorderrad beim Beschleunigen leicht und hebt früh ab. Durch das „leichte“ Vorderrad kann es je nach Bereifung verstärkt zu Lenkerflattern (Shimmy) im Bereich von 60 bis 100 km/h kommen. Bei entsprechend empfindlichen Pneus gilt deshalb: nicht frei- oder einhändig fahren. Wer in den Alpen unterwegs ist, sollte berücksichtigen, dass der Bremsweg bei starkem Gefälle deutlich zunimmt, wie die Messungen mit dem tadellosen Suzuki-ABS aufzeigen.

sol o

MESSUNGEN

ma x. Be lad ung

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0–100 km/h 0–130 km/h

sek sek

3,6 5,4

4,9 7,2

sek sek

3,6 6,0

4,9 7,9

50–100 km/h 50–130 km/h

Bremsmessung ABS Bremsweg m m

67,9 40,2

71,6 41,1

m

44,9

45,9

m

37,8

37,0

Rundenzeit sek Vmax am Messpunkt km/h

10,5 52,4

11,2 48,2

28,0 53,8

31,2 50,8

So wie man sich an die veränderten Kurveneigenschaften der voll beladenen Maschine gewöhnen muss, sollten auch die schlechteren Fahrleistungen beim Überholen eingeplant werden. Geht die durchzugsstarke 1200er-Suzuki noch relativ flott voran, kann sich bei 34-PS-Maschinen die Länge des Überholvorgangs verdoppeln. Bei leistungsschwachen Motoren deshalb mit mindestens 60 Prozent der Höchstdrehzahl zum Überholen ansetzen und jeden Gang konsequent ausdrehen.

beim Wenden, betätigt er gar den Hupenknopf und klemmt den Lenker ein? Was passiert bei einer Vollbremsung? Überholt einen die Gepäckrolle obenrum? Wer die Mängel und Fehler rechtzeitig aussortiert, kann noch nachbessern. Gleiches gilt für die Bekleidung. Ein neuer

Handling-Parcours II In Kurven verringert sich mit Zuladung die Schräglagenfreiheit, zudem kann sich das Heck der Maschine durch den extrem beanspruchten Reifen (Foto rechts) regelrecht aufschaukeln.

Auch wenn das moderne Zweirad ein an sich pflegeleichter Kamerad ist, fordert die große Tour mit voller Zuladung einige 62 MOTORRAD service

Handgriffe. Zum Beispiel am Fahrwerk. Die Einstellung, die dem Solisten genügt, kann bei maximalem Ballast komplett kapitulieren. Denn wie die Messwerte auf Seite 60 zeigen, werden speziell die Hinterradfederung und Bereifung extrem beansprucht. Fast das gesamte Gewicht eines Passagiers und der angebrachten Gepäcksysteme lastet auf der Hinterachse. Diese Beanspruchung muss zumindest durch eine Erhöhung der Federvorspannung und, wenn möglich, eine straffere Einstellung der Druck- und Zugstufendämpfung ausgeglichen werden. Für diejenigen, die überwiegend im Tourentrimm unterwegs sind, lohnt die Anschaffung eines speziell auf die hohe Zuladung abgestimmten Nachrüst-Federbeins. Denn im Prinzip können nur eine härtere Feder und eine entsprechend ausgelegte Dämpferabstimmung die extreme Zuladung optimal ausgleichen. Wer sich die Mühe einer angepassten Abstimmung spart, wird, wenn es ganz dumm läuft, durch ein miserables, teilweise auch gefährliches Fahr- und Kurvenverhalten bestraft. Dasselbe gilt für den Reifenluftdruck, der unbedingt erhöht werden muss. Die Werte sind meist im Fahrerhandbuch angegeben, wenn nicht, können bei allen Radialreifen hinten je nach Zuladung ab 160er-Baubreite 2,9 bis 3,1 bar nicht schaden. Am Vorderrad hingegen muss der Druck aufgrund der kaum erhöhten Achslast nur um 0,2 bis 0,3 bar auf 2,5 bis 2,7 bar aufgestockt werden, damit Bremsstabilität und Lenkpräzision erhalten bleiben.

Rundenzeit sek Vmax am Messpunkt km/h

67 m

Überholvorgang in Metern, volle Beschleunigung

Fahrdynamik Kreisbahn, ø 46 m

Planungsphase Nummer drei: das Motorrad und die Technik

89 m

Durchzug 3. Gang

aus 130 km/h aus 100 km/h aus 100 km/h mit 18 % Gefälle aus 100 km/h mit 18 % Steigung

Kaffee mit Kuchen und Blick auf die Alpen hat man sich verdient. Damit man sich nicht an jeder Weggabelung verfranzt, hilft die Landkarte im Tankrucksack und ein mit durchsichtiger Folie aufgeklebtes Roadbook, in dem alle größeren Ortschaften oder landschaftlichen Besonderheiten vermerkt sind. Bei der Planung sollten größere Städte und langweilige Bundesstraßen außen vor gelassen werden. Die Suche gilt verkehrsarmen Nebenstrecken, die in ihrer kürzesten Anbindung gerne auch mal über unbefestigte Pisten oder einspurige 1,5-Tonnen-Pfade, im ländlichen Jargon auch Promille-Sträßchen genannt, führen dürfen. Hauptsache kurvig und verschlungen, sind sie Garant für höchstes Fahrvergnügen. Wer allerdings vom norddeutschen Flachland aus seine Exkursion in die nordische oder südliche Bergwelt startet, kann die erste Etappe bedenkenlos auf der Autobahn zurücklegen. Viel zu versäumen gibt es, kurventechnisch betrachtet, nicht. Wem das alles zu viel an Planung und Erbsenzählerei ist, kann sich auch einer geführten Tour des MOTORRAD action team anschließen. Denn die Scouts haben sich exakt auf die genussvollen Kurventouren spezialisiert.

79 m

Überholvorgang in Metern, Durchzug, 3. Gang

Fahrleistungen Beschleunigung

Neben der verbesserten Kurvenstabilität mindert der hohe Reifenluftdruck den Abrieb, weil die Walkarbeit des Reifens und somit die Erhitzung von der Gummilauffläche dadurch geringer ist. Und hohe Temperaturen sind immer gleichbedeutend mit unnötig hohem Verschleiß. Verschleiß macht auch der Antriebskette zu schaffen, wenn diese zu straff justiert ist. Speziell bei weit eingefederter Schwinge muss zwingend darauf geachtet werden, dass beim Nachspannen ausreichend Spiel vorhanden ist. Was sich am besten in voller Zuladung von einer dritten Person kontrollieren lässt. Um zu dokumentieren, wie sich die Fahrdynamik bei maximaler Zuladung gegenüber Solofahrt verändert, bepackte MOTORRAD eine Suzuki Bandit 1200 S. Im Top-Test-Handlingkurs, auf Passstraßen sowie beim Bremsentest (siehe oben) zeigte sich die Bandit zwar auch im vollen Reisetrimm von der besten Seite, machte aber klar, dass gut 210 Kilogramm Zuladung nicht ohne Folgen bleiben. Beschleunigungsvermögen, Bremsverhalten und Schräglagenfreiheit, alles über ein 2DDatarecording aufgezeichnet, verändern sich deutlich. Aus diesem Grund gehört rechtzeitig vor Reisebeginn eine ausführliche Probefahrt in vollem Ornat und mit Passagier über die allseits bekannte Hausstrecke zum Pflichtprogramm. Passen Federung und Dämpfung? Oder schaukelt sich die Kiste auf? Schraddeln Hauptständer und Auspuff schon beim Abbiegen über den Asphalt? Stört der Tankrucksack

16/2006

Helm oder neue Stiefel sollten die eine oder andere Ausfahrt hinter sich haben, weil sich nur so Druckstellen oder andere lästige Eigenschaften aufstöbern lassen. Und Obacht: Fett bepackten Bikes geht früher die Puste aus. Je weniger Leistung, desto dramatischer hängt die Fuhre

76 m solo maximale Beladung

beim Spurt in den Seilen, was insbesondere beim Überholen zu einem kritischen Engpass führen kann. Doch selbst die durchzugsstarke 1200er-Suzuki schwächelte bei den Vergleichsmessungen spürbar. Wer sich auf den Drehmomentberg großvolumiger Motoren verlässt und wie

HAARNADELKURVEN RICHTIG FAHREN Mit ein paar Tricks lässt sich der lässige Twist um die Serpentinen perfektionieren.

S Kehre 1

Kehre 2 Kehre 3

Ideallinie falsche Linie Blickführung

www.motorradonline.de

o gilt es in luftigen Höhen einzukalkulieren, dass die Reifentemperatur absinkt und der Gummi dadurch weniger Haftung aufbaut. Griffig warm heißt: Lauffläche gut handwarm – etwa 35 Grad – über die gesamte Reifenbreite. Dazu kommt, dass der Asphalt vieler Alpenpässe durch die radierenden Reifen der Autos regelrecht glatt poliert wird und speziell bei Nässe wenig Grip aufweist. Damit der alpine Kurvenspaß nicht zu kurz kommt, kann der Gegenverkehr bereits vor der Anfahrt zur Serpentine ausgespäht werden. Ein vorausschauender Blick auf die Verkehrslage nach oben oder unten genügt, um die Ideallinie an Kehre 1 und 2 dementsprechend zu wählen. Das heißt: spät einlenken und den Scheitelpunkt erst nach etwa zwei Dritteln des Kurvenradius setzen. Wer zu früh einlenkt (graue Linie), wird auf die Gegenfahrbahn hinausgetragen und ist am Kurvenausgang gezwungen, einen noch engeren Bogen zu fahren. Dabei hilft es, die Maschine im Enduro-Fahrstil (aufrechter Oberkörper, Motorrad über den Lenker nach unten drücken) um die Kehre zu pressen. Bei Kehre 3 ist jegliche Sicht auf den Gegenverkehr verdeckt und zwingt den Fahrer, auf die schwungvolle Ideallinie zu verzichten und stattdessen die Serpentine auf möglichst engstem Radius auf der rechten Fahrbahnseite zu umrunden, da selbst auf den entlegensten Passstraßen mit Lkw- oder Busverkehr zu rechnen ist, der die komplette Fahrbahnbreite beansprucht.

MOTORRAD service 63

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Voll bepackt verändern sich Fahrleistungen und Bremsverhalten. Da enorm viel Gewicht auf dem Hinterrad lastet, wird das Vorderrad beim Beschleunigen leicht und hebt früh ab. Durch das „leichte“ Vorderrad kann es je nach Bereifung verstärkt zu Lenkerflattern (Shimmy) im Bereich von 60 bis 100 km/h kommen. Bei entsprechend empfindlichen Pneus gilt deshalb: nicht frei- oder einhändig fahren. Wer in den Alpen unterwegs ist, sollte berücksichtigen, dass der Bremsweg bei starkem Gefälle deutlich zunimmt, wie die Messungen mit dem tadellosen Suzuki-ABS aufzeigen.

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MESSUNGEN

ma x. Be lad ung

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0–100 km/h 0–130 km/h

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3,6 6,0

4,9 7,9

50–100 km/h 50–130 km/h

Bremsmessung ABS Bremsweg m m

67,9 40,2

71,6 41,1

m

44,9

45,9

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37,8

37,0

Rundenzeit sek Vmax am Messpunkt km/h

10,5 52,4

11,2 48,2

28,0 53,8

31,2 50,8

So wie man sich an die veränderten Kurveneigenschaften der voll beladenen Maschine gewöhnen muss, sollten auch die schlechteren Fahrleistungen beim Überholen eingeplant werden. Geht die durchzugsstarke 1200er-Suzuki noch relativ flott voran, kann sich bei 34-PS-Maschinen die Länge des Überholvorgangs verdoppeln. Bei leistungsschwachen Motoren deshalb mit mindestens 60 Prozent der Höchstdrehzahl zum Überholen ansetzen und jeden Gang konsequent ausdrehen.

beim Wenden, betätigt er gar den Hupenknopf und klemmt den Lenker ein? Was passiert bei einer Vollbremsung? Überholt einen die Gepäckrolle obenrum? Wer die Mängel und Fehler rechtzeitig aussortiert, kann noch nachbessern. Gleiches gilt für die Bekleidung. Ein neuer

Handling-Parcours II In Kurven verringert sich mit Zuladung die Schräglagenfreiheit, zudem kann sich das Heck der Maschine durch den extrem beanspruchten Reifen (Foto rechts) regelrecht aufschaukeln.

Auch wenn das moderne Zweirad ein an sich pflegeleichter Kamerad ist, fordert die große Tour mit voller Zuladung einige 62 MOTORRAD service

Handgriffe. Zum Beispiel am Fahrwerk. Die Einstellung, die dem Solisten genügt, kann bei maximalem Ballast komplett kapitulieren. Denn wie die Messwerte auf Seite 60 zeigen, werden speziell die Hinterradfederung und Bereifung extrem beansprucht. Fast das gesamte Gewicht eines Passagiers und der angebrachten Gepäcksysteme lastet auf der Hinterachse. Diese Beanspruchung muss zumindest durch eine Erhöhung der Federvorspannung und, wenn möglich, eine straffere Einstellung der Druck- und Zugstufendämpfung ausgeglichen werden. Für diejenigen, die überwiegend im Tourentrimm unterwegs sind, lohnt die Anschaffung eines speziell auf die hohe Zuladung abgestimmten Nachrüst-Federbeins. Denn im Prinzip können nur eine härtere Feder und eine entsprechend ausgelegte Dämpferabstimmung die extreme Zuladung optimal ausgleichen. Wer sich die Mühe einer angepassten Abstimmung spart, wird, wenn es ganz dumm läuft, durch ein miserables, teilweise auch gefährliches Fahr- und Kurvenverhalten bestraft. Dasselbe gilt für den Reifenluftdruck, der unbedingt erhöht werden muss. Die Werte sind meist im Fahrerhandbuch angegeben, wenn nicht, können bei allen Radialreifen hinten je nach Zuladung ab 160er-Baubreite 2,9 bis 3,1 bar nicht schaden. Am Vorderrad hingegen muss der Druck aufgrund der kaum erhöhten Achslast nur um 0,2 bis 0,3 bar auf 2,5 bis 2,7 bar aufgestockt werden, damit Bremsstabilität und Lenkpräzision erhalten bleiben.

Rundenzeit sek Vmax am Messpunkt km/h

67 m

Überholvorgang in Metern, volle Beschleunigung

Fahrdynamik Kreisbahn, ø 46 m

Planungsphase Nummer drei: das Motorrad und die Technik

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Durchzug 3. Gang

aus 130 km/h aus 100 km/h aus 100 km/h mit 18 % Gefälle aus 100 km/h mit 18 % Steigung

Kaffee mit Kuchen und Blick auf die Alpen hat man sich verdient. Damit man sich nicht an jeder Weggabelung verfranzt, hilft die Landkarte im Tankrucksack und ein mit durchsichtiger Folie aufgeklebtes Roadbook, in dem alle größeren Ortschaften oder landschaftlichen Besonderheiten vermerkt sind. Bei der Planung sollten größere Städte und langweilige Bundesstraßen außen vor gelassen werden. Die Suche gilt verkehrsarmen Nebenstrecken, die in ihrer kürzesten Anbindung gerne auch mal über unbefestigte Pisten oder einspurige 1,5-Tonnen-Pfade, im ländlichen Jargon auch Promille-Sträßchen genannt, führen dürfen. Hauptsache kurvig und verschlungen, sind sie Garant für höchstes Fahrvergnügen. Wer allerdings vom norddeutschen Flachland aus seine Exkursion in die nordische oder südliche Bergwelt startet, kann die erste Etappe bedenkenlos auf der Autobahn zurücklegen. Viel zu versäumen gibt es, kurventechnisch betrachtet, nicht. Wem das alles zu viel an Planung und Erbsenzählerei ist, kann sich auch einer geführten Tour des MOTORRAD action team anschließen. Denn die Scouts haben sich exakt auf die genussvollen Kurventouren spezialisiert.

79 m

Überholvorgang in Metern, Durchzug, 3. Gang

Fahrleistungen Beschleunigung

Neben der verbesserten Kurvenstabilität mindert der hohe Reifenluftdruck den Abrieb, weil die Walkarbeit des Reifens und somit die Erhitzung von der Gummilauffläche dadurch geringer ist. Und hohe Temperaturen sind immer gleichbedeutend mit unnötig hohem Verschleiß. Verschleiß macht auch der Antriebskette zu schaffen, wenn diese zu straff justiert ist. Speziell bei weit eingefederter Schwinge muss zwingend darauf geachtet werden, dass beim Nachspannen ausreichend Spiel vorhanden ist. Was sich am besten in voller Zuladung von einer dritten Person kontrollieren lässt. Um zu dokumentieren, wie sich die Fahrdynamik bei maximaler Zuladung gegenüber Solofahrt verändert, bepackte MOTORRAD eine Suzuki Bandit 1200 S. Im Top-Test-Handlingkurs, auf Passstraßen sowie beim Bremsentest (siehe oben) zeigte sich die Bandit zwar auch im vollen Reisetrimm von der besten Seite, machte aber klar, dass gut 210 Kilogramm Zuladung nicht ohne Folgen bleiben. Beschleunigungsvermögen, Bremsverhalten und Schräglagenfreiheit, alles über ein 2DDatarecording aufgezeichnet, verändern sich deutlich. Aus diesem Grund gehört rechtzeitig vor Reisebeginn eine ausführliche Probefahrt in vollem Ornat und mit Passagier über die allseits bekannte Hausstrecke zum Pflichtprogramm. Passen Federung und Dämpfung? Oder schaukelt sich die Kiste auf? Schraddeln Hauptständer und Auspuff schon beim Abbiegen über den Asphalt? Stört der Tankrucksack

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Helm oder neue Stiefel sollten die eine oder andere Ausfahrt hinter sich haben, weil sich nur so Druckstellen oder andere lästige Eigenschaften aufstöbern lassen. Und Obacht: Fett bepackten Bikes geht früher die Puste aus. Je weniger Leistung, desto dramatischer hängt die Fuhre

76 m solo maximale Beladung

beim Spurt in den Seilen, was insbesondere beim Überholen zu einem kritischen Engpass führen kann. Doch selbst die durchzugsstarke 1200er-Suzuki schwächelte bei den Vergleichsmessungen spürbar. Wer sich auf den Drehmomentberg großvolumiger Motoren verlässt und wie

HAARNADELKURVEN RICHTIG FAHREN Mit ein paar Tricks lässt sich der lässige Twist um die Serpentinen perfektionieren.

S Kehre 1

Kehre 2 Kehre 3

Ideallinie falsche Linie Blickführung

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o gilt es in luftigen Höhen einzukalkulieren, dass die Reifentemperatur absinkt und der Gummi dadurch weniger Haftung aufbaut. Griffig warm heißt: Lauffläche gut handwarm – etwa 35 Grad – über die gesamte Reifenbreite. Dazu kommt, dass der Asphalt vieler Alpenpässe durch die radierenden Reifen der Autos regelrecht glatt poliert wird und speziell bei Nässe wenig Grip aufweist. Damit der alpine Kurvenspaß nicht zu kurz kommt, kann der Gegenverkehr bereits vor der Anfahrt zur Serpentine ausgespäht werden. Ein vorausschauender Blick auf die Verkehrslage nach oben oder unten genügt, um die Ideallinie an Kehre 1 und 2 dementsprechend zu wählen. Das heißt: spät einlenken und den Scheitelpunkt erst nach etwa zwei Dritteln des Kurvenradius setzen. Wer zu früh einlenkt (graue Linie), wird auf die Gegenfahrbahn hinausgetragen und ist am Kurvenausgang gezwungen, einen noch engeren Bogen zu fahren. Dabei hilft es, die Maschine im Enduro-Fahrstil (aufrechter Oberkörper, Motorrad über den Lenker nach unten drücken) um die Kehre zu pressen. Bei Kehre 3 ist jegliche Sicht auf den Gegenverkehr verdeckt und zwingt den Fahrer, auf die schwungvolle Ideallinie zu verzichten und stattdessen die Serpentine auf möglichst engstem Radius auf der rechten Fahrbahnseite zu umrunden, da selbst auf den entlegensten Passstraßen mit Lkw- oder Busverkehr zu rechnen ist, der die komplette Fahrbahnbreite beansprucht.

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Gedachter Scheitelpunkt Beschleunigen Bremsen Kombination aus Beschleunigen und Bremsen

Damit sind Sie am Stilfser Joch der König: der Trick mit der Hinterradbremse. Haarnadelkurven können auch geübte Piloten bei Maschinen mit starken Lastwechselreaktionen aus dem Tritt bringen. Deshalb vor dem Einlenken das Gas leicht öffnen, den Antriebsstrang auf Zug bringen. Vor dem Scheitelpunkt die überschüssige Geschwindigkeit gleichzeitig über einen sanften Tritt auf die Hinterradbremse anpassen, Gas geben und die Bremse entsprechend langsam lösen. Den Umgang mit der Gas-Brems-Kombination vorher auf einem leeren Parkplatz üben. Und keine Sorge, die Hinterradbremse macht das Spiel locker mit.

gewohnt bei halber Höchstdrehzahl den Hahn spannt, staunt nicht schlecht über einen teilweise lethargischen Antritt. Beim Kurvenritt mit Sozius und Marschgepäck spielt die richtige Linienwahl und Kurventechnik (siehe Teil 1 bis 3) eine noch größere Rolle als beim Solo-Auftritt, weil die schwere Maschine behäbiger auf Kurskorrekturen reagiert und sie beim Aufsetzen in Schräglage kaum ein harsch eingeleitetes Ausweich- oder Lenkmanöver zulässt. Deshalb eine vorausschauende Fahrweise wählen. Was nicht zwingend die launige Kurvensause schmälert. Motto: Geteilter Spaß ist doppelter Spaß. In diesem Sinne: gute Reise.

Der nächste Teil der Serie „Perfekt fahren mit MOTORRAD“ erscheint in Heft 18/2006 und verrät alle Tipps und Tricks für effektives und sicheres Bremsen sowie die grundsätzlichen Erklärungen zur Brems- und Motorradtechnik.

FAHREN AUF SCHOTTER Abenteuerlustige Reiter treiben ihre Straßenmaschinen gerne über Schotterpisten.

E

s muss ja nicht gleich eine Sonderprüfung der Six-Days bewältigt werden, doch für gestandene Abenteurer ist die Offroad-Einlage kein Hindernis, sondern das Salz in der Suppe. Wer sich mit einer Straßenmaschine auf eine längere Schotterpassage einlässt, sollte den Luftdruck in den Reifen auf 1,6 bar vorn und 1,8 bar hinten senken. Diese Maßnahme verbessert die Eigendämpfung der Reifen und reduziert ein unkontrolliertes Springen und Versetzen der Räder beim Überfahren grober Schottersteine. Achtung: Auf Asphalt bei nächster Gelegenheit den Reifendruck wieder erhöhen. Fahrtechnik auf Schotter: Im Irrgarten von grobem Schotter und tiefen Bodenwellen ist

die konzentrierte Blickführung die grundlegende Voraussetzung, um heikle Passagen sicher zu umschiffen. Der richtet sich wie auf der Straße nicht direkt vors Vorderrad, sondern zehn, zwanzig Meter voraus, um rechtzeitig die ideale Spur anzusteuern. Sollte es dennoch zum Stillstand und die Fuhre aus dem Gleichgewicht kommen, den Sturz immer bergwärts einleiten, nie Richtung Abgrund. Ein Reflex, der sich antrainieren lässt. Hilfreich im Gelände: Fahren im Stehen. In dieser Position hat man nicht nur den besseren Überblick über die kommenden Schlüsselstellen, sondern findet auch eine gute Balance, um Spurrillen oder schräg abfallende Offroad-Sektionen sicher zu durchqueren. Bodenwellen und harte Kanten las-

sen sich durch Abfedern in den Knien weicher und ohne aufzusetzen überqueren. Speziell bei steilen Bergab-Passagen ist es nötig, Vorder- und Hinterradbremse einzusetzen. Ist das Motorrad mit Passagier besetzt, kann zwar mit der Hinterradbremse gut verzögert werden, trotzdem muss bei steilen Abfahrten auch die vordere Bremse herhalten. Die Blockiergrenze auf Schotter wird akustisch deutlich angemahnt: Vorder- und Hinterradreifen mahlen vor dem Blockieren laut und vernehmlich. Bei allen Brems- und Fahrmanövern sollten beide Füße auf den Fußrasten bleiben und die Maschine über einen festen Knieschluss stabilisiert werden. Mitfußeln ist nur in Notfällen und bei geringer Geschwindigkeit ratsam. Die Verletzungsgefahr von Ober- und Unterschenkel ist insbesondere mit Koffern recht groß. Kurvenfahren auf Schotter ist kein Hexenwerk. Rechtzeitig vor dem Einlenken Vorderradbremse lösen und sanft einlenken. Das Motorrad wird über den kurvenäußeren Oberschenkel mit kräftigem Kontakt am Tank und einer nach vorn orientierten Körperhaltung in die Kurven gelenkt. Die Körperspannung wird über den gesamten Radius gehalten, womit man auch verhindert, dass die Maschine beim Beschleunigen auf einen unerwünscht großen Radius ausweicht. Alle Kurvenfahrten werden durch den Endurotypischen Fahrstil „Drücken“ unterstützt (siehe Serie Teil 2, Kurvenfahren). In unbekanntem Gelände gilt: Der Bremsweg darf nie länger als die einsehbare Strecke sein, da man selbst im abgelegensten Winkel mit zackig daherbrummenden Geländewagen und unvermittelt auftauchenden Straßenabbrüchen oder geschlossenen Schranken zu rechnen hat.

Wenn die Wildnis ruft, sollte man ihr folgen. Mit etwas Übung und Talent lassen sich abenteuerliche Schotterpisten auch ohne Enduro bewältigen.

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TIPPS UND TRICKS Oft sind es nur läppische Kleinigkeiten, die einem die Tour vermasseln.

Passt, wackelt und hat Luft: Bekleidung und Ausrüstung Sonnebrille eingepackt? Ganz wichtig für den Strand und die Bergwanderung, aber fehl am Platz zum Motorradfahren. Wechseln plötzlich die Lichtverhältnisse, steht respektive fährt man im Dunkeln und ahnt nur noch den Streckenverlauf. Wer jedoch bis in die Dämmerung unterwegs ist, hat die letzten Kilometer oft mit grellem Gegenlicht zu kämpfen. Für Vielfahrer sind Helme mit integriertem und hochklappbarem Blendschutz empfehlenswert. Zumal sich das abgedunkelte Visier bei großer Hitze und geöffnetem Hauptvisier als Augenschutz erstklassig bewährt hat (Bild 1). Fast alle, auch nicht getönte Helmvisiere dienen als wirksamer Schutz vor Sonnenbrand. Ein zusätzlicher Schutz der Gesichtshaut durch Sonnencreme ist bei empfindlicher Haut und starker Sonneneinstrahlung trotzdem besser. Bei Lederkombis oder Textiljacken liegt der Halsbereich oft frei. Wer den lieben langen Tag mit der Sonne im Nacken durch die Landschaft gondelt, verbrennt sich ohne Sonnencreme oder Halstuch dabei mächtig den Pelz. Also eincremen, und zwar bevor es zu spät ist (Bild 2). Schutzkleidung sollte stramm anliegen, aber niemals so eng, dass die Blutzirkulation eingeschnürt wird. Auch Handschuhe dürfen an den Bündchen keinen Blutstau verursachen, bei dem als Folge die Hände pelzig werden und „einschlafen“. Doch auch ohne solche Engpässe leiden viele Motorradfahrer bei langen Touren an pelzigen, gefühllosen Händen oder Fingern. Mit Dehnübungen zwischendurch und morgens wie abends einem zehnminütigen Wechselbad mit kaltem und heißem Wasser lassen sich solche Durchblutungsstörungen oft lindern. Egal, ob Sommer oder Winter, Lederkombi oder Textilanzug, darunter gehört auf jeden Fall eine schweißtransportierende Unterwäsche mit langen Ärmeln und Beinen. Abends mit Seife gewaschen, ist der oft mufflige Geruch kein Thema. Keine Reise ohne Gehörschutz. Obwohl es ein paar Kilometer dauert, bis man sich an das anfangs taube Gefühl gewöhnt hat, sind Ohrstöpsel dringend zu empfehlen. Rennarzt und Motorrad-Freak Dr. Christoph Scholl spricht von einer 25- bis 30-prozentig besseren Konzentrationsfähigkeit und einem auf Dauer geschützten Gehör. Zudem können mit Gehörschutz auch Nebengeräusche wie Hupsignale oder ungewöhnliche Motorgeräusche wahrgenommen werden, während ohne Ohrstöpsel keine Differenzierung möglich ist. Rucksackträger aufgepasst. Der kleine Brustgurt (Bild 3) sollte ebenso wie der Bauchgurt immer geschlossen sein. Greift der Reisende während der Fahrt nach hinten, um beispielsweise das Gepäck zu kontrollieren, kann der Trageriemen durch den Fahrtwind nach hinten rutschen und sich hinter den voluminösen Schulterprotektoren so verspannen, dass der Fahrer den Arm nicht mehr zum Lenker führen kann. Eine peinliche, mitunter sogar brandgefährliche Situation.

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Bild 1

Bild 4

Bild 2

Bild 5

Bild 3

Bild 6

Wer mir Rucksack unterwegs ist, kann sich Verspannungen im Nacken und Schulterbereich einhandeln, die zu Kopfschmerzen führen können. Wer dies rechtzeitig bemerkt, kann die Tragriemen länger oder kürzer einstellen, wodurch sich die Belastung etwas verändert. Sind die Trageriemen lang genug, kann man den Rucksack so justieren, dass er leicht auf der Sitzbank aufliegt und dadurch Schulter- wie Nackenmuskulatur entlastet. In jedem Fall muss der Rucksack mittig sowie symmetrisch sitzen und sollte beim Beladen gut ausbalanciert sein. Nichts Schlimmeres als ein schief sitzender Rucksack, der ständig zurechtgerückt werden muss. Nicht nur lästig, sondern gefährlich sind Tankrucksäcke, die den Blick auf die Kontrollleuchten der Blinker versperren (Bild 4). Wer mit unbewusst gesetztem Blinker auf eine Kreuzung zusteuert, dann aber geradeaus fährt, kann eine verheerende Reaktion anderer Verkehrsteilnehmer auslösen. Leider sind, wie auch an der Suzuki Bandit 1200, die Blinkkontrollleuchten in den Armaturen so weit unten angeordnet, dass der Tankrucksack nur bis zu einer bestimmten Höhe befüllt werden kann.

Beim Verzurren des Tankrucksacks unbedingt darauf achten, dass man im Lenkkopfbereich keine Bremsschläuche oder elektrische Leitungen einklemmt (Bild 5). Vor der großen Reise stellt sich die Frage: Welche Reifen taugen am besten? MOTORRAD wählte für die große Bandit den Testsieger des Reifentests in Heft 11/2006 – und war begeistert. Die Suzuki fährt sich mit dem Metzeler Roadtec Z6 (Bild 6) wie verwandelt: handlich, superpräzise, lenkneutral, mit brillanter Haftung und tadelloser Kurvenstabilität bei voller Zuladung. Einfach Spitzenklasse. Vorteile, die auf langen Strecken nicht nur dem Fahrspaß zugute kommen, sondern auch der aktiven Sicherheit und Konzentrationsfähigkeit des Fahrers. Stößt der auf langen, anstrengenden Strecken an die Grenzen seines Fahrvermögens, hilft ein neutraler und lenkpräziser Pneu, kritische Situationen besser zu meistern als ein Reifen, der störrisch oder mit großem Eigenlenkverhalten nach einer permanenten Korrektur verlangt. In Verbindung mit einem ordentlich eingestellten Fahrwerk erhöht sich der Spaßfaktor in genialer Art und Weise.

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Gedachter Scheitelpunkt Beschleunigen Bremsen Kombination aus Beschleunigen und Bremsen

Damit sind Sie am Stilfser Joch der König: der Trick mit der Hinterradbremse. Haarnadelkurven können auch geübte Piloten bei Maschinen mit starken Lastwechselreaktionen aus dem Tritt bringen. Deshalb vor dem Einlenken das Gas leicht öffnen, den Antriebsstrang auf Zug bringen. Vor dem Scheitelpunkt die überschüssige Geschwindigkeit gleichzeitig über einen sanften Tritt auf die Hinterradbremse anpassen, Gas geben und die Bremse entsprechend langsam lösen. Den Umgang mit der Gas-Brems-Kombination vorher auf einem leeren Parkplatz üben. Und keine Sorge, die Hinterradbremse macht das Spiel locker mit.

gewohnt bei halber Höchstdrehzahl den Hahn spannt, staunt nicht schlecht über einen teilweise lethargischen Antritt. Beim Kurvenritt mit Sozius und Marschgepäck spielt die richtige Linienwahl und Kurventechnik (siehe Teil 1 bis 3) eine noch größere Rolle als beim Solo-Auftritt, weil die schwere Maschine behäbiger auf Kurskorrekturen reagiert und sie beim Aufsetzen in Schräglage kaum ein harsch eingeleitetes Ausweich- oder Lenkmanöver zulässt. Deshalb eine vorausschauende Fahrweise wählen. Was nicht zwingend die launige Kurvensause schmälert. Motto: Geteilter Spaß ist doppelter Spaß. In diesem Sinne: gute Reise.

Der nächste Teil der Serie „Perfekt fahren mit MOTORRAD“ erscheint in Heft 18/2006 und verrät alle Tipps und Tricks für effektives und sicheres Bremsen sowie die grundsätzlichen Erklärungen zur Brems- und Motorradtechnik.

FAHREN AUF SCHOTTER Abenteuerlustige Reiter treiben ihre Straßenmaschinen gerne über Schotterpisten.

E

s muss ja nicht gleich eine Sonderprüfung der Six-Days bewältigt werden, doch für gestandene Abenteurer ist die Offroad-Einlage kein Hindernis, sondern das Salz in der Suppe. Wer sich mit einer Straßenmaschine auf eine längere Schotterpassage einlässt, sollte den Luftdruck in den Reifen auf 1,6 bar vorn und 1,8 bar hinten senken. Diese Maßnahme verbessert die Eigendämpfung der Reifen und reduziert ein unkontrolliertes Springen und Versetzen der Räder beim Überfahren grober Schottersteine. Achtung: Auf Asphalt bei nächster Gelegenheit den Reifendruck wieder erhöhen. Fahrtechnik auf Schotter: Im Irrgarten von grobem Schotter und tiefen Bodenwellen ist

die konzentrierte Blickführung die grundlegende Voraussetzung, um heikle Passagen sicher zu umschiffen. Der richtet sich wie auf der Straße nicht direkt vors Vorderrad, sondern zehn, zwanzig Meter voraus, um rechtzeitig die ideale Spur anzusteuern. Sollte es dennoch zum Stillstand und die Fuhre aus dem Gleichgewicht kommen, den Sturz immer bergwärts einleiten, nie Richtung Abgrund. Ein Reflex, der sich antrainieren lässt. Hilfreich im Gelände: Fahren im Stehen. In dieser Position hat man nicht nur den besseren Überblick über die kommenden Schlüsselstellen, sondern findet auch eine gute Balance, um Spurrillen oder schräg abfallende Offroad-Sektionen sicher zu durchqueren. Bodenwellen und harte Kanten las-

sen sich durch Abfedern in den Knien weicher und ohne aufzusetzen überqueren. Speziell bei steilen Bergab-Passagen ist es nötig, Vorder- und Hinterradbremse einzusetzen. Ist das Motorrad mit Passagier besetzt, kann zwar mit der Hinterradbremse gut verzögert werden, trotzdem muss bei steilen Abfahrten auch die vordere Bremse herhalten. Die Blockiergrenze auf Schotter wird akustisch deutlich angemahnt: Vorder- und Hinterradreifen mahlen vor dem Blockieren laut und vernehmlich. Bei allen Brems- und Fahrmanövern sollten beide Füße auf den Fußrasten bleiben und die Maschine über einen festen Knieschluss stabilisiert werden. Mitfußeln ist nur in Notfällen und bei geringer Geschwindigkeit ratsam. Die Verletzungsgefahr von Ober- und Unterschenkel ist insbesondere mit Koffern recht groß. Kurvenfahren auf Schotter ist kein Hexenwerk. Rechtzeitig vor dem Einlenken Vorderradbremse lösen und sanft einlenken. Das Motorrad wird über den kurvenäußeren Oberschenkel mit kräftigem Kontakt am Tank und einer nach vorn orientierten Körperhaltung in die Kurven gelenkt. Die Körperspannung wird über den gesamten Radius gehalten, womit man auch verhindert, dass die Maschine beim Beschleunigen auf einen unerwünscht großen Radius ausweicht. Alle Kurvenfahrten werden durch den Endurotypischen Fahrstil „Drücken“ unterstützt (siehe Serie Teil 2, Kurvenfahren). In unbekanntem Gelände gilt: Der Bremsweg darf nie länger als die einsehbare Strecke sein, da man selbst im abgelegensten Winkel mit zackig daherbrummenden Geländewagen und unvermittelt auftauchenden Straßenabbrüchen oder geschlossenen Schranken zu rechnen hat.

Wenn die Wildnis ruft, sollte man ihr folgen. Mit etwas Übung und Talent lassen sich abenteuerliche Schotterpisten auch ohne Enduro bewältigen.

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TIPPS UND TRICKS Oft sind es nur läppische Kleinigkeiten, die einem die Tour vermasseln.

Passt, wackelt und hat Luft: Bekleidung und Ausrüstung Sonnebrille eingepackt? Ganz wichtig für den Strand und die Bergwanderung, aber fehl am Platz zum Motorradfahren. Wechseln plötzlich die Lichtverhältnisse, steht respektive fährt man im Dunkeln und ahnt nur noch den Streckenverlauf. Wer jedoch bis in die Dämmerung unterwegs ist, hat die letzten Kilometer oft mit grellem Gegenlicht zu kämpfen. Für Vielfahrer sind Helme mit integriertem und hochklappbarem Blendschutz empfehlenswert. Zumal sich das abgedunkelte Visier bei großer Hitze und geöffnetem Hauptvisier als Augenschutz erstklassig bewährt hat (Bild 1). Fast alle, auch nicht getönte Helmvisiere dienen als wirksamer Schutz vor Sonnenbrand. Ein zusätzlicher Schutz der Gesichtshaut durch Sonnencreme ist bei empfindlicher Haut und starker Sonneneinstrahlung trotzdem besser. Bei Lederkombis oder Textiljacken liegt der Halsbereich oft frei. Wer den lieben langen Tag mit der Sonne im Nacken durch die Landschaft gondelt, verbrennt sich ohne Sonnencreme oder Halstuch dabei mächtig den Pelz. Also eincremen, und zwar bevor es zu spät ist (Bild 2). Schutzkleidung sollte stramm anliegen, aber niemals so eng, dass die Blutzirkulation eingeschnürt wird. Auch Handschuhe dürfen an den Bündchen keinen Blutstau verursachen, bei dem als Folge die Hände pelzig werden und „einschlafen“. Doch auch ohne solche Engpässe leiden viele Motorradfahrer bei langen Touren an pelzigen, gefühllosen Händen oder Fingern. Mit Dehnübungen zwischendurch und morgens wie abends einem zehnminütigen Wechselbad mit kaltem und heißem Wasser lassen sich solche Durchblutungsstörungen oft lindern. Egal, ob Sommer oder Winter, Lederkombi oder Textilanzug, darunter gehört auf jeden Fall eine schweißtransportierende Unterwäsche mit langen Ärmeln und Beinen. Abends mit Seife gewaschen, ist der oft mufflige Geruch kein Thema. Keine Reise ohne Gehörschutz. Obwohl es ein paar Kilometer dauert, bis man sich an das anfangs taube Gefühl gewöhnt hat, sind Ohrstöpsel dringend zu empfehlen. Rennarzt und Motorrad-Freak Dr. Christoph Scholl spricht von einer 25- bis 30-prozentig besseren Konzentrationsfähigkeit und einem auf Dauer geschützten Gehör. Zudem können mit Gehörschutz auch Nebengeräusche wie Hupsignale oder ungewöhnliche Motorgeräusche wahrgenommen werden, während ohne Ohrstöpsel keine Differenzierung möglich ist. Rucksackträger aufgepasst. Der kleine Brustgurt (Bild 3) sollte ebenso wie der Bauchgurt immer geschlossen sein. Greift der Reisende während der Fahrt nach hinten, um beispielsweise das Gepäck zu kontrollieren, kann der Trageriemen durch den Fahrtwind nach hinten rutschen und sich hinter den voluminösen Schulterprotektoren so verspannen, dass der Fahrer den Arm nicht mehr zum Lenker führen kann. Eine peinliche, mitunter sogar brandgefährliche Situation.

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Wer mir Rucksack unterwegs ist, kann sich Verspannungen im Nacken und Schulterbereich einhandeln, die zu Kopfschmerzen führen können. Wer dies rechtzeitig bemerkt, kann die Tragriemen länger oder kürzer einstellen, wodurch sich die Belastung etwas verändert. Sind die Trageriemen lang genug, kann man den Rucksack so justieren, dass er leicht auf der Sitzbank aufliegt und dadurch Schulter- wie Nackenmuskulatur entlastet. In jedem Fall muss der Rucksack mittig sowie symmetrisch sitzen und sollte beim Beladen gut ausbalanciert sein. Nichts Schlimmeres als ein schief sitzender Rucksack, der ständig zurechtgerückt werden muss. Nicht nur lästig, sondern gefährlich sind Tankrucksäcke, die den Blick auf die Kontrollleuchten der Blinker versperren (Bild 4). Wer mit unbewusst gesetztem Blinker auf eine Kreuzung zusteuert, dann aber geradeaus fährt, kann eine verheerende Reaktion anderer Verkehrsteilnehmer auslösen. Leider sind, wie auch an der Suzuki Bandit 1200, die Blinkkontrollleuchten in den Armaturen so weit unten angeordnet, dass der Tankrucksack nur bis zu einer bestimmten Höhe befüllt werden kann.

Beim Verzurren des Tankrucksacks unbedingt darauf achten, dass man im Lenkkopfbereich keine Bremsschläuche oder elektrische Leitungen einklemmt (Bild 5). Vor der großen Reise stellt sich die Frage: Welche Reifen taugen am besten? MOTORRAD wählte für die große Bandit den Testsieger des Reifentests in Heft 11/2006 – und war begeistert. Die Suzuki fährt sich mit dem Metzeler Roadtec Z6 (Bild 6) wie verwandelt: handlich, superpräzise, lenkneutral, mit brillanter Haftung und tadelloser Kurvenstabilität bei voller Zuladung. Einfach Spitzenklasse. Vorteile, die auf langen Strecken nicht nur dem Fahrspaß zugute kommen, sondern auch der aktiven Sicherheit und Konzentrationsfähigkeit des Fahrers. Stößt der auf langen, anstrengenden Strecken an die Grenzen seines Fahrvermögens, hilft ein neutraler und lenkpräziser Pneu, kritische Situationen besser zu meistern als ein Reifen, der störrisch oder mit großem Eigenlenkverhalten nach einer permanenten Korrektur verlangt. In Verbindung mit einem ordentlich eingestellten Fahrwerk erhöht sich der Spaßfaktor in genialer Art und Weise.

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MASSE

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Perfekt fahren mit

Teil 5: Effektives Br emsen

VERZÖGERUNG

TEIL 1 IN MOTORRAD 6/2006 KURVENFAHREN, DIE THEORIE

TEIL 2 IN MOTORRAD 8/2006 KURVENFAHREN, DIE PRAXIS

Schnurzegal, ob fetter Chopper, rassige Rennfeile oder gemütlicher Tourer, wenn es brenzlig wird, zählt jeder Meter, der beim Bremsen verschenkt oder gewonnen wird. MOTORRAD zeigt, wie man sein Krad sicher und effektiv verzögert, die Bremsanlage richtig einstellt und die Technik drum herum fit hält.

Von Werner Koch; Fotos: Markus Jahn, Koch, Archiv; Zeichnungen: Wolfgang Müller TEIL 3 IN MOTORRAD 10/2006 FASZINATION SCHRÄGLAGE

TEIL 4 IN MOTORRAD 16/2006 FAHREN MIT GEPÄCK

TEIL 5 IN DIESEM HEFT EFFEKTIVES BREMSEN

TEIL 6 IN MOTORRAD 20/2006 FAHREN IN DER STADT

TEIL 7 IN MOTORRAD 22/2006 FAHREN BEI REGEN

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H

err Müller wandert für sein Leben gern. Die reinste Lust, jedes Wochenende stundenlang durch die Landschaft zu stiefeln, um sich zum guten Schluss mit dem wohlverdienten Bierchen zu belohnen. Danach geht’s zurück zum Parkplatz, Rucksack im Kofferraum verstaut, Zündschlüssel rein und gemütlich ab nach Hause. Im Schneckentempo rollt die Limousine über den Schotterplatz und fädelt sich, ohne einen Blick nach links und rechts, auf die kurvige Landstraße ein. Wer in diesem Augenblick mit dem Motorrad Herrn Müllers Heimweg kreuzt, sollte einen Meisterbrief in Sachen Vollbremsung in der Tasche haben. Denn viel Zeit bleibt nicht, um Ross und Reiter vor Herrn Müllers Heckscheibe, hinter der der obligatorische Wackeldackel nickt, zum Stehen zu bringen. In Sekundenbruchteilen gilt es, die Entscheidung zu fällen: ausweichen oder voller Anker? Wer sich situationsbedingt für den Anker entschließt, muss ein wahres Wunder an Feinmotorik und fahrphysikalischem Können vollbringen. Eine optimale Vollbremsung erfordert, vor allem wenn sie ohne jegliche Ankündigung erfolgen muss, selbst für die Testprofis von MOTORRAD alle Sinne und noch mehr Feingefühl für das, was geht – oder auch nicht. MOTORRAD test + technik 63

Was passiert genau? Um diese Frage zu beantworten, nehmen wir eine Vollbremsung mit der Honda CBF 1000 unter die Lupe. Damit jede einzelne Phase, jede Veränderung und jeder noch so kleine Fehler bei den Bremsprüfungen mit und ohne ABS ans Licht kommen, ist die Honda vollgepackt mit einem ganzen Bündel an elektronischen Sensoren und Messgeräten. Vom hydraulischen Druck in den jeweiligen Bremskreisen über die Federwege bis zur Erkennung des Vorderradschlupfs, also der Blockierneigung, werden sämtliche Messwerte aufgezeichnet. Die Standard-Messung aus 100 km/h schütteln die Testfahrer lässig aus dem Ärmel Im ersten Fahrversuch simuliert die MOTORRAD-Testmannschaft die Vollbremsung aus 100 km/h ohne ABS, durchgeführt auf einem abgesperrten Flugplatz und einer mit Pylonen ausgesteckten, festgelegten Bremsstrecke. Weil dieser Akt zu den Standardtests bei MOTORRAD gehört, klatscht das ausführende Personal ab der zweiten Bremsung einen Bestwert nach dem anderen auf den Asphalt. Gewusst wie, wimmern die Reifen von Anfang bis Ende am absoluten Grenzbereich entlang. Ausgehend von einer Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h steht die Fuhre mit einem eleganten Stoppie nach knapp 40 Metern still, was einer Verzögerung von rund 9,8 m/s2 entspricht (siehe dazu Kästen Seite 65 sowie Seite 69). Das allerdings ist nur der Bremsweg, nicht der Anhalteweg. Zum besseren Verständnis: Wer bei einer Bremsung aus 100 km/h eine Sekunde lang zögert oder unachtsam ist – gemeinhin als Schrecksekunde bekannt –, legt exakt 28 Meter Fahrstrecke zurück. Ergo setzt sich der tatsächliche Anhalteweg aus der Reaktionszeit und der Zeit, in der der Bremsdruck aufgebaut und so-

mit die dynamische Radlastveränderung erzeugt wird, zusammen. Dynamische Radlastveränderung? Hinter diesem Begriff verbirgt sich die physikalische Gesetzmäßigkeit, dass sich bei einem Motorrad aufgrund der Massenträgheit und der Höhe des Schwerpunkts mit zunehmender Verzögerung die Radlast auf dem Vorder- und Hinterrad verändert. Am Vorderrad, also dort, wo sich die Fahrzeugmassen bei einer negativen Beschleunigung (Bremsen) abstützen, wird diese größer, hinten anteilsmäßig geringer. Mit zunehmender Radlastverteilung nach vorne kann zunehmend mehr Bremskraft überragen werden. Wie hoch die Radlast oder salopp ausgedrückt der Anpressdruck ist, kann der Fahrer an der Gabel erkennen. Je tiefer sie eintaucht, desto höher die Radlast, weil die Massen (Fahrer und Motorrad) über den Widerstand der Gabelfedern und einen gewissen Anteil der Druckstufendämpfung auf den Reifen übertragen werden. Um ein zähes Gerücht zu entkräften: Der Fahrzeugschwerpunkt verschiebt sich beim Bremsen nur in geringem Umfang von wenigen Zentimetern, etwa durch das Einfedern der Gabel oder durch die veränderte Sitzposition des Fahrers. Es verändert sich also die dynamische Radlast, mit deren Hilfe unsere Vollbremsung sehr effizient und mit geringster Blockierneigung über die Bühne gehen soll. Dazu muss der Bremsdruck kontinuierlich, je nach Schwerpunktlage und Radstand (durch Motorradtyp vorgegeben), innerhalb von etwa 0,5 bis 0,7 Sekunden mit dem Einfedervorgang der Gabel gesteigert werden. Wer blitzartig (gemessen weniger als 0,1 Sekunden) und mit hoher Kraft hinlangt, bringt sich ruck, zuck in die Bredouille. Denn das Vorderrad kann nur so viel Bremskraft übertragen, wie Gewichtskraft auf ihm lastet. Ist die Bremskraft zu hoch bei gleichzeitig zu geringem

Mit diesem Reifenabdruck wird deutlich, wie stark die dynamische Radlast den Vorderreifen auf den Asphalt presst. Das grün umrandete Feld gibt die Reifenaufstandsfläche, den so genannten Latsch, bei konstanter Geradeausfahrt wieder. Die rot und grün markierten Flächen zusammen zeigen den Latsch bei einer Vollbremsung mit der CBF 1000 und den maximalen Anpressdruck des Reifens von rund 300 Kilogramm. Die extrem ausgelegte Buell (links) mit kurzem Radstand und relativ hohem Schwerpunkt hebt lange vor Erreichen der Blockiergrenze des Vorderrads mit dem Hinterrad ab. Entsprechend schlecht fallen die Bremswege mit 43,3 Metern aus 100 km/h aus. Dafür ist selbst auf weniger griffigem Asphalt eine Blockierneigung vorn durch die hohe dynamische Radlast nahezu ausgeschlossen

64 MOTORRAD test + technik

18/2006

BREMSVORGANG UNTER DER LUPE Der schmale Grat zwischen optimaler Verzögerung und Abflug.

Handkraft 70 N Bremsdruck 9 bar

Die durchschnittliche Bremsverzögerung beim flotten Landstraßenritt mit der CBF 1000 liegt bei rund 5 m/s2, also etwa der Hälfe einer Vollbremsung. Dabei trägt die Hinterradbremse wegen der hohen Radlast von 35 Prozent zur Verzögerung bei, das Vorderrad ist bei gutem Straßenbelag noch weit von der Blockiergrenze entfernt. Der rote Pfeil gibt die resultierende Kraft aus Massenkraft (grün) und Gewichtskraft (gelb) wieder. Solange diese resultierende Kraft hinter dem Vorderrad wirkt (gestrichelte Verlängerung), besteht keine Überschlagsneigung Gewichtskraft

Massenkraft Bremskraft

Achslast 35 % Fußkraft 80 N Bremsdruck 7 bar

35 %

65 %

Resultierende

65 %

Federweg vorn mm hinten mm Achslast* vorn kg hinten kg Lenkkopfwinkel Grad Nachlauf mm Reifenaufstandsfläche vorn cm2 Ø Anpressdruck/cm2 vorn kg/cm2

nor Fahmale rzu r sta nd Vo llb rem sun

MESSWERTE

g

Schwerpunkt

53 45

115 5

148 192 65,0 110

300 40 60,5 87

28

96

4,2

3,1

Handkraft 110 N Bremsdruck 20 bar

5% 5%

Fußkraft 30 N Bremsdruck 2 bar

95 % 95 %

* mit Fahrer

Handkraft 140 N Bremsdruck 28 bar

0% 0%

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Fußkraft 0 N Bremsdruck 0 bar

100 % 100 % + X

Bei der optimalen Vollbremsung mit 9,81 m/s2 ist das Verhältnis von Gewichts- zu Massenkraft ausgeglichen, die resultierende Kraft verläuft jetzt je nach Schwerpunkthöhe nahe der Aufstandsfläche am Vorderrad, das an der Blockiergrenze verzögert, während das Hinterrad im Durchschnitt der Bremsung kaum noch Bodenkontakt hat. In der Praxis wird dabei das Hinterrad einfach blockiert, das Vorderrad mit viel Gefühl und hohem Bremsdruck am Grenzbereich, der sich meist durch schrilles Quietschen ankündigt, verzögert Bei der überzogenen Vollbremsung, bei der durch den hohen Schwerpunkt oder durch den angenommen extrem hohen Reibbeiwert von µ =1,2 das Hinterrad abhebt wie bei der Buell (Foto Seite 64), trifft die resultierende Kraftlinie vor dem Vorderrad auf. Würde der Fahrer den hohen Bremsdruck von 28 bar beibehalten, würde sich die Maschine nach vorn überschlagen. Bei entspechend niedrigem Schwerpunkt blockiert bei zu hohem Bremsdruck vor dem Abheben des Hinterrads das Vorderrad

MOTORRAD test + technik 65

Reibwertsprung Rollsplitt, im Sommer als lästige Spaßbremse von den Straßenbauern gerne aufgebracht, wird in der Bremszone über einen Bereich von drei Metern akkurat verteilt und mit Pylonen markiert. Mit 100 km/h und voll gezogener Bremse saust die Honda auf den Rollsplitt zu. Dann heißt es, die Vorderradbremse blitzschnell zu lösen und sofort danach den Bremsvorgang mit aller Macht fortzusetzen

„Anpressdruck“, kommt das Vorderrad in Schlupf oder blockiert sogar und verliert dadurch die Seitenführungskraft. Gefährlich, weil die Maschine seitlich wegrutschen kann und ein Sturz nur mit akrobatischem Einsatz zu verhindern ist. Deshalb gilt am Anfang jeder Bremsung: Nicht blitzartig zupacken, sondern innerhalb etwa einer halben Sekunde den Bremsdruck auf

das persönliche Maximum steigern. Die unten stehenden Diagramme zeigen diesen entscheidenden Vorgang im Detail. Die menschliche Feinmotorik ist oft überfordert Der zweite Schritt einer effektiven Vollbremsung liegt darin, Vorder- und Hinter-

140

140 140 Bremsweg 40 m

120 120

100 80 3

60 40

Geschwindigkeit effektiv Geschwindigkeit Vorderrad

20

Federweg vorn Bremsdruck vorn

1

0

10

20

30

40

50

80

80

60

60

40

40

20

20

Federweg (mm)

100 100 2

Bremsdruck (bar)

Geschwindigkeit (km/h)

120

radbremse so effizient einzusetzen, dass beide Reifen mit einem bestimmten Schlupf arbeiten und somit die bestmögliche Verzahnung von Gummi und Asphalt gewährleistet wird. Ein sehr diffiziles Geschäft, denn die menschliche Feinmotorik und Auffassungsgabe schaffen es kaum, vorne wie hinten gleichzeitig so feinfühlig zu bremsen, dass man sich in dem schmalen

Die optimale Bremsung. Der Bremsdruck (1) wird kontinuierlich gesteigert, die Gabel federt entsprechend ein (2) und der Reifen wird durch die dynamisch wirksame Radlast fest auf den Asphalt gepresst. Dadurch ist eine hohe Bremskraftübertragung möglich. Selbst bei dem erhöhten Schlupf (3), bedingt durch die auf Block gehende Gabel und einem dadurch leicht springenden Vorderrad – an den Zacken beim Federweg (grün) gut zu erkennen –, bleiben Bremsdruck und Verzögerung konstant. Solche Bremsmanöver erfordern viel Übung, um das Feingefühl für den Grenzbereich zu trainieren und im Notfall abrufen zu können

60

Bremsweg (m)

Geschwindigkeit effektiv Geschwindigkeit Vorderrad

Federweg vorn Bremsdruck vorn

120 120

100 80

100 100 Bremsdruck (bar)

Geschwindigkeit (km/h)

140 140

Bremsweg 53 m

120

2

60 40 20

3 1

0

10

20

30

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50 53

60

80

80

60

60

40

40

20

20

Federweg (mm)

140

70

Bremsweg (m)

Die Schreckbremsung. Durch ein plötzlich auftauchendes Hindernis erschreckt, schnappt der Fahrer nach dem Bremshebel. Dabei steigt der Bremsdruck wesentlich schneller an (1), als die Gabel eintaucht und sich die dynamische Radlastveränderung aufbauen kann. Mit dem Resultat, dass der Reifen noch nicht genügend Grip aufgebaut hat, sofort zu blockieren droht (2) und mit 50 Prozent Schlupf (3) arbeitet. Der Fahrer öffnet die Bremse, um einen Sturz zu vermeiden, greift danach aber mehrfach viel zu brutal zu. Letztlich verlängert sich der Bremsweg dramatisch 66 MOTORRAD test + technik

In der mit Öl befüllten Telegabel befindet sich ein hydraulischer Durchschlagschutz (Hydro-Stopp), bei dem zirka 15 Millimeter vor dem metallischen Anschlag der Kolben in einen Zylinder taucht und das dort befindliche Öl verdrängt (rechts). Bei sehr weichen Gabelfedern blockiert in diesem Bereich das Vorderrad vorzeitig 18/2006

BREMSENTECHNIK TRANSPARENT Dank pfiffiger Bremstechnik genügt für die Vollbremsung ein kräftiger Händedruck.

M

ächtig ist des Menschen Kraft, wenn er mit dem Hebel schafft.“ Die populäre physikalische Formel ist auch bei Motorradbremsen der Schlüssel zum Erfolg. Allein durch eine enorme mechanische und hydraulische Übersetzung der menschlichen Handkraft gelingt es, selbst schwerste Motorräder im Handumdrehen von Höchstgeschwindigkeit auf null zusammenzubremsen. Um diese Massenkraft zu bändigen, zieht der Fahrer mit einer Kraft von etwa 120 Newton (zirka zwölf Kilogramm) am Bremshebel (gemessen zwischen Mittel- und Ringfinger) und erzeugt dadurch im Bremssystem einen mittleren Druck von rund 18 bar. Im Verbund mit hochfesten Bremsleitungen pressen die Bremszangenkolben die hitzebeständigen und mit einem hohen Reibbeiwert ausgestatteten Bremsbeläge gegen die rotierenden Scheiben. Während sich die mechanische Handkraft und die anschließende hydraulische Übertragung kaum durch die Materialqualität beeinflussen lassen, spielt diese bei den Bremszylindern und Belägen ein gewichtige Rolle. So versucht man möglichst steife Bremszangen zu konstruieren, damit sich diese beim Bremsdruck und den hohen Temperaturen nicht aufweiten, weshalb im Rennsport so genannte Monoblock-Zangen verwendet werden, die aus einem Stück hochfestem Aluminium gefräst sind. Den Ansprüchen im Großserienbau genügen auch für die nächsten Jahre solide Festsattelbremsen

mit vier Kolben. Selbst die betagte SchwimmsattelKonstruktion der Honda CBF 1000 reicht aus, um zuverlässig und fadingfrei Bremsverzögerungen auf den Asphalt zu zaubern (siehe auch Zeichnungen unten rechts). Die im Sportlerbereich derzeit übliche radiale Verschraubung verringert nur den Schrägverschleiß der Bremsbeläge durch die stabilere Verbindung zum Gabelholm. Bei den Bremsbelägen gibt die Materialmischung den Ausschlag, ob die Bremse giftig oder stumpf zu Werke geht. Auch das Fadingverhalten hängt davon ab. Meist werden so genannte Sintermetallbeläge verwendet, die kalt wie heiß gute Bremswerte garantieren. Bei älteren Maschinen dagegen wurden organische Belagmischungen eingesetzt, die in kaltem Zustand nur lustlos an der Bremsscheibe lutschten und bei Nässe oft versagten. Deshalb bieten die meisten Bremsbelag-Hersteller auch für ältere Modelle moderne Sintermetall- oder SemiSintermetallbeläge an. In Verbindung mit hochdruckfesten Bremsschläuchen – Stahlflexleitungen – lassen sich mit betagten Bremssystemen ebenfalls akzeptable Bremswege erreichen. Wie sich letztlich die Bremskraft über mechanische und hydraulische Übersetzungen aufbaut, ist in den Zeichnungen der unterschiedlichen Handbremszylinder (radiale und konventionelle Bauart) dargestellt. Bei genauer Analyse der Funktion beider Systeme wird deutlich, dass die viel gepriesene

Radial-Bremspumpe kaum Vorteile bietet. Bei der Radialpumpe fällt das mechanische Übersetzungsverhältnis mit 1 zu 7,5 (20 zu 150 Millimeter) deutlich größer aus als beim konventionellen Bauteil mit 1 zu 6,0 (25 zu 150 Millimeter). Heißt: Bei gleicher Handkraft am Hebel wirkt bei der radialen Variante eine größere Kraft auf den Bremskolben der Handpumpe als bei der konventionellen (für Physik-Fans: F1 x L1 = F2 x L2, siehe auch Zeichnung unten). Dafür bringt der in unserem Beispiel 18 Millimeter große Bremskolben der radialen Bauart die hydraulische Übersetzung durch die rund 2,5 cm2 große Kolbenfläche wieder auf das Niveau des 16er-Kolbens mit 2,0 cm2; es baut sich bei beiden Systemen mit 100 Newton (etwa 10 Kilogramm) Handkraft ein Bremsdruck von 30 bar auf (F1:F2 = A1:A2). Der Vorteil der Radialpumpe liegt zweifelsfrei darin, dass der größere Kolben beim Bremsvorgang weniger Weg zurücklegt und dadurch die Rückmeldung und das Bremsgefühl besser und transparenter wird. Eine weitere Hebelübersetzung im System: die Bremsscheiben. Je größer diese ausfallen, desto größer ist auch hier wieder das Bremsmoment bei gleicher Kraft, mit der die Bremszangen die Räder verzögern. Zu guter Letzt verzahnen sich die Reifen je nach Straßenoberfläche mit einem Reibbeiwert µ = 1,2 (Supersportreifen auf Rennstreckenbelag) und erlauben eine maximale Verzögerung von über 10,0

Radial-Handbremspumpe 20

mm

m 150 m

Handkraft 100 N Ø 18 mm (2,5 cm2) Bremsdruck 30 bar

Festsattel

Handbremspumpe Ø 16 mm (2,0 cm2)

m 150 m

25

mm

Handkraft 100 N

Bremsdruck 30 bar

Über die mechanische und hydraulische Übersetzung der Handkraft steuert der Motorradfahrer die Bremswirkung. Das Beispiel zeigt den Vergleich einer Radial-Handbremspumpe (oben) mit einem konventionellen Bauteil. Bei Letzterem wirkt eine kleinere mechanische Hebelübersetzung (1 zu 6) als bei der Radialpumpe (1 zu 7,5). Dafür erzeugt der 16 Millimeter große Kolben ein größeres hydraulisches Übersetzungsverhältnis. Unterm Strich gleichen sich beide Systeme an und erzeugen im Bremssystem exakt denselben Bremsdruck. Trotzdem ist der Unterschied in einer feineren Dosierbarkeit und Rückmeldung spürbar

68 MOTORRAD test + technik

Die Festsattelbremse hat sich im Lauf der Jahre durchgesetzt. Dabei werden in dem steifen, meist aus zwei Teilen verschraubten Gehäuse auf jeder Seite ein (Zweikolbenbremse), zwei (Vierkolbenbremse) oder gar drei Kolben (Sechskolbenbremse) mit dem hydraulischen Druck auf die Bremsbeläge gepresst

18/2006

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BREMSWEG UND STRASSENBELAG

Asphalt rau Asphalt normal Asphalt glatt Kopfsteinpflaster Nasser Staub Eis

m/s2. Auch der Winddruck steigert die tatsächliche Verzögerung und kann einfach dazu addiert werden, da diese Kraft nicht über die Reifen übertragen werden muss. Deshalb lassen sich bei Bremsungen aus über 200 km/h Werte von gut 11 m/s2 realisieren. Die für den technisch weniger bewanderten Menschen ziemlich irritierende Formulierung m/s2 (Meter pro Sekunde im Quadrat) hat ihre Grundlage in der Erdbeschleunigung, die mit 9,81 m/s2 als Grenzwert für alle Beschleunigungs- oder Bremsvorgänge (ohne Luftwiderstand) mit dem Reibwert µ = 1,0 gilt. Bei Fahrzeugen ohne formschlüssigen Antrieb (Zahnräder, Ketten et cetera) kann der Reifen durch seine Haftreibung nur die Kraft übertragen, mit der er auch auf die Straße gepresst wird. Erreicht man beim Bremsen/Beschleunigen oder Kurvenfahren (Querbeschleunigung) die 9,81 m/s2, wird der Körper oder die Fahrzeugmasse mit exakt dem Wert seines Eigengewichts in der horizontalen Richtung belastet. Das heißt, die Massenkraft (G) entspricht maximal der Gewichtskraft. Im Falle unserer Honda CBF 1000 werden die Räder also mit 340 Kilogramm (Motor-rad vollgetankt plus Fahrer) auf den Boden gepresst. Fast genau dieselbe Kraft wirkt bei der Vollbremsung mit 9,7 m/s2 in horizontaler Richtung. Aus diesem Grund bremsen schwere Tourenmaschinen bei entsprechend ausgelegten Bremsanlagen und dimensionierter Bereifung so gut wie eine leichte 125er.

Die Mischung macht’s: Bremsbeläge tragen durch ihre Bestandteile signifikant zu Bremsleistung, Dosierbarkeit und Fadingverhalten bei. Mit passenden Nachrüstbelägen lassen sich Bremsanlagen häufig optimieren, wie die regelmäßigen Bremsbelagtests von MOTORRAD beweisen. Ob mit oder ohne Nuten spielt dagegen nach den Erfahrungen der Tester bei der Wirkung keine Rolle

Schwimmsattel

1

Die Schwimmsattelbremse kommt meist an kostengünstigen Bikes zum Einsatz. Der Bremssattel ist auf zwei dauerhaft geschmierten Bolzen (1) gelagert und kann sich axial verschieben, wenn der nur auf einer Seite wirkende Bremskolben aktiviert wird. Hier spricht man von Ein, Doppel- oder Dreikolben-Bremssätteln

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1,2 0,9 0,7 0,5 0,3 0,08

32,8 43,7 56,1 78,6 131,0 491,3

Wie auch schon die maximale Schräglage (siehe Teil 3 der Serie, Heft 10/2006), so ist auch der Bremsweg abhängig vom Reibbeiwert der Straßenoberfläche. Der extrem griffige Belag mit µ=1,2 wird meist nur bei Test- oder Rennstrecken verwendet. Auf Landstraßen schwankt die Griffigkeit von µ=0,9 bis auf 0,7. Je geringer der Reibbeiwert, desto mehr Bremskraft kann über das Hinterrad übertragen werden. Deshalb: Bei Nässe oder glattem Belag immer vorn und hinten bremsen

Grenzbereich zwischen Schlupf und Abflug bewegt. Weshalb man sich in erster Linie darauf konzentriert, die Bremse vorne optimal zu dosieren, während das Hinterrad bei gezogener Kupplung durch einen beherzten Tritt blockiert wird. Die Gefahr, dass die Fuhre dabei quer kommt, ist relativ gering und kann durch Lösen der Hinterradbremse in Windeseile korrigiert werden. Spätestens jetzt dürfte sich vor allem die Riege der Sportfahrer zu Wort melden und verkünden, dass man die hintere Bremse bei den Supersportlern doch gänzlich vergessen könne. Der Gemeinde sei jedoch gesagt: Wer bremst schon permanent mit mehr als 9 m/s2? Selbst erfahrene Motorradtester bringen es bei einer flotten Landstraßensause beim Anbremsen von engen Kurven auf kaum mehr als 7,0 m/s2 Verzögerung. Außerdem: Allein durch das Gaswegnehmen und/oder Runterschalten wird durchs Bremsmoment des Motors auch am Hinterrad mitgebremst. Also: Solange das Hinterrad nicht vom Boden abhebt, kann es den Bremsvorgang effektiv unterstützen, deshalb hinten mitbremsen. Ob und wann dieser Bodenkontakt unterbrochen wird, hängt in erster Linie vom Motorradtyp (Schwerpunktlage, Radstand, Bereifung) und der erreichten Verzögerung ab. Sportmotorräder mit einer vorderradlastigen Gewichtsverteilung lupfen früher den Hintern als etwa unsere CBF 1000, bei der bereits vor dem Abheben des Hinterrads das Vorderrad blockiert. Schon deshalb ist es enorm wichtig, dass jeder Motorradfahrer seine Maschine und deren Bremsverhalten in gezielten Trainings, zum Beispiel beim MOTORRAD action team, einschätzen lernt, um im Fall der Fälle richtig zu reagieren. Neben der Dosierung der Bremsen spielen aber noch andere Faktoren eine

signifikante Rolle. Schlägt beispielsweise die weich abgestimmte Gabel durch, verliert das Vorderrad auf holprigem Asphalt schneller als gedacht Bodenkontakt und Haftung. Oder die Kiste setzt ohne große Ankündigung zum Salto vorwärts an. Beides verlangt nach blitzschneller Reaktion, also dem Lösen und dem sofortigen Wiederaufbau des Bremsdrucks. Diese feinmotorischen Regelungen gelingen nur, wenn die Mechanik mitspielt, weshalb dem individuell bevorzugten Abstand des Bremshebels zum Lenker oder die absolute Leichtgängigkeit der Armaturen (siehe Kasten Seite 71) eine elementare Bedeutung zukommt. Teil zwei der Bremsversuche: die Vollbremsung aus 200 km/h. Eine Aufgabe, die den Puls des Testfahrers gewaltig nach oben treibt. Denn im Gegensatz zum Bremsversuch aus 100 km/h, bei dem das Quietschen und Wimmern der Reifen klare Signale für den Grenzbereich setzen, werden diese bei Tempo 200 im Orkan des Fahrtwinds erstickt. Das Bewusstsein, dass bei Tempo 200 das blockierte Vorderrad die einzige und womöglich letzte Rückmeldung bietet, zwingt den Piloten zur Vorsicht, was sich an der relativ langsamen Steigerung des Bremsdrucks und der aus diesem Tempo eher mäßigen Verzögerung von 9,3 m/s2 (166 Meter Bremsweg) ablesen lässt. Erst nach mehreren Versuchen erreicht der Testprofi einen Maximalwert von 9,7 m/s2 (159 Meter Bremsweg). Im Alltag muss der erste Bremsversuch sitzen Doch im richtigen Leben, wenn der fette Lkw urplötzlich die Überholspur blockiert, muss der erste Versuch sitzen. Und der gelingt, Profitester hin oder her, am besten MOTORRAD test + technik 69

MEINUNG Intensives Bremstraining und ABS sind unverzichtbar.

Ramona Haidchen düst mit einer Suzuki GSX-R 600 durchs Land, findet aber Gefallen an der CBF 1000. „So brutal habe ich in meinem Leben noch nicht gebremst wie unter Anleitung und mit ABS. Mir ist richtig schwindelig geworden. Richtig Bremsen, egal, ob mit oder ohne ABS, muss jeder und jede trainieren“

Oliver Heda hat nach Jahren auf einer Honda Bol d’Or zur Yamaha YZF-R1 gefunden, muss jedoch feststellen, dass man mit den ganzen „Super-Dupper-Bremsen“ der aktuellen Heizgeräte nur was anfangen kann, wenn man auf der Rennstrecke oder bei Fahrtrainings die Grenzen auslotet. ABS findet Oli grundsätzlich, aber speziell bei Regen hammermäßig

Bäckermeister Rudi Hanser zischt als Wiedereinsteiger auf seiner Suzuki DR 650 durch die Landschaft. Seit dem Bremsenstraining weiß er, auf was es ankommt. „Die Honda-Bremse an sich ist schon der Hammer, aber das ABS – unglaublich. Das Nächste, was ansteht, ist ein intensives Bremstraining“

und sichersten mit ABS. Bei vollem Speed mit aller Wucht den Stachel reingehauen, verzögert die Honda CBF 1000 mit rund 9,5 m/s2 (162,5 Meter Bremsweg). Bedingt durch den im Quadrat zur Geschwindigkeit anwachsenden Bremsweg (siehe dazu Kasten Seite 69) benötigt die CBF folglich nicht etwa die doppelte Distanz wie bei der Bremsmessung aus 100 km/h (40 Meter), sondern ganze 122 Meter mehr. Versuch Nummer drei: der Reibwertsprung. Nicht-Fahrzeugbau-Studierten sei erklärt, dass dies nichts anderes bedeutet, als eine auf der Straße aufgebrachte Stolperfalle in Form von glitschigen Bitumen-

flecken oder Zentimeter dicken Schotterauflagen, also der Übergang von griffigem zu rutschigem Belag (mehr dazu in Teil 3 der Serie, Heft 10/2006). Wer auf solchem Untergrund eine herzhafte Bremsung hinlegen muss, ist maximal gefordert. Auch der MOTORRAD-Testfahrer gerät bei der künstlich inszenierten Rutschbahn ins Schwitzen. Aus 100 km/h voll in die Eisen, nach zwanzig Metern den Bremsdruck auf null zurückfahren, um nach drei Meter Schotter wieder voll zuzupacken – da ist die Koordination leicht überfordert. Beim ersten Anlauf komplett haltlos übers Schotterfeld geschliddert, öffnet der

Pilot bei den nächsten Versuchen beide Bremsen vorsichtshalber über gut 14 Meter Fahrstrecke. Das sind 11 Meter mehr, als die eigentlich Stolperfalle lang ist, was den Bremsweg auf 48,7 Meter verlängert. In dieser Disziplin ist das ABS nicht zu schlagen. Schon wenige Meter nach der Schotterpassage, bei der die Räder nur ganz kurz in Schlupf geraten, packt die Bremse dermaßen zu, dass es das Hinterrad kurz vom Boden reißt und die Honda nach 45 Metern zum Stehen kommt. Testlauf Nummer vier: Bremsen in Schräglage. Eine äußerst heikle Angelegenheit, weil das fahrende Volk gemein-

BREMSWEG AUS 100 KM/H Honda CBF 1000 Suzuki M 1800 R

46,6 m 8,3 m/s2

nur vorne

58,5 m 6,6 m/s2 93,6 m

nur hinten

Honda CBF 1000

4,1 m/s2

86,7 m 4,4 m/s2

optimale Vollbremsung

40,0 m

9,7 m/s2

41,9 m

0 10 20 Bremsweg (m)

30

40

9,2 m/s2

50

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90

100

Suzuki M 1800 R Obwohl Gesamtgewicht (252 zu 348 Kilogramm), Radlastverteilung und Schwerpunkthöhe beider Maschinen völlig unterschiedlich sind, kommen sie auf sehr ähnliche maximale Bremsverzögerungen. Dabei tendiert die hecklastige Suzuki mit tiefem Schwerpunkt und langem Radstand dazu, vorn sehr früh zu blockieren und bremst deshalb „nur vorne“ deutlich schlechter als die ausgewogene Honda. Bei beiden verkürzt die Betätigung der hinteren zusätzlich zur vorderen Bremse den Bremsweg deutlich

70 MOTORRAD test + technik

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hin davon ausgeht, dass Schräglage und Bremsen einfach nicht unter einen Hut zu bringen sind. MOTORRAD sagt: Es geht. Je nach äußeren Umständen (Reifentemperatur/Grip) lassen sich bei rund 35 Grad Schräglage mit der serienmäßigen Honda CBF 1000 bis zu 8 m/s² Verzögerung sicher umsetzen. Diesen Wert kann ein guter Motorradfahrer bei gezielten Vollbremsungen erreichen. Die Bremsung in Schräglage sollte sich jedoch nur auf den Notfall beschränken, weil das Vorderrad schon bei geringstem Schlupf seitlich ausbricht und Sturzgefahr droht. Außerdem muss der Fahrer je nach Bereifung seiner Maschine gegen das Aufstellmoment ankämpfen.

Den Abschluss unserer Testreihe begleiten drei Motorradfahrer von der Straße, die helfen sollen, das Thema Bremsen besser zu verstehen und die mit ihren ebenfalls aufgezeichneten Bremsversuchen ein klares Zeichen setzen: Wer die maximal mögliche Bremsverzögerung nicht im regelmäßigen Training spürt und erlebt, kann sie im Notfall auch nicht abrufen. Schon nach einer halben Stunde intensivem Bremstraining verkürzte sich der Bremsweg der drei Testkandidaten um gut 20 Prozent. Noch wichtiger als der verkürzte Bremsweg war das Verständnis, wie dieser zustande kommt, wie sich die physikalischen Bedingungen verändern und wo die Gefahren lauern. Worauf etwa Bäckermeister Rudi

Hanser auf der CBF 1000 mit quietschendem Vorderrad und fett qualmendem Hinterrad-Socken durch die Bremsgasse schlidderte. So effektiv gebremst, dürfte auch Herr Müllers Limousine mitsamt Wackeldackel ohne Schaden davon kommen. Und Rudi erst recht.

Wie man sich mit dem Motorrad am besten und sichersten durch den Großstadtdschungel kämpft, welche Gefahren dabei lauern und wie man diese am besten meistert, steht in Teil 6 der Serie „Perfekt fahren mit MOTORRAD“ Heft 20/2006.

TIPPS UND TRICKS Ein gutes Bremsgefühl stellt sich nur ein, wenn die Mechanik stimmt.

W

eil bei jeder Vollbremsung gewaltige Kräfte und Momente erzeugt werden, ist eine optimale Übertragung und Dosierung der Hand- und Fußkraft notwendig. Am Bremshebel selbst entsteht durch die mechanische Übersetzung eine enorm hohe Reibung an den Lagerstellen. Laufen diese ohne Schmierung trocken, lässt sich der Bremshebel bei hohem Druck durch das Losbrechmoment nur noch ruckartig bewegen. Aus diesem Grund müssen Bolzen und Reibfläche am Bremszylinder mit einem hochdruckfesten Fett oder Kupferpaste geschmiert werden (Bild 1). Nur so lassen sich die rohen Kräfte fein dosieren. Bei der Justierung der Handpumpe sollte diese so ausgerichtet werden, dass die ausgestreckten Finger und der Unterarm in einer Linie liegen. Durch Lösen der Klemmschrauben kann der Bremsgriff exakt in diese Position gebracht werde. Bei der Montage der meist asymmetrischen Klemmung darauf achten, dass zunächst die mit einem Pfeil und der Bezeichnung „up“ (oben) markierte Klemmschraube (Bild 2) so weit festgezogen wird, bis der Luftspalt geschlossen ist. Erst dann wird die Handpumpe mit der unteren Klemmschraube fixiert. Bei unsachgemäß montierten Klemmungen gibt die Bremspumpe beim Druck mit hoher Handkraft nach und schafft ein teigiges, indifferentes Bremsgefühl. Das subjektive Empfinden des Fahrers für die richtige Bremsdosierung beginnt bei der Reichweite zum Bremsgriff. Diese wird über die bei

Bild 3

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fast allen Maschinen vorgesehene Rastermechanik (Pfeil in Bild 3/4) so justiert, dass der Fahrer die Bremskraft mit möglichst viel Gefühl aufbauen kann. Dazu sollten versuchshalber alle Positionen durchgetestet werden. Nur so lässt sich die individuell optimale Hebelstellung herausfinden. Packt die ganze Hand zu, kann die Reichweite meist verkürzt werden, was ein bessere Bremsgefühl vermittelt (Bild 3). Giftige Supersportbremsen reagieren oft schon bei kleinster Handkraft mit brachialer Verzögerung, weshalb sich hier der Bremsvorgang mit nur zwei Fingern bewerkstelligen lässt. Wer so bremst, benötigt in vielen Fällen eine größere Reichweite, damit die Finger, die den Lenker umfassen, nicht eingeklemmt werden (Bild 4). Umständliches Umsetzen des Fußes bei der Hinterradbremse kostet wertvolle Zeit und stört die Dosierung des Bremsdrucks. Deshalb sollte der

Fußbremshebel so tief justiert werden, dass der Fuß ohne Verkrampfung auf dem Hebel ruht (Bild 5) und dieser bei Bedarf sofort aktiviert werden kann. Ein Problem beim harten Anbremsen von Kurven und gleichzeitigen Herunterschalten: das Hinterrad beginnt speziell bei großvolumigen Motoren mit hohem Bremsmoment zu stempeln, weshalb moderne Motorräder so genannte Anti-HoppingKupplungen besitzen. Ist dies nicht der Fall, erzielt der Fahrer den gleichen Effekt, wenn er nach dem Herunterschalten den Kupplungshebel mit wenig Kraft leicht gezogen hält. Damit bleibt die notwendige Bremswirkung des Motors erhalten, die Spitzen der unregelmäßigen Bremskraft die beim Verdichtungstakt im Motor entstehen, aber werden gekappt, die Stempelneigung wird unterbunden.

Bild 1

Bild 2

Bild 4

Bild 5

MOTORRAD test + technik 71

GEFAHRE

52 MOTORRAD test + technik

20/2006

N-

Perfekt fahren mit

Teil 6: Fahr en in der Stadt

DSCHUNGEL TEIL 1 IN MOTORRAD 6/2006 KURVENFAHREN, DIE THEORIE

TEIL 2 IN MOTORRAD 8/2006 KURVENFAHREN, DIE PRAXIS

TEIL 3 IN MOTORRAD 10/2006 FASZINATION SCHRÄGLAGE

TEIL 4 IN MOTORRAD 16/2006 FAHREN MIT GEPÄCK

TEIL 5 IN MOTORRAD 18/2006 EFFEKTIVES BREMSEN

TEIL 6 IN DIESEM HEFT FAHREN IN DER STADT

TEIL 7 IN MOTORRAD 22/2006 FAHREN BEI REGEN

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Auch wenn das Fahren in der Stadt zur alltäglichen Routine gehört, lauern im Großstadtgetümmel die hinterhältigsten Gefahren. Nur mit wachem Auge und dem siebten Sinn für brenzlige Situationen lässt sich die Durchquerung der City unbeschadet meistern.

Von Werner Koch; Fotos: fact; Zeichnungen: Wolfgang Müller

bgemacht, Engelchen, in einer Viertelstunde bin ich da.“ Keine Frage, für den hurtigen Ritt durch die Stadt schwingt sich der flotte Tommy grundsätzlich aufs Krad. Egal, ob zäher Berufsverkehr oder freie Fahrt bei Nacht, mit dem Motorrad ist er der Chef in der City. Staus und Kolonnenverkehr werden lässig abgehängt, verstopfte Kreuzungen auf kürzestem Weg durchstoßen. Und wenn’s mal richtig dicht ist, entflieht der Zweiradler mittels eleganter Kehrtwende auf engstem Raum. Außerdem: Ein freier Parkplatz ist garantiert, weil sich fürs Motorrad immer ein legales Plätzchen findet. Doch bei allen Vorzügen der einspurigen Mobilität sind die Gefahren im Verkehrsgetümmel nicht zu unterschätzen. Deshalb gilt an allen Kreuzungen und Einmündungen, an denen der ent gegenkommende Verkehr links abbiegen kann, Alarmstufe rot. Das heißt: den rollenden Gegenverkehr beobachten. Blinkt jemand links? Ordnet sich jemand ganz nah am Mittelstreifen ein und drosselt das Tempo – auch ohne den Blinker zu setzen? In diesem Augenblick muss jeder Motorradfahrer damit rechnen, dass das Auto stumpf die Fahrbahn kreuzt. Ob der Entgegenkommende das Motorrad auf dem

A

MOTORRAD test + technik 53

Der klassische Linksabbieger kreuzt den Weg des Motorradfahrers. Hat er den Blinker nicht gesetzt, ist er am gedrosselten Tempo und dem Fahren nah am Mittelstreifen zu erkennen. Bleibt die Frage: Bremsen oder ausweichen, was sich daraus ergibt, ob das Auto die Straße überquert oder auf halbem Weg stehen bleibt

volle Konzentration und stets bremsbereit. Zwei Finger liegen also auf dem Handbremshebel, der Fuß befindet sich über dem Bremspedal. Und zwar egal, ob sich das Szenario in der Nähe von Parkplätzen stadtnaher Erholungsgebiete, unscheinbaren Einfahrten zu entlegenen Bauernhöfen oder fett gekennzeichneten Linksabbiegerspuren abspielt. Unfälle mit linksabbiegendem Querverkehr gehören nach wie vor zu den häufigsten und leider auch zu den übelsten.

35 397

MOTORRADUNFÄLLE MIT PERSONENSCHÄDEN 2005

54 MOTORRAD test + technik

65

außerorts

997

innerorts

1062

670

14 185

14 855

Gesamt Verletzte Getötete

273

Quelle: Statistisches Bundesamt

35 670

Film hat oder nicht, lässt sich oft am Blick des Autofahrers ablesen. Schweift der bereits in die Abbiegerichtung oder sucht verwirrt nach einem Straßenschild oder sonst einer Orientierung, ist Vorsicht angebracht und das Tempo zu drosseln. Dieses Szenario gilt besonders auf schnellen Ausfallstraßen. Da dort das Tempo um einiges höher ist, sind die Folgen eines Seitenaufpralls umso schlimmer. Einziges Mittel, solch hochgradig riskante Passagen zu entschärfen: Tempo runter,

Autobahn

Die Unfallstatistik verdeutlicht, dass Motorradfahrer im Stadtverkehr erheblich gefährdet sind. In dieser Statistik sind jedoch auch alle Motorroller und Mopeds erfasst. Aufgrund der relativ geringen Geschwindigkeiten ist die Zahl der 273 tödlich verletzten Zweiradfahrer, das entspricht 0,765 Prozent, im Verhältnis zu den 35 670 Unfällen mit Personenschäden gering. Auf der Landstraße außerorts steigt die Zahl der tödlichen Unfälle aufgrund der höheren Geschwindigkeit auf 4,51, bei Autobahnfahrten auf 6,12 Prozent. In der Statistik nicht erfasst sind Motorradunfälle, die ohne Personenschäden ausgehen

Auch an Ampel-Kreuzungen sollte der Kradfahrer Vorsicht walten lassen. Hier gelten für den Motorradfahrer zwei Regeln. Zum einen sollte er sich beim kurz entschlossenen, harten Abbremsen vor einer gelben Ampel möglichst weit nach rechts verdünnisieren, weil der hinter ihm fahrende Autofahrer womöglich trotz der inzwischen hellroten Ampel den Sprint für sich entscheiden möchte. Und so wenig man sich auf das Signal Gelb-Rot-Stopp verlassen kann, sollte man auch Grün nicht ohne Kontrolle hinnehmen. Ein kurzer Seitenblick vor dem Start, zuerst nach links, dann nach rechts. Ansonsten kann der Querverkehr, der noch bei Hellrot aufs Gaspedal tritt, dem zackig bei Grün startenden Motorrad-Piloten rasch das Vorderrad krumm fahren. Wenn’s gut ausgeht. Aufmerksamkeit und Konzentration sind in der Stadt oberstes Gebot. Kreuz und quer geht’s auch zu, wenn der Zweiradfahrer den Joker der schlanken Einspurigkeit ausspielt und in ungebremster Fortbewegung durch den Stau balanciert. Was zwar nach StVO verboten ist, inzwischen aber fast überall von den Gesetzeshütern toleriert wird. Dabei muss jedem klar sein, dass dieses Durchschlängeln mit Risiken einhergeht, für die man im Fall der Fälle nicht pauschal den Auto-

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AUS SICHT DES AUTOKUTSCHERS Autofahrer queren unseren Weg nicht aus bösem Willen, sondern meist, weil sie einen übersehen. Die Fotos dokumentieren klar und deutlich, dass auch ein aufmerksamer Autofahrer durch die eingeschränkte Sicht das Motorrad oft übersieht, da es im toten Winkel verschwindet oder kaum erkennbar ist. Speziell die auf zwei Streben aufgeteilte A-Säule (links) stört den Blick beim Einbiegen und Wenden. Meist sind dann noch die Rücksitze mit Kopfstützen ausgerüstet, weshalb der Autofahrer sein Gefährt beim rückwärts Ausparken eher im Blindflug aus der Parklücke bugsiert. Deshalb gilt für Motorradfahrer: Sehen wir den Menschen am Lenkrad nicht, sieht uns dieser auch nicht, und wir müssen damit rechnen, dass er mit seinem Auto die Fahrbahn kreuzt

fahrer verantwortlich machen kann (siehe Kasten Seite 56/57). Dazu kommt, dass sich die Größe und Höhe der Vierräder in den letzten Jahren dramatisch verändert hat. Stichwort Van, Kleinsttransporter, Geländewagen, die dem Motorradfahrer die Sicht nach vorn verdecken. Womit wir bei einem der wichtigsten Punkte angelangt sind: der Wahrnehmung durch den Autofahrer. Denn wie bitte schön soll ein im Bürgerkäfig gefangener

Mensch bei Radiogedudel und Klimaanlage damit rechnen, dass sich ein Motorradfahrer millimeterscharf durch den Stau hangelt und ihm der ansatzlose Spurwechsel des Autolenkers vorkommt wie ein geplanter Mordanschlag? Wir als Motorradfahrer betrachten die Welt anders, auch wenn wir mit dem Pkw unterwegs sind. Doch wir müssen lernen, die Verkehrswelt nicht aus unserer Sicht, sondern aus der des reinen Autofahrers zu

Wenn die freie Spur zum Durchfädeln sehr eng wird, heißt es fußeln. Was zwar nicht sehr elegant ist, aber immer noch besser, als dem Wagenlenker den Lack zu zerkratzen. Tipp: Die Geschwindigkeit beim Rollen, in engen Kurven oder bei Spurwechseln mit sanftem Druck über die Hinterradbremse steuern

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sehen. Wir, für die ein Sprint von null auf 100 km/h in fünf Sekunden völlig normal ist, müssen erkennen, dass bei dem Mensch, der im Auto sitzt, ein anderer Film läuft. Der geht Einkaufen, ist unterwegs zum Steuerberater, bringt die Kinder zur Schule oder sucht verzweifelt nach einem Parkplatz, während wir in der Regel nur fahren wollen. Zügig, konzentriert, agil. Diese beiden Welten prallen speziell im Stadtverkehr brutal aufeinander.

Wer sich durch den Stau mogelt, sollte seine Pole Position vor der Grünphase eingenommen haben. Und aufgepasst: Besonders in Einkaufsstraßen kreuzen auch Fußgänger durch Staus. Noch eine Gefahr: Auf viel befahrenen Hauptstraßen drücken Lkw und Busse tiefe Rinnen in den Asphalt, die Motorräder aus der Bahn werfen können

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AUF KOLLISIONSKURS Mit diesen Fahrfehlern und Hinterhältigkeiten muss man im Stadtverkehr immer rechnen.

Der Super-GAU beim Überholen: Während man sich als Kradfahrer nur auf den Gegenverkehr konzentriert und bei scheinbar freier Strecke zum Überholen ansetzt, braut sich von links das Unheil zusammen. Denn der Autofahrer, der aus der versteckt liegenden Seitenstraße einbiegt, richtet seinen Blick logischerweise nur auf die linke Straßenseite. Ist diese frei, schwenkt er seinen Wagen schwungvoll auf die Fahrbahn, die man sich als Kradfahrer als Überholspur ausgedacht hatte. Diese brenzlige Situation ist nicht auf die Stadt beschränkt, sondern findet sich auf dem freien Land in allen möglichen Variationen wieder

Ob der Linksabbieger tatsächlich geblinkt hat oder nicht, ist nach dem Crash zweitrangig. Auf jeden Fall muss man als Motorradfahrer immer mit kurz entschlossenen Abbiegern rechnen, weshalb das Überholen von Autokolonnen stets mit einem gewissen Risiko verbunden ist. Um brenzlige Situationen zu vermeiden, sollte die Geschwindigkeit beim Überholen der Kolonnen sehr dezent gewählt sein. Sobald eine Möglichkeit zum Linksabbiegen in Sicht kommt, heißt das Vorsicht, im Zweifel Überholverbot. Abbiegemöglichkeiten sind nicht nur offizielle Kreuzungen, sondern auch Einfahrten zu Tankstellen oder Parkplätzen

Mitten im sanft dahinrollenden Verkehr fordert der nette Autofahrer vor uns den entgegenkommenden Fahrer zum Abbiegen auf. Womit der am rechten Rand balancierende Motorradfahrer absolut nicht gerechnet hat. Als Konsequenz müssen wir an solchen Passagen alle Möglichkeiten des Querverkehrs in unser GefahrenRepertoire aufnehmen und als Folge den Gegenverkehr in unseren Blickpunkt rücken. Was angesichts der immer höher und massiger werdenden Pkws nicht ganz einfach ist. Tipp: Wenn das Auto, an dem wir rechts vorbeirollen, langsamer wird, den Gegenverkehr kontrollieren und entsprechend das Tempo drosseln

Der Rückwärtsausparker zwingt unseren Motorradfahrer zu einem harschen Ausweichmanöver. Natürlich könnte man die Schuld an solchen Aktionen locker dem Autofahrer zuschieben. Doch die enorme Verkehrsdichte und Unübersichtlichkeit in den Stadtgebieten bringt auch aufmerksame Autofahrer zuweilen in die Bredouille. Deshalb ist der Motorradfahrer gefordert, muss sich konzentriert, mit viel Umsicht und Fantasie auf alle möglichen Situationen vorbereiten. Auch auf die unvermittelt aufspringende Autotür, aus der ihm das kleine Mädchen vors Rad hüpft

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Vorsicht, Rutschgefahr. Auf den weißen Fahrbahnmarkierungen geht es bei trockenem Wetter noch ganz flott ums Eck, bei Nässe dagegen ist der aufgebrachte Kunststoff spiegelglatt. Das gilt auch für viel befahrene Straßen, die insbesondere im Bereich der Kreuzungen und Ampeln durch abtropfendes Öl bei Regen zum Teil extrem rutschig werden. Und immer dran denken: In der Stadt kommen die Reifen nie auf eine ordentliche Temperatur, also fehlt es auch an Haftung

Der Motorradfahrer wird vom abrupten Abbiegen des Autofahrers überrumpelt. Oft ohne Blinker oder sonstige Anzeichen wechseln Autofahrer die Spur, um zu wenden oder einfach auf eine andere Straße zu gelangen. Solche Entscheidungen fallen häufig in Sekundenbruchteilen und werden dann ohne Blick in den Rückspiegel, vor allem nicht in den rechten, umgesetzt. Auch hier gilt: Jede Abbiegemöglichkeit nach rechts ist eine potenzielle Gefahrenstelle. Außerdem nutzen Fußgänger gern den langsam dahinfließenden Verkehr zum Überqueren der Fahrbahn und treten scheinbar urplötzlich hinter sichtversperrenden Lkw hervor

Was uns Motorradfahrern bleibt, ist die Anpassung der Geschwindigkeit an die reale Verkehrswelt. Wenn wir mit Tempo 30 auf eine Straße einbiegen und auf Tacho-Tempo 60 km/h beschleunigen, vergehen mit einem 85PS-Motorrad nur 1,3 Sekunden. In dieser Zeit legen wir 13 Meter zurück. Ein Autofahrer, der an der Kreuzung steht, etwas unsicher den Querverkehr beäugt und dann loszuckelt, benötigt für seinen Startvorgang bis zu drei Sekunden. „Um Gottes Willen, wo sind denn Sie hergekommen, ich hab’ Sie gar nicht gesehen.“ Das ist dann meist die völlig perplexe Reaktion, wenn das Krad im Kotflügel steckt. Schuld am Desaster ist nicht der als böse und rücksichtslos verdächtigte Autolenker, sondern die völlig unterschiedlichen Ansätze der mobilen Fortbewegung: Wir und unsere Motorräder sind zu flink für diese Welt. Zumindest für die Welt der eingedosten Stadtbummler, die sich im City-Verkehr mit allem beschäftigen, nur nicht mit dem heranbrausenden Zweirad. www.motorradonline.de

Der Klassiker: Linksabbieger mit und ohne Blinker queren die Fahrbahn. Jetzt heißt es reagieren. Entweder bremsen, was in jedem Fall eine Reduzierung der Geschwindigkeit bedeutet und den womöglich unvermeidbaren Aufprall abschwächt. Oder doch besser ausweichen? Dazu gehört eine ordentliche Portion Fahrkönnen, weil sich ein Motorrad nur mit beherztem Lenkimpuls um ein Hindernis herumzirkeln lässt. Wer halbherzig zupackt, wird’s kaum schaffen. Die in der Fahrschule gelehrte Kombination aus Bremsen mit anschließendem Ausweichen ist im Ernstfall kaum machbar und erfordert zudem eine gute Feinmotorik

Weshalb wir immer wieder in Notsituationen geraten. In denen muss in Sekundenbruchteilen die Entscheidung fallen: voll in die Eisen oder Ausweichen. Beides gleichzeitig lässt sich aus fahrphysikalischen Gründen nicht umsetzen. Wobei innerorts bei Tempo 50 die Vollbremsung in den meisten Fällen die bessere Lösung ist, weil dabei auf jeden Fall die Geschwindigkeit reduziert wird, was bei einem Aufprall entscheidend ist. Zudem sind die Bremswege aus niedrigeren Geschwindigkeiten sehr kurz. Aus 50 km/h bringt ein sehr guter Fahrer sein Motorrad nach zirka zehn Metern zum Stehen (Verzögerung 9,6m/s2). Bei 30 km/h genügen schon 3,6 Meter. Weniger Geübte benötigen dazu kaum länger (zwölf Meter aus 50 km/h und 4,3 Meter aus 30 km/h). Wer in solchen Situationen ein gutes ABS zur Verfügung hat, gewinnt entscheidend an Metern, da er mit geringster zeitlicher Verzögerung eine maximale Bremsung auf den Asphalt legt. Die in der Fahrschule praktizierte Kombination aus Bremsen und anschließendem Ausweichmanöver wird erst ab 80 km/h

wirklich effizient. Und selbst dann ist der Fahrer maximal gefordert. Christian Auernhammer, Ex-Rennfahrer und ADAC-Motorrad-Instruktor, hat erkannt, dass diese Kombination nur im synthetischen Training funktioniert. „In kaum mehr als zwei Sekunden effektiv bremsen und sofort danach hart ausweichen, das schaffen allein sehr talentierte Motorradfahrer.“ Kommt es doch zu dem Fall, dass der beherzte Spurwechsel einen Aufprall verhindert, zum Beispiel bei einer plötzlich geöffneten Autotüre, muss klar sein, dass dieses Vorhaben nur gelingt, wenn der Fahrer mit aller Macht blitzartig einen Lenkimpuls einbringt (siehe Serie Teil 1 und 2). Nach den Aufzeichnungen des Datarecordings muss der MOTORRAD-Testprofi für einen wirklich effizienten Spurwechsel von drei Metern mit rund 30 Kilogramm am Lenker zerren. Was dazu führt, dass die Maschine bei solch harschem Schräglagenwechsel hinten wie vorn bis zum Anschlag durchfedert. Beim Fahrversuch mit einem wenig trainierten Kradler zeigte sich, dass dieser lediglich die halbe Kraft aufwendet, wodurch sich das Ausweichmanöver dramatisch verlängert. Der Grund für die Zögerlichkeit: Man traut sich nicht zu, das Motorrad derart brutal auf Kurs zu bringen, weil solche Manöver im normalen Fahrbetrieb höchst selten gefordert sind. Weshalb sich auch beim Thema Fahren in der Stadt unmissverständlich zeigt: Nur wer sein Krad beherrscht und regelmäßig trainiert, kommt ungeschoren zum Rendezvous mit seinem Engelchen. Es wird Herbst. Und mit dem Herbst kommt der Regen. Wie man auf nassen Straßen sicher vorankommt, welcher Fahrstil am besten zum rutschigen Untergrund passt und welche Reifen sich am besten schlagen, steht in MOTORRAD Heft 22/2006.

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