2. TEIL WIRKUNG UND WIRKSAMKEIT VON RITUALEN

Jungaberle, H., Verres, R., & DuBois, F. (2006). Grenzerfahrung und Transgression in Ritualen. In H. Jungaberle, R. Verres & F. DuBois (Eds.), Rituale...
Author: Christoph Roth
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Jungaberle, H., Verres, R., & DuBois, F. (2006). Grenzerfahrung und Transgression in Ritualen. In H. Jungaberle, R. Verres & F. DuBois (Eds.), Rituale erneuern. Ritualdynamik und Grenzerfahrung in interdisziplinärer Perspektive (pp. 125-129). Gießen: Psychosozial Verlag.

2. TEIL WIRKUNG UND WIRKSAMKEIT VON RITUALEN Sind Rituale wirksam, und wenn ja: was bewirken sie und wodurch wirken sie? Für manche naturwissenschaftlich-positivistisch denkenden Menschen steht der Begriff Ritual für „Placebo“, Unsinn, Täuschung – und Unwirksamkeit (zum Beispiel von Heilversuchen). Lange Zeit galt die Verbindung von Religion und Ritual als Sinnbild für Irrationalität und unaufgeklärten Mystizismus. Auch die Auffassung, Rituale seien Ausdruck einer „primitiven“ Entwicklungsstufe gesellschaftlicher Formen, hat seine Spuren in heutigem Denken hinterlassen. Anhänger der Kritischen Theorie wiederum haben die kollektivierende Funktion von Ritualen angefochten. Rituale schränkten demnach die Autonomiefähigkeit von Menschen ein. Soziologische Ansätze in der Nachfolge von Émile Durkheim, Strukturalisten, Performanz-Theoretiker, aber zunehmend auch systemtheoretisch argumentierende Autoren betonen bei eher neutralem Unterton die ordnende Funktion von Ritualen. Soziale und individuelle Realitäten könnten demnach nicht ohne die Mechanismen des Rituals entstehen. Auf ähnliche Schlüsse läuft die biokulturelle Theorie von Charles D. Laughlin Jr. hinaus, der soziologische Gesichtspunkte um evolutionsgeschichtliche und neurophysiologische Argumente erweitert hat. All diese Theorien scheinen verschiedene Formen von Gestaltung und Veränderung durch rituelles Handeln in den Blick zu nehmen. Auch innerhalb von Ritualgemeinschaften gibt es Kontroversen zur Wirksamkeit. Nennen wir beispielhaft den innerchristlichen, liturgischen Streit um die Bedeutung der Eucharistie. Hier wurde und wird darum gestritten, ob in Brot und Wein der Leib Jesu

Christi real gegenwärtig oder nur symbolisch vertreten sei. Beide Auffassungen generieren völlig verschiedene Theorien von Wirksamkeit im liturgischen Ritual. Solcherlei Überlegungen führen uns zur Frage nach der Unterscheidung von Wirkung und Wirksamkeit. Von Wirkungen (Effekten) zu sprechen meint zunächst alle Veränderungen, die durch Rituale bei Einzelnen oder Gruppen - und nicht zu vergessen: deren „wissenschaftlichen“ Beobachtern - hervorgerufen werden. Wirksamkeit (effectiveness bzw. efficacy) hingegen bezeichnet den Einfluss von Ritualen auf vom Beobachter explizit definierte Dimensionen der Realität – beispielsweise also die Wirkung von Heilritualen auf ein diagnostizierbares organisches Substrat oder auf die subjektiven Krankheits- und Genesungstheorien der beteiligten Menschen in der jeweiligen Gemeinschaft. Die Ritual-Wirksamkeitsforschung erweist sich dabei als mindestens so komplex wie die Psychotherapieforschung – und ist empirisch gesehen noch immer Neuland, obschon es nicht an theoretischen Abhandlungen mangelt. Kontrollierte, randomisierte Studien sind auch in der Psychotherapieforschung nur einer unter vielen methodischen Zugängen. Kasuistiken werden von vielen heute nicht mehr als ausreichend betrachtet. In naturalistischen Feldstudien, wie sie die Mehrzahl ethnologischer Forscher durchführen, werden stark beeinflussende Methoden wiederum ausgeschlossen. Allerdings führt die derzeit gängige methodische Beschränkung auf „teilnehmende Beobachtung“ von Ritualen im Verbund mit einer stark historischkulturgeschichtlichen Ausrichtung vieler Forscher leicht zu einer Stimmenvielfalt kulturrelativistischer Einzelbeschreibungen, die ein starkes Problem der Generalisierbarkeit aufwerfen. Was also ist das gemeinsam Wirksame an Ritualen? Kann man Wirkprinzipien formulieren? Wir befinden uns erst am Beginn einer Debatte.

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Im Rahmen der Wirkungs- und Wirksamkeitsfrage sollten zumindest folgende Punkte geklärt werden24: Wer oder was wird als Wirkungs-Subjekt bezeichnet, wer also wirkt (Menschen, Götter, „das Ritual“ …)? Welche Wirkintentionen werden von den Durchführenden selber angegeben? Auf welcher Ebene soll Wirksamkeit festgestellt werden: der sozial- oder individualpsychologischen, der dogmatischen, der körperlichen usw.? Ist das beobachtete Ritual „ordnungsgemäß“ durchgeführt worden bzw. stimmten die Kontextbedingungen des Rituals, um die beabsichtige Wirkung überhaupt erzielen zu können? Welche subjektiven Theorien tragen auf Seiten der Ritualakteure zum Erzeugen von Wirkungen bei? Welche rituellen Techniken werden eingesetzt? Schließlich ist auch zwischen verschiedenen Gruppen von Ritualteilnehmern zu unterscheiden: einerseits beinahe unbeteiligte, aber als rituelle „Kulisse“ oft unersetzbare Audienzen, andereseits für die Durchführung des Rituals zwingend notwendige Gruppen und Einzelne, für die oder um die herum das Geschehen stattfindet (Wirkungs-Objekte). Insofern all diese möglichen und notwendigen Operationalisierungen noch nicht Teil der Ritual-Forschungspraxis geworden sind, stellen sich die nachfolgenden Texte als Einführung in diese und weitere Dimensionen ritueller Wirksamkeit dar. Der Beitrag von Stephan Marks über Rituale im Nationalsozialismus schneidet das Thema Autonomie versus Suggestibilität an. Als Sozialwissenschaftler stellt er hier die subjektorientierte Frage, welche psychologischen Mechanismen in den Ritualen des Nazi-Regimes für eine Verankerung nationalsozialistischen Gedankenguts und darüber hinaus eben auch für die Erzeugung einer affirmativen Haltung zum System mit

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Einige dieser Unterscheidungen sind im Arbeitskreis „Wirksamkeit von Ritualen“ (Leitung: William Sax) des SFB 619 Ritualdynamik thematisiert worden.

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verantwortlich gemacht werden können. Sein Kommentator Franz Macjiewski argumentiert vor dem Hintergrund einer traditionellen, soziologisch-historischen Perspektive. Offensichtlich treffen hier Erklärungsansätze aufeinander, die verschiedene Dimensionen des desselben Phänomens erfassen möchten, jedoch kaum miteinander kommunizieren. Rolf Verres fragt, warum Menschen an Ritualen teilnehmen. Aus Sicht der Psychologie ist gemeinschaftliches Verhalten von Motivationen der Individuen vermittelt. Wie kommt das Ritual zum Menschen beziehungsweise wie kommt der Mensch also zum Ritual? Die in der Ritualforschung noch seltene psychologische Perspektive erfordert dabei eine Sichtung verschiedenster Motivationstheorien, um sie für ein Verständnis ritueller Prozesse fruchtbar zu machen. Dabei wendet Verres einen Kunstgriff an: er tut so, als ob die Entscheidung, an Ritualen teilzunehmen, dem Einzelnen freigestellt sei. In pluralistischen Gesellschaften wächst tatsächlich die Möglichkeit der Auswahl und schwindet die vermeintliche Unvermeidlichkeit der rituellen Zwänge. Das Vorhandensein von Bestattungs-Kulten wurde schon früh als Merkmal des Menschseins herangezogen. Einige Ethologen beschreiben davon Ansätze bereits im Tierreich. Mit dem kontinuierlichen Verschwinden traditioneller religiöser Bindungen in der europäischen Moderne stehen plötzlich auch die Rituale der Bestattung zur Debatte. Wie kann man sich von den Angehörigen verabschieden, wenn man weder Christ noch Moslem ist, sich den althergebrachten Bräuchen entfremdet fühlt und dennoch eine Feier zu Ehren des Toten ausgerichtet werden soll? Dieser zivilisationsgeschichtlich neuen Perspektive widmet sich – als Praktiker – der Bestattungsunternehmer Fritz Roth, der selber für die Kreation neuer Rituale eintritt und mit seinen Thesen zum Berühren der Toten sowie der Trauer als Mittelpunkt des

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Rituals von Rolf Verres aus medizinisch-psychologischer Perspektive kommentiert wird. Die disziplinäre Grenzen überschreitende Forschung von Sabine Rittner dürfte weltweit rar sein. Im Kontext der Heidelberger Universitätsklinik führt sie als wissenschaftlich tätige Musiktherapeutin Menschen an ein „wiederbelebtes“ rituelles Geschehen heran, das nach Auffassung der Kulturanthropologin Felicitas Goodman bis in die Zeit vor Entstehung der Ackerbaukulturen zurückreicht. Durch eine Kombination von bildgebenden Verfahren der modernen EEG-Forschung, Fragebogenerhebung und Interviewführung zeigt Sabine Rittner unkonventionelle Synthesemöglichkeiten. Interessant ist, dass gerade in diesen zwischen Ritualtransfer und –invention schwingenden, workshop-artig praktizierten Formen der rituellen Körperhaltung Erfahrungsinhalte auftauchen, die transkulturell vergleichbare Symboliken hervorbringen. Der von William James so genannte „radikale Empirismus“ zeigt sich hier einmal mehr als weiterhin aktuelle und angemessene methodische Grundhaltung. Der Kulturpsychologe Norbert Groeben hat einen unseres Erachtens wesentlichen Beitrag zur Kritik des Ritualbegriffs verfasst. Ein differenziertes Verständnis von dessen Grenzen muss der Wirksamkeitsfrage vorausgehen. Groeben fragt kritisch nach der Werturteilsfreiheit von Ritualkonzepten, und er fordert eine explizite Stellungnahme von Theoretikern zu diesem Punkt. Auch hält er aus Sicht des Psychologen eine Differenzierung zwischen kollektiven und individuellen Instanzen im rituellen Geschehen für unerlässlich – während sein Kommentator Klaus-Peter Köpping mit Beispielen aus dem shintoistischen Japan auf die verwirrende Vielfalt und manchmal paradoxe Widersprüchlichkeit multipler individueller Intentionalitäten im Ritual hinweist.

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Angesichts solcher Multidimensionalität von Wirkebenen lässt sich der theoretische Verdacht äußern, dass die Unübersichtlichkeit und Komplexität des rituellen Geschehens selber zu dessen Wirkfaktoren zählt: Was mehr ist, als der Einzelne überblicken und beobachten kann, erhält leicht den Nimbus des Zauberhaften, Bedeutsamen, manchmal des Sakralen. Nicht umsonst zählt der Religionswissenschaftler Huston Smith zu den wichtigsten Komponenten des Sakralen dessen Nicht-Kontrollierbarkeit. Der Beitrag des Hypnose-Forschers Dirk Revenstorf bietet Denkanstösse zum Verständnis von Bewusstseinsveränderungen, die gerade auch bei Ritualen auftreten können. Auch wenn Revenstorf kaum direkt auf rituelles Verhalten, Tun oder Handeln zu sprechen kommt, ist beispielsweise die Frage wichtig durch welche (rituellen) Mechanismen und unter welchen Umständen Menschen dazu bewegt werden, die kognitive Selbststeuerung aufzugeben und sich veränderten Bewusstseinszuständen zu überlassen – wie sie von vielen Ritualen evoziert werden. Revenstorf konfrontiert außerdem mit einer aus der Tiefenpsychologie inspirierten Denkweise, die ontogenetische und phylogenetische Entwicklungsmöglichkeiten des Bewusstseins thematisiert, die sich gerade im rituellen Zusammenhang wieder finden dürften. Die Herausgeber

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