1.2 Klassifikation und Epidemiologie chronischer Kopfschmerzen

1.2 Klassifikation und Epidemiologie chronischer Kopfschmerzen ● ● ● ● ● ● ● wachsam sein für „life events“ im Leben des Patienten, die familiär...
Author: Lilli Dieter
2 downloads 2 Views 1MB Size
1.2 Klassifikation und Epidemiologie chronischer Kopfschmerzen ●





● ● ●



wachsam sein für „life events“ im Leben des Patienten, die familiären und beruflichen Wechselwirkungen mit der Schmerzerkrankung abschätzen, eine ausführliche Edukation zum Schmerzsyndrom und zu den Implikationen für die Alltagsgestaltung geben (z. B. Schonverhalten ja/nein), PMR vermitteln, zum Ausdauersport anleiten, einfache Trigger (Nahrung, Genussmittel, Umwelteinflüsse, etc.) identifizieren und triggerorientiertes Verhalten modifizieren (Kap. 5) und psychologisches Test-Screening von Angst und Depressivität durchführen.

▶ Psychische Komorbidität. Sind jedoch bei einem Kopfschmerzpatienten deutliche Anzeichen einer psychischen oder psychiatrischen Komorbidität (z. B. Angst, Depressivität, Persönlichkeitsstörung) oder einer akuten Belastungsstörung (z. B. Familien- oder Partnerschaftskonflikte) erkennbar, muss der Arzt diesen Patienten an einen Psychotherapeuten überweisen. Idealerweise sollte dies ein Schmerzpsychotherapeut sein. Falls nicht vorhanden, kann die Aufgaben auch ein versierter Verhaltenstherapeut übernehmen. Dieser ist im niedergelassenen Bereich leicht zu finden. Größere Kopfschmerzeinrichtungen sind mittlerweile dazu übergegangen, Verhaltenstherapeuten für ein bestimmtes Zeitkontingent auf Honorarbasis einzubinden, falls eine Einstellung nicht möglich ist. Bei diesem eher „seriellen“ Vorgehen ist der Benefit eines interdisziplinären Vorgehens geringer, jedoch höher als wenn gar kein Psychotherapeut hinzugezogen würde. Psychologische Schmerztherapeuten sind unverzichtbar, wenn: ● gut wirksame Medikamentenklassen wiederholt versagen, ● eine Symptomverschiebung oder -erweiterung eingetreten ist, ● eine differenzierte psychologische Testung notwendig ist, ● ein Medikamentenabusus vorliegt (insbesondere psychotrope Medikamente), ● die soziale Umgebung des Patienten desolat eingeschätzt wird oder ● der Behandler kaum noch Empathie aufbringen kann.

interdisziplinär arbeitenden Einrichtungen zu unterschiedlich organisiert sind. Stationäre Einrichtungen (z. B. neurologische Kliniken) rechnen über die DRG’s ab, IV-Einrichtungen bekommen von den Krankenkassen eine Pro-Patient-Pauschale, einige Schmerzambulanzen haben eine Ermächtigung, in der jede einzelne Maßnahme (z. B. auch psychologische Tests) abgerechnet werden können und einige Einrichtungen werden diese Leistungen mit Euro-EBM, GOÄ/GOP, Drittmittel, Spenden etc. finanziell kompensieren müssen.

1

1.2 Klassifikation und Epidemiologie chronischer Kopfschmerzen G. Haag, C. Gaul

1.2.1 Bedeutung von Klassifikationssystemen Die präzise Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen ist der entscheidende Schritt für die eindeutige Beschreibung von Pathophysiologie und Symptomatik sowie für die Einleitung einer effektiven Kopfschmerztherapie. Ohne eine klare Struktur in der Kopfschmerzdiagnostik sowie ohne eine differenzierte Einteilung der verschiedenen Kopfschmerzerkrankungen und Erhebung der einzelnen Kopfschmerzsymptome kann keine syndromspezifische Therapie erfolgen. In der 2. Auflage der „Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen“ (ICHD-II) von 2004 (IHS 2004) (die Neufassung als ICHD-III ist aktuell in Arbeit) wird betont, dass „Klassifikation bedeutet, dass entschieden werden muss, welche diagnostischen Entitäten anerkannt werden sollten und wie sie in eine geeignete Ordnung gebracht werden können“. Nur eine international anerkannte Klassifikation, die auch tatsächlich die Praxis der Kopfschmerzdiagnostik und Behandlung im Laufe der Jahre durchdringt, kann genutzt werden, um Erkenntnisse aus klinischen Studien zur Therapie tatsächlich in der Praxis einzusetzen.

Über die Finanzierbarkeit interdisziplinärer Leistungen kann hier nur wenig gesagt werden, da die

19

Allgemeine Einführung

1.2.2 Klassifikationsprinzipien der Internationalen Kopfschmerzklassifikation

1

Die ICHD-II klassifiziert alle Kopfschmerzerkrankungen gleichartig. Die Klassifikation selbst ist hierarchisch aufgebaut, sie unterscheidet primäre von sekundären Kopfschmerzen sowie Gesichtsschmerzen bzw. Neuralgien im Kopfbereich.

1.2.3 Primäre Kopfschmerzerkrankungen Definition

L ●

Primäre Kopfschmerzerkrankungen

Primäre Kopfschmerzerkrankungen sind solche, denen keine strukturelle Veränderung oder andere Erkrankung zugrunde liegt – am häufigsten sind hierbei Kopfschmerzen vom Spannungstyp (Tension Type Headache, TTH) und die Migräne. ▶ Diagnosekriterien. Die einzelnen Diagnosen werden dann weiter nach unterschiedlichen Kriterien differenziert (zusätzliches Auftreten einer Aura bei der Migräne, chronischer oder episodischer Verlaufstyp usw.). Die festgelegten Diagnosekriterien sind in einer Anamnese abzufragen und werden durch eine klinisch-neurologische Untersuchung ergänzt, die Diagnose kann also rein auf klinischen Kriterien basierend gestellt werden. Die Kriterien erfassen meist die Häufigkeit und die Attackendauer einer Kopfschmerzerkrankung sowie das Auftreten von Begleitsymptomen (Tränen eines Auges, Übelkeit u. a.). Außerdem spielt das einseitige Auftreten in Abgrenzung zum bilateralen Kopfschmerz sowie die Schmerzqualität (stechend, drückend u. a.) eine Rolle. Bei einigen Diagnosen werden einzelne Kriterien als obligat angesehen (z. B. Ansprechen auf Indomethacin bei paroxysmaler Hemikranie). Bei anderen wiederum muss ein Symptom aus einer Auswahl nachgewiesen sein (z. B. Während des Kopfschmerzes besteht mindestens eines: Übelkeit und/oder Erbrechen oder Photophobie und Phonophobie bei der Migräne). Ist die klinisch-neurologische Untersuchung auffällig, muss indikationsspezifisch weitere Diagnostik veranlasst werden. Technische Diagnostik dient dem gezielten Ausschluss anderer Pathologien. Lediglich bei trigemino-autonomen Kopfschmerz-

20

erkrankungen muss eine solche Diagnostik (insbesondere zerebrale Bildgebung) auch bei unauffälligem klinischem Befund erfolgen, um einen sekundären Kopfschmerz nicht zu übersehen (z. B. kann das klinische Bild eines Clusterkopfschmerzes durch eine hypophysäre Raumforderung imitiert werden).

1.2.4 Sekundäre Kopfschmerzerkrankungen Definition

L ●

Sekundäre Kopfschmerzerkrankungen

Sekundäre Kopfschmerzerkrankungen sind Folge einer anderen Erkrankung oder Verletzung – hier sind eine weitere Diagnostik und wenn möglich eine kausale Therapie erforderlich. Eingesetzt werden dazu zerebrale Bildgebung, Labor, Liquordiagnostik und im Einzelfall auch weitere technische Untersuchungen. Während die Diagnostik bei einer primären Kopfschmerzerkrankung unauffällig bleibt, können bei sekundären Kopfschmerzen pathologische Befunde erhoben werden. Beim Erstkontakt, insbesondere in Notfallsprechstunden, ist also die entscheidende erste Frage, die sich der Untersucher stellen muss, die, ob es einen Anhalt für das Vorliegen einer sekundären Kopfschmerzerkrankung gibt. Diese Frage tritt in der Behandlung langjährig Erkrankter in Spezialsprechstunden in den Hintergrund, sollte jedoch nicht dazu verleiten anzunehmen, dass nur deshalb, weil jemand seit Jahren an seinen Kopfschmerzen leidet, es sich per se nicht um einen sekundären Kopfschmerz handeln könnte.

1.2.5 Chronischer Kopfschmerz und chronische Erkrankungen Primäre Kopfschmerzerkrankungen sind per se chronische Erkrankungen, die ICHD-II unterscheidet jedoch chronische von episodischen Erkrankungsverläufen und zieht dazu bei der Migräne und beim TTH die Anzahl der Kopfschmerztage pro Monat heran. Die Grenze markiert dabei das Überschreiten von 15 Kopfschmerztagen über 3 Monate. Für die Migräne konnte die Bedeutung dieser Unterscheidung in Bezug auf die damit verbundene Beeinträchtigung und psychische Komorbidität gezeigt werden, die bei der chronischen

1.2 Klassifikation und Epidemiologie chronischer Kopfschmerzen Verlaufsform höher liegt als bei der episodischen Migräne, die dabei errechnete Grenze lag bei 12,5 Tagen [367]. Die Einteilung aufgrund der Kopfschmerztage wird jedoch nicht in der gesamten Klassifikation streng durchgehalten. Beim TTH wird der episodische Verlauf noch in einen sporadischen (weniger als 12 Kopfschmerztage im Jahr auftretend) und einen häufig auftretenden episodischen TTH (mehr als einen, aber weniger als 15 Tage im Monat auftretend) unterteilt. Zusätzlich wird beim TTH weiter nach dem Vorhandensein einer erhöhten perikranialen Schmerzempfindlichkeit unterschieden, die mittels Palpation geprüft wird. Beim Clusterkopfschmerz wird hingegen von einem chronischen Verlauf gesprochen, wenn ganzjährig mit einer Unterbrechung von maximal einem Monat Clusterattacken auftreten. Diese Einteilungen helfen bei der Vergabe einer präzisen Diagnose – ob sie jedoch klinische Relevanz haben, wird kritisch gesehen: Ist eine Migräne weniger chronisch, wenn 13 statt 16 Kopfschmerztage im Monat bestehen? Hat es eine Relevanz, ob ein Clusterkopfschmerz in 10 oder in 11 Monaten im Jahr auftritt?

1.2.6 Epidemiologie von Kopfschmerzerkrankungen Kopfschmerzerkrankungen sind insgesamt sehr häufig, der Vergleich der Studien zur Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) und Inzidenz (Anzahl der Neuerkrankungen) von Kopfschmerzerkrankungen muss jedoch die Methodik der zugrunde liegenden Studien immer berücksichtigen, was die Interpretation und Vergleichbarkeit von Studien erschweren kann. Des Weiteren muss die Altersgruppe der Befragten und das Geschlecht Berücksichtigung bei der Abschätzung von Prävalenz und Inzidenz finden (z. B. ist die Prävalenz der Migräne bei jungen Erwachsenen höher als bei Kindern oder der Clusterkopfschmerz bei Männern deutlich häufiger als bei Frauen). Die Ergebnisse der Studien differieren in Abhängigkeit von den verwendeten Diagnosekriterien der Erkrankung. Besonders deutlich wird dies bei der chronischen Migräne. Vergleicht man epidemiologische Studien zur Häufigkeit, fallen deutliche Unterschiede auf, und zwar in Abhängigkeit davon, welche Definition zugrunde gelegt wird. Während eine eng gefasste Definition eine Prävalenz von 0,4 % ergab, stieg diese bis auf 2 % bei einer umfassenderen Definition an; ein scheinbar kleiner Unterschied, der

jedoch die Anzahl der Betroffenen allein durch eine Veränderung der Krankheitsdefinition um den Faktor 5 erhöht [271].

1

1.2.7 Prävalenz von Kopfschmerzen in Deutschland Neue Daten zur Kopfschmerzprävalenz in Deutschland lieferten z. B. die epidemiologischen Studien der Deutschen Migräne und Kopfschmerzgesellschaft. Erfasst wurde die 3-Monatsprävalenz von Kopfschmerzen bei Jugendlichen [149] mittels eines Fragebogens. Insgesamt 69,4 % aller befragten 3 324 Schüler gaben im 3-Monatszeitraum an, unter Kopfschmerzen gelitten zu haben (Jungen 59,5 %, Mädchen 78,9 %). Fünfzehn oder mehr Kopfschmerztage/Monat gaben 4,4 % der Befragten an. ▶ Migräne. Die Migräne hatte eine Prävalenz von 4,4 % bei Jungen und 9,3 % bei Mädchen, wenn modifizierte IHS-Kriterien angelegt wurden. 4,6 % der Jungen und 4,3 % der Mädchen gaben einen TTH an. Bei 7 417 Erwachsenen wurde die 6-Monatsprävalenz von Kopfschmerzen erhoben [394]. Migräne gaben 6,75 % der Bevölkerung an, bei weiteren 4,4 % lag möglicherweise ebenfalls eine Migräne vor (probable migraine); die Diagnosekriterien wurden von diesen Betroffenen nicht vollständig erfüllt, sodass insgesamt davon ausgegangen werden kann, dass um die 11 % der untersuchten Bevölkerung, mit einer Prädominanz des weiblichen Geschlechts, an einer Migräne leiden. Ein sicherer TTH lag bei 19,86 % und ein möglicher TTH lag bei 11,6 % vor, sodass man davon ausgehen kann, dass rund 30 % aller Erwachsenen innerhalb von 6 Monaten TTH haben. ▶ Clusterkopfschmerz. Die Inzidenz des Clusterkopfschmerzes wird populationsbasiert mit 7–119 pro 100 000 angegeben; in der epidemiologischen Studie der DMKG fand sich eine 12-Monatsprävalenz von 0,15 % [137]. Männer sind mit 3,4:1 häufiger betroffen als Frauen [181]. Das Ersterkrankungsalter liegt um das 30. Lebensjahr, jedoch kann der Clusterkopfschmerz bereits in der Kindheit auftreten. Etwa 10 % der Patienten mit Clusterkopfschmerzen haben einen chronischen Verlauf, d. h. bei ihnen treten die Kopfschmerzattacken ganzjährig auf und sind von Pausen kürzer als 4 Wochen unterbrochen.

21

Allgemeine Einführung Zu den meisten anderen Kopfschmerzerkrankungen existieren keine populationsbasierten epidemiologischen Studien, da sie sehr selten sind. Aber auch zu eigentlich nicht ganz so seltenen Erkrankungen wie der Trigeminusneuralgie liegen kaum verlässliche Zahlen vor, sondern es wurden Prävalenzen aus der Patientenzahl einzelner Zentren hochgerechnet.

1

1.2.8 Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch Für die Behandlung in Kopfschmerzsprechstunden und in Kliniken spielt der Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch (Medication Overuse Headache, MOH) eine erhebliche Rolle. Die ICHD führt ihn in der Gruppe der sekundären Kopfschmerzerkrankungen, es handelt sich jedoch um die Komplikation einer primären Kopfschmerzerkrankung, denn eine solche (meist eine Migräne) ist Voraussetzung dafür, dass unter häufiger Einnahme von Schmerzmitteln oder Triptanen Kopfschmerzen zunehmen können. Der Begriff Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch löste somit die früher verwendeten Begriffe wie „Rebound“-Kopfschmerz, medikamenteninduzierter Kopfschmerz, Kopfschmerz bei Medikamentenmissbrauch und den Kopfschmerz bei chronischer Substanzeinwirkung der 1. Auflage der ICHD-I (IHS 1988) ab. Neu hinzu kam das Kriterium, dass sich der MOH während der Übergebrauchsphase entwickeln oder sich vorbestehende Kopfschmerzen verschlechtern müssen. Zudem wurden spezielle Kopfschmerzphänotypen in Abhängigkeit von der übergebrauchten Substanzklasse eingeführt und die kausale Verknüpfung des Übergebrauchs mit der Krankheitsentität betont. Nahezu alle Migräne- oder Schmerzmittel können also gemäß ICHD-II, unabhängig von ihrem Wirkstoff, unabhängig davon, ob in Form eines Monooder Kombinationspräparats, unabhängig davon, ob ärztlich verordnet oder verschreibungsfrei erhältlich, zur Entwicklung eines MOH beitragen. Gerade im Hinblick auf die im Zusammenhang mit dem MOH geführte Diskussion zu Abhängigkeit und Suchtverhalten (Kap. 2.3) ist es unabdingbar, die übergebrauchte Akutmedikation in eine Gruppe von Analgetika mit psychotropen Effekten einschließlich Toleranzentwicklung, wiederholter Einnahme, Abhängigkeit und gelegentlich auftretender Entzugssymptomatik bei abruptem Absetzen und in eine Gruppe von Analgetika und Migrä-

22

nemitteln ohne psychotrope Effekte, wie antipyretische Analgetika oder NSAID mit und ohne Coffein, Ergotamine und Triptane zu trennen [155]. Nach den revidierten Diagnosekriterien ICHD-II R1 [465] wird der Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch unterschieden in einen Kopfschmerz ● bei Ergotaminübergebrauch, ● bei Triptanübergebrauch, ● bei Analgetikaübergebrauch, ● bei Opioidübergebrauch, ● bei Übergebrauch von Schmerzmittelmischpräparten ● bei einer Kombination von Kopfschmerzmedikamenten. Für die Substanzgruppen sind Grenzen der Einnahmehäufigkeit definiert (Triptane, Ergotamine, Opioide und Mischanalgetika 10 oder mehr Tage im Monat, Monoanalgetika 15 oder mehr Tage im Monat). Gefordert wird außerdem, dass der Kopfschmerz nach Absetzen der Akutmedikation abklingt oder zu seinem früheren Muster zurückkehrt. Für Deutschland kann eine MOH-Prävalenz von 0,1–0,5 % für die Allgemeinbevölkerung geschätzt werden, wobei Frauen deutlich häufiger betroffen zu sein scheinen als Männer.

1.3 Evidenz psychologischer Therapieverfahren G. Fritsche

1.3.1 Einleitung In den letzten 3 Jahrzehnten sind verschiedenartige psychologische Behandlungen weit verbreitet genutzt worden als unabhängige Therapie von meist chronischen Kopfschmerzen oder in Kombination mit einer pharmakologischen Therapie. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um verhaltenstherapeutische Ansätze. Psychodynamische und andere psychotherapeutische Verfahren haben bisher den Nachweis der spezifischen Wirksamkeit nicht erbringen können. Die Verhaltenstherapie (VT) und das ihr zugrunde liegende multidimensionale Ätiopathogenesemodell scheinen im besonderen Maße geeignet, die Frequenz von primären Kopfschmerzsyndromen und das Ausmaß der damit einhergehenden affektiven und be-

1.3 Evidenz psychologischer Therapieverfahren havioralen Beeinträchtigungen zu reduzieren (Kap. 3.2). Die wichtigsten verhaltenstherapeutischen Verfahren können 4 Kategorien zugewiesen werden [464]: 1. Entspannungstraining, 2. Biofeedback, 3. kognitive Verhaltenstherapie bzw. Stressmanagement und 4. Kombination von medizinischen und VT-Maßnahmen. VT-Indikationen orientieren sich an der Indikation für eine pharmakologische Prophylaxe. Danach kommen 3,8 % der deutschen Bevölkerung mit einer häufigen Migräne (> 4 Attacken pro Monat) und 3 % mit chronischen Kopfschmerzen vom Spannungstyp (Tension Type Headache, TTH) (> 15 Tage pro Monat) sowie alle Patienten (2 %) mit MOH (> 10 bzw. 15 Einnahmetage pro Monat) für eine psychologische Behandlung infrage [543]. Für alle VT-Verfahren ist eine zur Feststellung der Wirksamkeit ausreichende Studienlage gegeben.

1.3.2 Migräne Neben der medikamentösen und Bewegungstherapie stellt die psychologische Therapie die 3. Säule in der Prävention von Migräneanfällen dar. In den letzten 4 Jahrzehnten hat sich die VT als selbstständiges Verfahren und in Kombination mit pharmakologischen Behandlungsansätzen in der Migränebehandlung etabliert ([409], [242], [7], [74], [373]). Folgt man der amerikanischen [75] und der deutschen Leitlinie [116] der neurologischen Fachgesellschaften zur Behandlung von Migräne, so sind VT-Verfahren besonders geeignet für Patienten, die: ● nichtpharmakologische Behandlungen bevorzugen, ● pharmakologische Behandlungen schlecht tolerieren, ● Kontraindikationen für eine pharmakologische Prophylaxe aufweisen, ● unzureichend von einer medikamentösen Prophylaxe profitieren, ● schwanger sind oder stillen, ● eine hohe Schmerzmittel-Einnahmefrequenz aufweisen, ● übermäßigem Alltagsstress ausgesetzt sind, ● über schlechte Stressbewältigungsfähigkeiten verfügen.

Entspannungstraining

1

Die Vermittlung eines Entspannungsverfahrens stellt das am häufigsten verwendete VT-Verfahren in der Migränebehandlung dar. Das im Kopfschmerzbereich am besten untersuchte Entspannungsverfahren ist die Progressive Muskelrelaxation (PMR; auch Jacobson-Training; Kap. 3.5; [40]). Die Beurteilung der Wirksamkeit weiterer Entspannungsverfahren in der Kopfschmerzbehandlung, insbesondere von autogenem Training, Hypnose, Imagination, Meditation und Yoga, ist aufgrund fehlender Datenbasis nicht möglich. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Verfahren unwirksam wären oder nicht empfohlen werden können. Wahrscheinlich ist die Tatsache, dass ein Patient überhaupt ein Entspannungsverfahren erlernt und regelmäßig anwendet, bedeutsamer als die Tatsache, um welches Verfahren es sich handelt. Für die Umsetzung in den Alltag spielt zum einen die Praktikabilität (z. B. ist PMR leichter zu erlernen, weniger kostenintensiv und besser verfügbar als Biofeedback) und die Freude der Patienten bei der Durchführung eine entscheidende Rolle. Bezogen auf den Alltag bedeutet dies, dass es sinnvoller ist, dass ein Patient Entspannung regelmäßig mit QiGong in den Alltag implementiert als dass man ihm von diesem Verfahren abrät, weil dessen Effektivität zur Kopfschmerzprophylaxe nicht untersucht ist. In der Migränebehandlung erzielten singulär angewandte Entspannungsverfahren über die Studien hinweg eine mittlere Prä-Post-Verbesserung der Frequenz bzw. in einem Index von Frequenz, Dauer und Intensität von 41 % (▶ Tab. 1.2, Quelle: Campbell et al. 2000 [75], basierend auf Goslin et al. [212]). Die Effektstärke beträgt 0,55 (moderater Effekt) und liegt damit in dem Bereich, der für Propranolol angegeben wird [241]. Generell unterscheiden sich die verschiedenen Entspannungstechniken in ihrer Wirkung bei Migräne nicht [371]. Deshalb werden sie auch oft mit anderen unimodalen VT-Verfahren (häufig Biofeedback; BFB) kombiniert. So erzielte z. B. die Kombination von PMR und Temperatur-Biofeedback 1999 in der Metaanalyse von Goslin et al. [212] eine Verbesserung der Migräneaktivität von 33–50 % gegenüber 32–37 % Verbesserung durch die beiden Einzelverfahren [75].

23

Suggest Documents