100 Jahre Psychiatrie und Psychotherapie Wege der Depressionsbehandlung. Daniel Hell

100 Jahre Psychiatrie und Psychotherapie – Wege der Depressionsbehandlung Daniel Hell Die Psychiatrie hat in ihrer relativ jungen Geschichte nie zu ei...
Author: Jakob Friedrich
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100 Jahre Psychiatrie und Psychotherapie – Wege der Depressionsbehandlung Daniel Hell Die Psychiatrie hat in ihrer relativ jungen Geschichte nie zu einem einheitlichen, geschlossenen Krankheitsverständnis gefunden. Es gab zwar immer Bestrebungen, die Psychiatrie auf ein bestimmtes Konzept zu verpflichten. Bekannt ist der Wilhelm Griesinger zugeschriebene Satz: „Geisteskrankheiten sind Hirnkrankheiten“. Aber bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Griesinger, (der auch in Zürich als Professor für innere Medizin tätig war), diesen Satz geprägt haben soll – er findet sich nicht in seinem Gesamtwerk -, standen sich sog. Psychiker und Somatiker gegenüber. Auch heute ist die Psychiatrie vielfältiger und vielschichtiger, als die Vertreter einer Enzephialatrie, einer angewandten Hirnlehre, denken lassen. Auch der Versuch George Engel’s in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die Psychiatrie auf ein biopsychsoziales Verständnis zu verpflichten, hat nie die ganze Psychiatrie gewonnen und ist heute zum Teil zum Lippenbekenntnis verkommen. Noch komplexer als die Psychiatrie hat sich die Psychotherapie in die verschiedensten Äste verzweigt, wobei selbst die Hauptrichtungen der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie sich in verschiedene Untergruppen aufgeteilt haben. Diese Vielfalt an Therapieformen macht zwar die Psychotherapie schwer überblickbar, doch drückt sich in ihrer Verästelung auch die Vielschichtigkeit menschlicher Probleme und Lösungswege aus. Als die Hohenegg vor 100 Jahren gegründet wurde, war die institutionelle Psychiatrie in allen Ländern, auch in der Schweiz und in Zürich, wegen vieler Missstände bereits in die Kritik geraten. Auch prominente Vertreter der staatlichen Irrenanstalten bzw. Heil- und Pflegeanstalten, wie die psychiatrischen Kliniken damals genannt wurden, beklagten den schlechten Ausstattungsstand in ihren Kliniken. So stufte z.B. Eugen Bleuler in den Jahresberichten des Burghölzli die Ausbildungsqualität des Pflegepersonals als bedauerlich tief ein und beklagte die Überfüllung der Anstalt, sodass viele Kranke auf Bodenmatratzen zu schlafen hatten. Das Elend in den psychiatrischen Anstalten verschlimmerte sich noch in den Kriegsjahren. So litten in der Schaffhauser Anstalt Breitenau manche Patienten während des Ersten Weltkrieges an Hungerödemen. Der Aufschwung nach Kriegsende beendete zwar die grösste Not, doch liessen die Weltwirtschaftskrise und der anschliessende Zweite Weltkrieg keine grundlegenden Reformen zu. Insbesondere in Deutschland, Oesterreich und anderen nationalsozialistisch beherrschten Ländern verschlimmerte sich die Situation dramatisch. So wurden bekanntlich – mit pseudowissenschaftlicher Rationalisierung durch die Eugenik – sehr viele psychisch Kranke gegen ihren Willen sterilisiert. Noch schlimmer: Geisteskranke wurden als „unnütze Esser“ bezeichnet und zu Tausenden ermordet. Auch in der Schweiz wurde die Eugenik prominent vertreten, besonders von Auguste Forel, doch wurde hier viel zurückhaltender umgesetzt, was gesundheitspolitisch proklamiert worden war. Jedenfalls konnten aufwendige historische Untersuchungen von Droz und Wecker nur relativ wenige Sterilisationsfälle aus eugenischen Gründen bei psychisch Kranken in Zürich und Basel dokumentieren. Tötungsfälle sind in Zürich keine bekannt. Im Gegenteil haben manche bedrohte psychisch Kranke aus Deutschland im Burghölzli Schutz und Zuflucht erhalten. Als Beispiel für die Diskrepanz von eugenischer

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Theorie und praktischer Durchführung kann Eugen Bleuler herangezogen werden. Er vertrat zwar in Vorträgen und Schriften eugenisches Gedankengut und stimmte sogar in der Theorie bei unheilbaren und schwer leidenden Geisteskranken der Tötung zu, betreute aber andererseits seine chronisch kranke und bis an ihr Lebensende psychotische Schwester fürsorglich, wie er sich auch stets für seine hospitalisierten Patienten einsetzte. Trotzdem bleibt die Eugenik auch in der Schweiz ein dunkles Kapitel der Psychiatriegeschichte, das nicht verschwiegen werden soll. Im Gegenteil. An der geschichtlichen Epoche der Eugenik (die nach Entwicklung einfacher Operationsmethoden zur Sterilisation von Männern einsetzte) lassen sich meines Erachtens ganz spezifische Gefahren der Psychiatrie aufzeigen. Da ist einmal der Versuch zu nennen, überwältigendes psychosoziales Elend vorwiegend mit technischen Mitteln zu bewältigen. Diese Tendenz kann sich besonders gefährlich auswirken, wenn mit wissenschaftlichtechnischen Möglichkeiten auch das Image des eigenen Fachgebietes gesteigert werden kann und andererseits der Mitteleinsatz nicht kritisch reflektiert wird, sondern unter dem Druck der öffentlichen Meinung bzw. unter gesundheitspolitischen Forderungen unsachlich ausgedehnt wird. Glücklicherweise leben wir heute in der Schweiz unter Wohlstandsbedingungen, sodass dass diese Gefahr minimalisiert ist. Wir können sie aber nicht ganz übersehen. Für die Gründer der Hohenegg – insbesondere für den Zürcher Arzt Theodor Zangger – ergab sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine andere Herausforderung. Sie wollten dem Elend in den überfüllten staatlichen Kliniken mit einer privaten Alternative entgegen treten und gleichzeitig das Experiment wagen, die säkulare Wissenschaft der Psychiatrie auf ein christliches Fundament zu stellen. Die Psychiatrie ihrer Zeit war gegenüber religiösen Vorstellungen skeptisch bis ablehnend eingestellt. Auch Eugen Bleuler sah in der Religion eine „autistische Bildung“ und schloss sich diesbezüglich weitgehend Sigmund Freud an, der sie als „Kulturneurose“ betrachtete. Auf dem Hintergrund einer zum Teil erbitterten Auseinandersetzung zwischen den aufkommenden Seelenärzten und der bisher dominierenden kirchlichen Seelsorge hatte der „Verein der Deutschen Irrenärzte“ noch Ende des 19. Jahrhunderts verlangt, konfessionelles Pflegepersonal in Kliniken, auch in Privatkliniken, auszuschliessen, da die theologischen Theorien über Geisteskrankheiten zurück in die Zeiten der Hexenverbrennungen und Dämonenaustreibungen führten. Auf der andern Seite wurde die Psychiatrie von streng religiösen Kreisen als heidnisch oder als Teufelswerk abgetan. Anders die Gründer der Hohenegg. Sie wollten die Erkenntnisse der Psychiatrie für leidende Menschen einsetzen, aber mit christlicher Ethik verbinden. Sie verpflichteten deshalb von Beginn an gut ausgebildete Fachärzte für die Klinikleitung. Das war zunächst Kaspar Escher, dann Max Kesselring. Es ist diese Integration von christlicher Haltung und psychiatrischer Kompetenz, die den Hohenegger Geist über Jahrzehnte auszeichnete. Noch heute, nach vielen organisatorischen und strukturellen Veränderungen – auch nach dem Auszug der Neumünster Diakonissen und dem Einzug säkular eingestellter Mitarbeitenden – ist dieser Geist noch spürbar, allerdings in einer spirituell viel offeneren Form und mehr unter dem Stichwort „Achtsamkeit“ als unter traditionell christlichen Begriffen. Was die psychiatrische Fachkompetenz betrifft, so wurden in der Hohenegg die gleichen Methoden angewandt wie in der übrigen Psychiatrie. Manchmal zeigte sich die Hohenegg sogar besonders fortschrittlich in der Anwendung psychiatrischer Heilmittel. So kam das erste Antidepressivum Imipramin bereits im Jahr seiner Entdeckung (1957) in der Hohenegg zur Anwendung. Der Behandlungsschwerpunkt der Hohenegg lag allerdings fast immer auf der Psychotherapie. Das mag insofern überraschen, als auch spätere Psychiatrieprofessoren mit ganz anderer Spezialisierung die Hohenegg als Chefärzte

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leiteten, so Prof. Hans Binder (im Jahre 1942), der als herausragender forensischer Psychiater die Begutachtungspraxis im deutschen Raum in der Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, und Prof. Klaus Ernst (von 1959 bis 1968), der spätere Ordinarius für

Psychiatrie an der Universität Zürich. Aber auch diese beiden Chefärzte haben stets die Würde der Person – in der Tradition des jüdisch-christlichen Verständnisses – ins Zentrum ihrer Lehre gestellt. Sie haben - anders als die sog. personalisierte Psychiatrie den Personbegriff verwendet, um psychisch Kranken, auch Schwerstkranken und Dementen, als Jemand und nicht als blossen Organismus zu behandeln. Hans Binder hat sogar ein Hauptwerk über den Menschen als Person geschrieben und Klaus Ernst – kein Mann der grossen Worte – hat dieses Personale im klinischen Alltag im Dialog mit den Kranken vorgelebt. Wenn ich sagte, dass Psychotherapie stets ein Schwergewicht der Hohenegg darstellte, so will ich dies noch mit einigen Beispielen illustrieren. Bei der Eröffnung der Hohenegg im Jahre 1912 waren spezifische Psychotherapieformen noch wenig bekannt und kaum verbreitet. Nur im benachbarten Burghölzli hatte vor allem C.G. Jung mit seinen Patienten bereits Psychoanalyse betrieben. In der Hohenegg beschränkte sich die Seelenbehandlung auf ihren unspezifischen, aber bis heute wichtigsten Teil: auf die Beziehungsgestaltung zwischen Patient und Therapeut bzw. Pflegeperson. Es wurde nach dem Willen ihres Promotors Theodor Zangger und mit den Worten des langjährigen Chefarztes Max Kesselring darum gerungen, für die Kranken ein Mitmensch zu sein und den Einsamen und Verstossenen einen Familienersatz zu bieten. In blumigen Worten stellte Kesselring 1929 in einer Silvesteransprache fest: „In unserer schönen Hohenegg wollen wir, Gesunde und Kranke, eine grosse Familie bilden, wo wir einander helfen in der schönen Aufgabe, uns gegenseitig zu dienen und zu fördern.“ Die erste Form der Psychotherapie in der Hohenegg war also eine Art „therapeutische Gemeinschaft“, ein Fachbegriff, der allerdings erst ein halbes Jahrhundert später in der Psychiatrie aufkam, als die institutionelle Psychiatrie unter den Schlägen der Antipsychiatrie zur Psychiatriereform ansetzte und mit neu entdeckten Beziehungsformen die Verwahrungsmentalität der alten Anstalt überwinden sollte. Bereits 1920 führte der damalige Chefarzt Max Kesselring die Arbeits- oder Beschäftigungstherapie in der Hohenegg ein, aus der Überzeugung heraus, dass neben der Körperpflege und der Erholung und Kräftigung vor allem „nützliche Betätigung (von einfachen Arbeiten bis zum Kunstgewerbe)“ vor schädlichen Grübeleien schützt und das Gesunde fördert. Psychoanalytisch orientierte Behandlungen wurden v.a. nach dem Zweiten Weltkrieg angewandt, wobei Fritz Meerwein 1961 die Leitung der wöchentlichen Lehrkonsilien übernahm. Unter dem Chefarzt Sigfried Rotach wurde 1976 das Psychodrama, 1979 die Gestalttherapie und 1988 die Balint-Arbeit eingeführt. In den letzten Jahren erweiterten sich die psychotherapeutischen Methoden unter der ärztlichen Leitung von Toni Brühlmann sowohl in phänomenologisch-anthropologischer Hinsicht, wie bezüglich der kognitiven Verhaltenstherapie und weiterer Therapieformen. Der leiborientierte Ansatz, die sogenannte Körpertherapie, bekam durch die Einführung von Shiatsu, Qi Gong, Progressiver Muskelentspannung nach Jacobson und der FeldenkraisMethode einen grösseren Stellenwert. Dieser kurze Überblick über der Klinik Hohenegg Psychotherapieentwicklung. Magnetismus und Hypnose

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die Abfolge der angewandten Psychotherapiemethoden an liest sich wie ein Abriss der internationalen Zwar werden als erste Psychotherapiemethoden oft genannt, doch verbreitete sich der psychotherapeutische

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Ansatz zunächst in unspezifischer Form als „psychische Kurmethode“ im Sinne von Anteilnahme, Zuwendung und Beratung. Nach und nach setzten sich dann spezifische Psychotherapieformen durch, allen voran die bahnbrechende Psychoanalyse. Darauf folgten psychodynamische Weiterentwicklungen und Abwandlungen der klassischen Psychoanalyse (im Sinne der humanistischen Therapieformen) und schliesslich der Einsatz kognitiver Verhaltenstherapien mit störungsorientierter Ausrichtung. Ähnliches kann für die biologische Therapieentwicklung gesagt werden, wo sich an der Hohenegg ebenfalls die internationale Entwicklung spiegelt. So wurden vor Einführung der Neuroleptika 1953 und vor der Einführung der Antidepressiva 1957 auch an der Hohenegg zuerst Fieber- und Dauerschlafkuren, dann über viele Jahre hinweg Insulinund Elektroschockkuren durchgeführt. Heute haben diese eingreifenden und mitunter vital gefährlichen „grossen Kuren“ gezielteren Methoden Platz gemacht, insbesondere spezifisch auf bestimmte Botenstoffe ausgerichtete Antidepressiva sowie atypische Neuroleptika und Stimmungsstabilisatoren. Die angewandten psychiatrischen und psychotherapeutischen Methoden unterscheiden sich also an der Hohenegg kaum von anderen Kliniken. Was das Angebot der Hohenegg von anderen Kliniken unterscheidet, sind Lage und Komfort sowie die Ausdifferenzierung der Therapieangebote für eine besser gestellte Klientel, vor allem aber Haltungsaspekte. So wird z.B. bei depressiven Menschen besonders darauf geachtet, auf welche persönliche Weise sie mit ihrem krankheitsbedingten Verlust des psychischen und biosozialen Gleichgewichts ringen, um daraus Schlüsse zu ziehen, welcher Unterstützung und Therapie diese depressiven Menschen besonders bedürfen. Grundlage aller Behandlung ist das Verständnis und die Akzeptanz der einzelnen Person. Das ist leicht gesagt, im Alltag aber eine grosse Herausforderung. Es lohnt sich, diese Herausforderung umso mehr anzunehmen, als Heilung Begegnung voraussetzt und Psychotherapie nicht an der menschlichen Person vorbei gelingen kann. Abschliessend möchte ich die aufgezeigten Entwicklungsstränge der Psychiatrie und Psychotherapie im letzten Jahrhundert noch in einen grösseren, kulturellen und sozioökonomischen Rahmen stellen, sind doch Psychiatrie und Psychotherapie nicht aus den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen herauszulösen. Besonders eng sind die Zusammenhänge zwischen psychiatrischer Diagnostik und soziokulturellen Voraussetzungen. So hat die Zunahme der gestellten Depressionsdiagnosen und die Steigerung der Depressionsbehandlungen in den letzten Jahrzehnten nicht nur mit Fortschritten in der pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlungsweise zu tun, sondern auch und vor allem mit veränderten sozialen und kulturellen Voraussetzungen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich die Lebensbedingungen gerade in den westlichen Industrienationen mehrfach und wesentlich verändert. Gleichzeitig haben sich die Menschenbilder bzw. die Vorstellungen vom Leben und die Erwartungen an das eigene Leben mehrfach und tief gewandelt. Stichworte dieser gesellschaftlichen Entwicklung sind: Säkularisierung, Individualisierung, Globalisierung und Technisierung (inkl. Digitalisierung). In sozialpsychologischer Hinsicht ergab sich ein Trend zur Selbstverwirklichung und Autonomie, zu Leistungs- und Erfolgsorientierung oder, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht: Machsal statt Schicksal. Diese Veränderungen betreffen das gesamte Gesundheitswesen. Die Psychiatrie ist aber davon besonders betroffen, weil sich die veränderten Lebensweisen vor allem psychisch auswirken. So sind heute über zwei Drittel der Menschen bei der Arbeit nicht mehr körperlich, sondern dank Computerisierung und Flexibilisierung vor allem emotional und geistig gefordert. Konsequenterweise stossen moderne Menschen häufiger an ihre psychischen als an ihre körperlichen Grenzen. Zudem hat der Verlust an lokaler und

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familiärer Verwurzelung zur sozialen Destabilisierung vieler Personen beigetragen, sodass immer mehr Menschen Mühe bekunden, ihr seelisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Aufgrund epidemiologischer Untersuchungen wird geschätzt, dass heute jede

zweite Person durchmacht.

einmal

im

Leben

eine

behandlungsbedürftige

psychische

Störung

Eine solche Entwicklung war zur Gründerzeit der Hohenegg unvorstellbar. Psychische Krankheit wurde damals weitgehend mit Geisteskrankheit gleichgesetzt, was sich auch im Begriff des „manisch-depressiven Irreseins“ ausdrückte. Depression – ein Begriff, der übrigens im Deutschen erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkam – wurde zunächst weitgehend als ein schicksalhaftes, zyklisches Geschehen aufgefasst, das sich in der Regel mit Manie verband, wie sich Sommer und Winter als Jahreszeiten abwechseln. Emil Kraepelin, der die damalige Krankheitslehre prägte, rechnete nur schwerste Krankheitsformen zur Depression. Leichtere depressive Verstimmungen sah man zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch meist als normal an. Zwar wurden unter dem Einfluss der Psychoanalyse später auch neurotische und psychogene Depressionsformen beschrieben, aber der klassische Depressionstyp blieb bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die endogene Depression im Rahmen der manisch-depressiven Erkrankung. Als Ende der 50-er Jahre antidepressiv wirksame Substanzen entdeckt wurden, war – mindestens nach dem Bericht von Roland Kuhn, dem Entdecker von Imipramin – die Pharmaindustrie zunächst wenig an diesem antidepressiven Stoff interessiert, weil sie davon ausging, dass Depressionen in der Ausprägungsweise der manisch-depressiven Erkrankung, nicht sehr zahlreich waren (unter 1% der Bevölkerung). Das änderte sich aber rasch, als endogene Depressionen auch unabhängig von manisch-depressiven Verläufen, nämlich als rein rezidivierende Depressionen, beobachtet wurden und sich diese rein depressiven Störungen als viel zahlreicher als die manisch-depressiven Formen erwiesen. Dass allerdings Depressionen und depressive Verläufe vermehrt diagnostiziert wurden, hing auch von den neu entdeckten Therapiemöglichkeiten ab. David Healy hat in seinem Buch „Die antidepressive Ära“ eindrücklich nachgewiesen, wie die Popularisierung der Depressionsdiagnose von den Pharmafirmen gefördert wurde. Dabei wurden im Marketing der Antidepressiva-Werbung zunächst vor allem ältere Menschen ins Bild gebracht, während ab den 90-er Jahren mit Einführungen der SSRI sich das Schwergewicht der Werbung auf jüngere Menschen verlegte. In den letzten Jahrzehnten kam es zu einer weiteren Ausdehnung der Depressionsdiagnose (sodass heute um 20% bis 25% der Bevölkerung ein Mal im Leben als depressiv diagnostiziert werden). Diese entscheidende und folgenreiche Ausdehnung der Depressionskriterien setzte sich ab 1980 in der amerikanischen Psychiatrie mit DSM3 und ab 1991 in der WHO mit ICD-10 durch. Depression wurde zu einer reinen Befindlichkeitsstörung, losgelöst von Konstitution oder Endogenität. Die einzelne depressive Episode verlor ihren schicksalhaften Charakter und wurde ausschliesslich als lebens- und aktivitätshemmende Bedrücktheit und Antriebsarmut (mit einigen Zusatzsymptomen) verstanden. Dieser diagnostische Umbruch erlaubte einerseits, individuell ganz unterschiedliche Ausprägungsweisen von Depressivität in einem einheitlichen Störungsbegriff zusammenzubringen, ohne damit gleichzeitig das einzelne Individuum in ein erklärendes Ursachenmodell hineinzuzwingen und damit seine individuellen Besonderheiten in Frage zu stellen. Andererseits konnten auch leichtere Formen von Niedergeschlagenheit oder Antriebsstörung als medizinische Krankheiten verstanden werden, die einer Behandlung bedürfen. Diese diagnostische Ausweitung und Entstigmatisierung war in einer Zeit des sich zuspitzenden Individualismus mit wachsendem Selbstverantwortungsdruck weder zufällig noch nebensächlich. Sie konnte kaum klinisch-wissenschaftlich begründet werden, nahm aber die vermehrte Ausrichtung

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der spätmodernen Menschen nach Lust und Wohlbefinden bzw. die vermehrte Pathologisierung aller Leidensformen auf und berücksichtigte den zunehmenden Distress, wenn Menschen an ihren hoch gestellten Erwartungen scheiterten.

Auch die Therapieentwicklungen der letzten Jahre berücksichtigen diese soziokulturellen Verhältnisse. Die Behandlungen sind kürzer, flexibler und stärker erfolgsorientiert. Sie zielen vermehrt auf Stressabbau und setzen vermehrt auf Coping. Umso wichtiger ist es heute geworden, die Langzeitperspektive – Neudeutsch die Nachhaltigkeit – nicht aus den Augen zu verlieren. Kurz und flexibel kann auch beliebig bedeuten. Im Multiversum der Moderne muss Jede und Jeder vermehrt seinen eigenen Weg finden. Das geht nicht ohne Vertrauen in sich und andere – und psychotherapeutisch nicht ohne eine tragende und mitunter auch aushaltende Beziehung. Diesen Weg versucht die Hohenegg zu beschreiten. Ich hoffe weiter mit Erfolg.

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