10. Studienfahrt der Bundesstiftung Aufarbeitung

10. Studienfahrt der Bundesstiftung Aufarbeitung Die 10. Studienfahrt der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur führte vom 23. - 29. Juni 2...
Author: Moritz Mann
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10. Studienfahrt der Bundesstiftung Aufarbeitung Die 10. Studienfahrt der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur führte vom 23. - 29. Juni 2013 nach Sofia, Bulgarien. 15 Vertreterinnen und Vertreter aus der vielfältigen "Aufarbeitungslandschaft" nahmen an der Studienreise teil, die von der Geschäftsführerin Dr. Anna Kaminsky und dem Ratsvorsitzenden Markus Meckel geleitet wurde. Markus Pieper, Referent für Gedenkstättenarbeit in der Bundesstiftung Aufarbeitung, bereitete die diesjährige Studienfahrt vor und war für die Durchführung verantwortlich. Unterstützt wurde er von Sibila Stoyanova, die gemeinsam mit der Dolmetscherin Milkana Dehler für einen reibungslosen Ablauf der Reise sorgte. In Bulgarien, das seit 2007 Mitglied der EU ist, gibt es mehrere Gesetze zur Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit (1944-1989) und zur Rehabilitierung ihrer Opfer. Im Jahr 2007 wurde zudem eine Kommission eingesetzt, die die Tätigkeit des bulgarischen Staatssicherheitsdienstes und seine Rolle in der Volksrepublik Bulgarien erforscht. Trotz dieser Rahmenbedingungen hat eine breite gesellschaftliche Aufarbeitung bisher nicht stattgefunden. Knapp 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gibt es in Bulgarien keine offiziellen Gedenkorte oder Museen, die sich kritisch mit der Zeit des Kommunismus auseinandersetzen und an ihre Opfer erinnern. In der Schule wird dieser Teil der bulgarischen Geschichte nur unzureichend vermittelt; die wissenschaftliche Forschung zum Thema weist noch zahlreiche Lücken auf. Eine ausgeprägte Erinnerungskultur gibt es nicht. Die wenigen Erinnerungsorte und Projekte, die existieren, gehen hauptsächlich auf Initiativen von Privatpersonen und Opferverbänden zurück. Seit 2011 hat Bulgarien einen Staatspräsidenten, der – ungeachtet der Kontinuitäten in den politischen Parteien – die gesellschaftliche Aufarbeitung als sein persönliches Anliegen formuliert hat. Auf dieser 10. Studienfahrt bekamen die Vertreterinnen und Vertreter deutscher Gedenkstätten, Museen und Forschungseinrichtungen einen Eindruck davon, wie die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Bulgarien in der Praxis funktioniert – und wo ihre Schwächen liegen.

Ein Reisetagebuch Sonntag, 23. Juni 2013 Anreisetag. Nach der Ankunft trafen sich die Teilnehmer(inn)en der Studienreise zu einem gemeinsamen Abendessen, bei dem das Programm der kommenden Woche vorgestellt wurde.

Montag, 24. Juni 2013 Der erste Tag begann mit einem historischen Stadtrundgang, den Dr. Nikolai Vukov von der bulgarischen Akademie der Wissenschaften führte und dabei den Blick auf die "Architektur der Diktatur" lenkte. Unter diesem Aspekt erläuterte Dr. Vukov städtebauliche Veränderungen, die nach der Machtübernahme der Kommunisten im September 1944 einsetzten und das Bild Sofias bis heute prägen. Seine Ausführungen übersetzte Milkana Dehler simultan ins Deutsche, die zusammen mit Sibila Stoyanova die Gruppe auch in den kommenden Tagen begleitete. Das Sofioter Stadtbild präsentiert sich heute als bunte Mischung verschiedener architektonischer Stile. Die wenigen sehr alten Baudenkmale (wie frühe Kirchen) stehen neben klassizistischen und barocken Gebäuden aus der Zeit der Monarchie. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Sofias Innenstadt stark zerstört, so dass mit dem Beginn der Sowjet-Ära in Bulgarien ein umfassender Wiederaufbau nötig wurde. Wie überall östlich des Eisernen Vorhangs war dabei der stalinistische Zuckerbäckerstil prägend. Später wurden zahlreiche Verwaltungs-, Repräsentations- und Wohnhäuser im Stil der sozialistischen Moderne hinzugefügt, die noch heute überall zu finden sind. Nicht selten wurde dabei um ältere Kulturdenkmale herum gebaut. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Rotunde Sveti Georgi. Diese aus 1

dem 4. Jahrhundert stammende und später dem hl. Georg geweihte Kirche ist das älteste noch erhaltene Gebäude in Sofia und wird von einem Gebäudekomplex, der heute u.a. Ministerien, den Präsidentenpalast und ein Hotel beherbergt, komplett eingeschlossen. In unmittelbarer Nähe dazu wurde das mit weißer Marmorfassade und Säulen verzierte (ehemalige) Parteigebäude der Bulgarischen Kommunistischen Partei [BKP] erbaut. Im Jahr 1990, so Dr. Vukov, gab es in diesem Gebäude einen Brand, bei dem viele Akten vernichtet wurden. Dieser Umstand erschwere die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Bulgariens, weil dadurch viele wichtige Dokumente der Parteiführung, aber auch des Geheimdienstes, verloren gegangen sind. Wer für den Brand verantwortlich war, konnte bis heute nicht zweifelsfrei geklärt werden, ergänzte Vukov. Gegenüber dem früheren Zarenschloss, das heute ein ethnografisches Museum beherbergt, befindet sich der ehemalige Schlossgarten. Auf diesem Platz wurde 1949-1950 ein monumentales Mausoleum für den bulgarischen Staats- und Parteichef Georgi Dimitrow (1944-1949 Präsident der Volksrepublik Bulgarien und Generalsekretär der BKP) errichtet. Das Mausoleum war über die Landesgrenzen hinweg bekannt und auf dem Platz wurden bis 1989 offizielle Kundgebungen der Staats- und Parteiführung abgehalten. Nach dem Ende der kommunistischen Ära war unklar, was mit diesem Ort geschehen sollte. Nach jahrelangem Streit wurde das Mausoleum 1999 schließlich abgerissen und der Leichnam Dimitrows bestattet. Heute erinnert nichts an diesen Teil der Geschichte, in vielen (deutschen) Reiseführern wird der einst so bedeutende Platz nicht einmal erwähnt. Nach dem Stadtrundgang trafen die Studienreisenden mit Prof. Dr. Daniela Koleva (KlimentOhridski-Universität) und Dr. Nikolaj Poppetrov (Akademie der Wissenschaften) zu einem Gespräch über die bulgarische Erinnerungskultur und -politik zusammen. Die Gesprächspartner wiesen auf Schwierigkeiten und Defizite in der offiziellen Erinnerungspolitik hin. Nach dem Ende des Kommunismus habe es in den 1990er Jahren einige Verfahren gegen ehemalige Funktionäre gegeben, diese seien aber größtenteils wieder eingestellt worden. Die Bilanz der juristischen Aufarbeitung sei daher unbefriedigend, so Koleva und Poppetrov. Daran, so unsere Gesprächspartner, änderten auch die in den Jahren 2000 und 2004 verabschiedeten Gesetze, die die Zeit der kommunistischen Herrschaft verurteilen, wenig. Gegen die offizielle Verurteilung des Kommunismus habe es seinerzeit auch Widerstand aus den Reihen der ehemaligen kommunistischen Partei gegeben, die heute als Bulgarische Sozialistische Partei [BSP] im Parlament vertreten ist. Das liege daran, dass wie in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks, auch in Bulgarien nach 1989 kein grundlegender Elitenwechsel in den Parteien erfolgte. Trotz dieser Erschwernisse konnte das Gesetz aber nicht verhindert werden. Frau Koleva verwies neben dem Gesetz auch auf positive Entwicklungen bei der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit. Personen, die aus politischen Gründen zwischen 1944 und 1989 verurteilt wurden, können in Bulgarien einen Antrag auf Rehabilitierung und Entschädigung stellen. Ebenso erfolgte eine Rückübertragung von Eigentum, das vor 1989 in Staatsbesitz übergegangen war. Der letzte Markstein wurde 2006 mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Offenlegung der Dokumente und der

Zugeghörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit und zum Nachrichtendienst der Bulgarischen Volksarmee gesetzt und eine entsprechende Kommission (COMDOS) mit der Umsetzung des Gesetzes beauftragt. Als unmittelbare Reaktion darauf wurden unter Staatspräsident Rossen Plewneliew 2011 diejenigen Botschafter und Konsuln Bulgariens abberufen, denen eine Mitarbeit beim bulgarischen Staatssicherheitsdienst nachgewiesen werden konnte. Als Fazit konstatierte Frau Koleva, dass der Beitrag staatlicher Stellen zur Aufklärung und Erinnerung an die kommunistische Zeit trotz alledem zu gering sei. Ihre Kritik zielte zum einen darauf ab, dass es bisher keine offiziellen Gedenkstätten oder Museen gäbe, die diese Zeit kritisch aufarbeiten und zum anderen, dass die Opfer der Repression in Bulgarien kaum öffentlich wahrgenommen würden. Diese Probleme zeigten sich u.a. an den Gedenkinitiativen, die hauptsächlich von NGO's oder zivilgesellschaftlichen Organisationen (wie z.B. Opferverbände) ausgehen, die bei ihren Vorhaben oft mit bürokratischen und finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. Der Historiker Dr. Nikolai Poppetrov ergänzte diese Ausführungen mit Hinweisen zum Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Auch auf diesem Gebiet gibt es viele offene Fragen und Probleme. Pa2

radigmatisch dafür sei beispielsweise das Fehlen einer einheitlichen Terminologie, wie die Zeit seit 19891 bezeichnet werden oder welche Personengruppen zu den Opfern der kommunistischen Herrschaft zählen sollen. Die unterschiedlichen Auffassungen zu Opfergruppen seien auch ein Grund dafür, dass divergierende Angaben zu Opferzahlen im Umlauf sind. Zudem gibt es zahlreiche Forschungsdesiderate wie z.B. die Frage, wie viele Opfer es bei Fluchtversuchen an der bulgarischen Grenze gegeben hat. Solche Fragen seien bisher nicht gestellt worden. Seit Mitte der 1990er Jahre gäbe es aber eine Oral-History-Forschung, die Anhaltspunkte liefert, warum bis heute keine eindeutige gesellschaftliche Positionierung gegen die kommunistischen Verbrechen stattfindet. Demnach wird nur in Opferfamilien kritisch über die Vergangenheit gesprochen. In Funktionärsfamilien ist sie kein Thema, da die Verbindungen aus jener Zeit nach wie vor genutzt werden und diese Familien heute gut in Politik und Wirtschaft vernetzt sind. Zwischen diesen beiden Polen schweige die Mehrheit der Bevölkerung über die negativen Seiten des Staatssozialisums, ein Verhaltensmuster, das nach Poppetrov ein Relikt aus der Zeit vor 1989 sei: sich nicht öffentlich zu äußern war eine weit verbreitete Strategie, um nicht Opfer von Repression zu werden. Die Kontinuitäten innerhalb der politischen Elite nach 1989 trügen dazu bei, dass ein solches Verhalten auch heute von einem großen Teil der Bevölkerung bevorzugt wird. Schwerer noch dürften die gegenwärtigen ökonomischen Probleme wiegen. Bulgarien hat die wirtschaftlichen Umbrüche vergleichsweise schlecht gemeistert, so dass die Zeit vor 1989 an den individuellen wirtschaftlichen Verhältnissen gemessen wird, was gewisse Formen von Nostalgie befördert. Mit Blick auf die Wissenschaft, so führte Poppetrov weiter aus, sei festzustellen, dass die Zeit zwischen 1944 und 1989 an den Universitäten nur wenig erforscht wird. Um diesen Missstand abzubauen, wurde deshalb 2005 das unabhängige "Institut zur Erforschung der jüngsten Vergangenheit" gegründet. Der wissenschaftlichen Aufbereitung des Themas widmet sich außerdem seit 2007 die Kommission zur Aufarbeitung der Tätigkeit des bulgarischen Staatssicherheitsdienstes (COMDOS). Diese beiden Einrichtungen, so Poppetrov, seien gegenwärtig die einzigen nennenswerten Protagonisten, die den einschlägigen wissenschaftlichen Diskurs im Land vorantreiben. Es verwundert daher nicht, dass sich Isolation oder Randständigkeit des Aufarbeitungsprozesses in der bulgarischen Gesellschaft fortsetzt: Es gibt keine offiziellen Gedenkstätten oder Museen. Die meisten Orte der Repression, wie ehemalige Straf- und Arbeitslager, sind zum großen Teil aus dem Landschaftsbild verschwunden. Nur wenige Denkmäler erinnern überhaupt an die Opfer der kommunistischen Diktatur. Fast alle gehen auf private Initiativen und die Opferverbände zurück. Ein Höhepunkt der diesjährigen Studienfahrt war sicherlich die Einladung des bulgarischen Staatspräsidenten Rossen Plewneliew zu einem ausführlichen persönlichen Gespräch am Nachmittag des ersten Tages. Der Präsident versicherte, wie wichtig es für die bulgarische Gesellschaft sei, sich endlich aktiv mit der kommunistische Vergangenheit auseinanderzusetzen und wie sehr dieses Thema auch sein persönliches Anliegen sei. Als Beispiel seines Engagements nannte er die bereits am Vormittag thematisierte Abberufung der Botschafter und Konsuln mit Stasi-Vergangenheit. Präsident Plewneliew berichtete in aller Offenheit von den Widerständen, denen er im Parlament begegnet, wenn es um dieses sensible Thema geht. Dass er dennoch gewillt sei, an seiner Mission festzuhalten, skizzierte er anhand der Pläne und Vorhaben für die kommenden Jahre. So soll ein Museum zur Geschichte Bulgariens im 20. Jahrhundert entstehen und die Arbeit der Kommission zur Aufarbeitung der Tätigkeit des bulgarischen Staatssicherheitsdienstes weiter gestärkt werden. Dazu gehören Überlegungen, ein digitales Museum zum bulgarischen Staatssicherheitsdienst einzurichten, das sämtliche Unterlagen öffentlich zur Verfügung stellt. Dies wäre in den Ländern des ehemaligen Ostblocks ein bislang einzigartiger Vorgang. Bereits heute werden einige Unterlagen auf der Internetpräsenz der bulgarischen Stasi-Unterlagen-Kommission (www.comdos.bg) veröffentlicht. Bei dieser sehr anregenden Gesprächsrunde waren auch die deutschen Erfahrungen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Unterschiede im Vergleich zu Bulgarien ein Thema. Zur Sprache kamen ebenso die Besonderheiten im bulgarischen Transformationsprozess, die dazu geführt haben, dass es bisher keine ausgeprägte Erinne1

Oft wurde von "Transition" oder vom "verhandelten Übergang" gesprochen. Ebenfalls häufig gebraucht wurde die Wendung "als die Demokratie gekommen ist". 3

rungskultur an die Verbrechen des Kommunismus zwischen 1944 und 1989 gibt. Um dem Prozess der Vergangenheitsbewältigung neue Impulse zu verleihen, wurde eine verstärkte internationale Vernetzung und Zusammenarbeit sowie die Einrichtung von zivilgesellschaftlichen Aufarbeitungsinitiativen angeregt. Nach dem Treffen mit dem Staatspräsidenten fuhren die Studienreisenden zum Nationalhistorischen Museum. Dort wurde die Gruppe von der stellvertretenden Direktorin Prof. Dr. Tzvetana Kiosseva begrüßt. Das Museum wurde 1973 gegründet und ist seit 2000 in der ehemaligen Residenz Todor Schiwkows (Staats- und Parteichef der Volksrepublik Bulgarien 1954-1989) im Sofioter Stadtteil Bojana untergebracht. Mit seinen rund 650.000 Exponaten zählt es zu den größten Museen auf dem Balkan und hat den Anspruch, einen umfassenden Überblick über die Geschichte und Kultur des Landes zu vermitteln. Zweifelsohne hat das Museum im Hinblick auf die Frühgeschichte bis zum Mittelalter eine wechselvolle Geschichte und eine Vielzahl außergewöhnlicher Exponate zu bieten. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass die jüngere und jüngste Geschichte Bulgariens nur sehr oberflächlich gestreift wird. So ist die Zeit zwischen 1944 und 1989 mit gerade mal zwei kleinen Vitrinen in der Ausstellung berücksichtigt. In diesen ist auch kein Hinweis auf die Unterdrückung und Verfolgung während der kommunistischen Ära zu finden. Auf kritische Nachfragen der Gruppe, warum diese Zeit so oberflächlich behandelt wird, reagierte Prof. Kiosseva zögerlich. Zum einen sei festgestellt worden, dass die Besucher kein Interesse an dieser Zeit haben und deshalb nur wenig dazu ausgestellt wird. Zur Bekräftigung verwies sie darauf, dass auch in den Regionalmuseen Bulgariens die Zeit zwischen 1944 und 1989 nicht dargestellt würde. Zum anderen erläuterte sie, dass aufgrund des Platzmangels ohnehin nur 10% der vorhandenen Exponate gezeigt werden können und die Prioritäten konzeptionell auf anderen Epochen liegen. Eine tiefergehende Diskussion kam leider nicht zu Stande, da Prof. Kiosseva sich des Problems offensichtlich bewusst war, auf Nachfragen jedoch nicht mehr einging. Nach dem Gespräch führte uns eine Mitarbeiterin des Museum durch die Ausstellungsräume. Zum Abschluss dieses ersten und an Eindrücken reichen Tages besichtigte die Gruppe die Kirche der hl. Nikolaos und Panteleimonos in Bojana, die u.a. aufgrund ihrer beeindruckenden Wandmalereien aus dem 13. Jahrhundert zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.

Dienstag, 25. Juni Der zweite Tag der Studienfahrt bot den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein abwechslungsreiches Programm. Der Vormittag begann mit einem Besuch im Bulgarischen Staatsarchiv, wo die Gruppe zu einem Gespräch mit Direktor Prof. Dr. Martin Ivanov verabredet war. Das Staatsarchiv ist in einem Gebäude untergebracht, dass früher nicht nur Sitz der Sofioter Miliz war, sondern auch vom Staatssicherheitsdienst und später dem Zentralkommitee der BKP genutzt wurde. Es ist überliefert, dass es dort neun Gefängniszellen gegeben hat, die Ausgangspunkt für den Transport in die berüchtigten Straflager waren. Aufgrund seiner wechselvollen Geschichte, so Prof. Ivanov, sei dieser Ort besonders geeignet, zu einem "KGB-Museum" umgebaut zu werden. Die bereits inhaltlich und gestalterisch fortgeschrittenen Pläne für ein solches Museum stellte Dr. Ivanov vor. Ziel sei es, über die Zeit zwischen 1944 und 1989 aufzuklären und zu zeigen, was es heißt, in einer Diktatur zu leben. So soll das Museum dazu beitragen, die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit anzustoßen. Neben dem begehbaren Museum soll auch eine Online-Version entstehen, die eine virtuelle Museumstour und eine interaktive Karte mit Orten der Repression in Sofia anbietet. Als deutsche Projektpartner sind die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Friedrich-Naumann-Stiftung beteiligt. Offene Fragen betreffen derzeit v.a. die Finanzierung des Museums. Der zweite Teil des Gesprächs drehte sich um die Bestände des Archivs. Insgesamt lagern dort rund 91 km Unterlagen zur Geschichte Bulgariens der letzten 150 Jahre. Die Digitalisierung einzelner historischer Sammlungen hat bereits begonnen; derzeit gibt es zwei Internetseiten, vier weitere sind in Planung. Die Bestände umfassen z.B. die Polizeiakten bis 1944 oder Protokolle des ZK von 1944 bis 1989. Nach dem Gespräch konnte die Gruppe einige der historischen Räume besichtigen, die Teil des Museums werden sollen. Nach den 4

großen Defiziten in der Vergangenheitsbewältigung, welche die Gespräche des Vortages bestimmten, wurde hier deutlich, dass es trotz aller Schwierigkeiten innovative und ambitionierte Projekte gibt. Anschließend ging es in die Deutsche Botschaft zu einem aufschlussreichen Informationsgespräch über die aktuelle wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Situation Bulgariens. Botschaftsrat Reinhard Krapp, der sich freundlicherweise viel Zeit für ein Gespräch mit der Delegation genommen hatte, ging dabei auch auf die Proteste ein, die seit Anfang Juni 2013 jeden Abend in Sofia stattfinden (und die von den Studienreisenden hautnah miterlebt werden konnten). Herr Krapp konnte einige zentrale Fragen der Delegation zur gegenwärtigen Situation im Land sowie den Gründen für die zögerliche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Bulgariens beantworten. Danach besuchte die Delegation das hiesige Goethe Institut, wo Institutsleiter Dr. Rudolf Bartsch von den Bemühungen berichtete, die jüngste Geschichte Bulgariens in Veranstaltungen öffentlich zu thematisieren. Dabei betonte er die Notwendigkeit eines Gegenwartsbezugs, um das Interesse der einheimischen Bevölkerung zu wecken. Darüber hinaus engagiere sich das Goethe Institut auch in der Projektarbeit um die Erinnerungskultur. Als gelungene Beispiele nannte er die Publikation "Das Wagnis der Erinnerung", die gemeinsam mit der edition "die horen" im Jahr 2010 entstand, oder das aktuelle Ausstellungsprojekt "Europa. Südost – Eingeschriebene Erinnerung". In den Räumlichkeiten des Goethe Institutes fand danach eine Diskussionsrunde mit Vertretern bulgarischer Opferverbände statt. Als Zeitzeugen waren anwesend: Kostadina Antonova (Verband der in Bulgarien vom kommunistischen Terror Repressierten in Sofia), Dimiter Metev (Verband der in Bulgarien vom kommunistischen Terror Repressierten in Stara Zagora und Verband der in Bulgarien nach dem 9. September 1944 Repressierten), Dr. Ivan Nikolov (Verband der in Bulgarien vom kommunistischen Terror Repressierten in Sofia und Kommission zur Feststellung der Entschädigungsrechte von Repressionsopfern), Stoyan Pavlov (ehemaliger politischer Repressierter) sowie Stoyan Raichevsky (Verband "Istina"). In Bulgarien gibt es verschiedene Opfervereinigungen, die oftmals unabhängig voneinander agieren und im Zweifelsfall unterschiedliche Interessen vertreten. Einzig die "Vereinigung der in Bulgarien vom kommunistischen Terror Repressierten" hat Zweigstellen in fast allen Kreisstädten des Landes, die untereinander vernetzt sind. Der erste Opferverband wurde bereits 1990 gegründet. Alle Zeitzeugen berichteten sehr eindrucksvoll sowohl von ihren eigenen Erfahrungen während der kommunistischen Herrschaft als auch von Zeitzeugenerinnerungen, die sie in den letzten Jahren dokumentieren konnten. So hat Stoyan Raichevsky über mehrere Jahre mithilfe von Fragebögen Zeitzeugenerinnerungen gesammelt. Diese Unterlagen übergab er dem Staatsarchiv, wo sie der Öffentlichkeit und Forschung zur Verfügung stehen. Eine Auswertung dieser Unterlagen erfolgte bisher allerdings nicht. Außerdem beklagten die Zeitzeugen die Schwierigkeiten, mit denen sich ehemals Repressierte heute konfrontiert sehen, wenn es um eine finanzielle Entschädigung für ihre Haftzeiten oder um die Finanzierung von Vorhaben geht, die dem Gedenken an die Opfer gewidmet sind. Sie wiesen darauf hin, dass es entsprechende Gesetze gibt, diese aber aufgrund von (bereits abgelaufenen) Fristen, Einschränkungen oder notwendiger (aber selten vorhandener) Nachweise nur wenig angewendet werden. Auch die Höhe der finanziellen Entschädigung sei eher von symbolischem Charakter und nicht geeignet, die entstandenen Schäden zu kompensieren. Im Anschluss an das Gespräch besuchten die Vertreter der Opferverbände und die Delegation gemeinsam das Denkmal für die Opfer des Kommunismus im Zentrum Sofias, wo sie mit einer kurzen Ansprache und weißen Rosen der Opfer gedachten.

Mittwoch, 26. Juni Der dritte Tag der Studienfahrt war geprägt von Gegensätzen. Am Vormittag fuhr die Delegation nach Prawez, dem Geburtsort des ehemaligen Staats- und Parteichefs Todor Shiwkow. In einem repräsentativen Gebäude, das für offizielle Empfänge erbaut wurde und neben dem Geburtshaus Shiwkows steht, werden heute Gastgeschenke ausgestellt, die Schiwkow von Staatsoberhäuptern aus aller Welt erhalten hat. Die Exponate stammen aus der Sammlung des Nationalhistorischen Museums, deren 5

stellvertretende Direktorin der Delegation noch am Montag erklärte, dass es kein Interesse daran gäbe, die Zeit des Kommunismus auszustellen. Hier, in Schiwkows Geburtsort, wird mit der Präsentation der Gastgeschenke suggeriert, dass Schiwkow als Staatsmann international akzeptiert war. In dieser Richtung äußerte sich auch die Mitarbeiterin des Museums, die der Delegation eine kurze Einführung gab und meinte, die Gastgeschenke zeigen, dass Schiwkow eine "gemäßigte Politik" betrieb, weil er Kontakte nicht nur mit "sozialistischen Bruderstaaten" sondern auch mit westlichen Ländern pflegte. Ob diese Interpretation von seiner politischen Verantwortung für das Unrecht innerhalb Bulgariens ablenken soll, steht immerhin zu vermuten. Im Vorgarten befindet sich eine Schiwkow-Büste mit dem Zitat "Ich, Todor Schiwkow, habe die gesamte Macht, die ich besaß, zum Wohle meines Volkes verwendet". Nun könnten solche historischen Relikte für sich stehen. Letzte Zweifel, dass man im Schiwkow-Museum jedoch eine eindeutig affirmative Erzählung des Wirkens Schiwkows unterstützt, schwanden, als die Gruppe das im Jahre 2001 – also drei Jahre nach dem Ableben Schiwkows – eingeweihte lebensgroße Denkmal unweit des Museums im Ort Prawez besuchte. Solche Initiativen scheinen auch in der bulgarischen Gesellschaft durchaus Unterstützung zu finden. Dazu passt die Aussage der Museumsmitarbeiterin, nach der die meisten Gäste jedes Jahr um den 7. September in das mit öffentlichen Geldern finanzierte Museum kommen – dem Geburtstag Schiwkows. Die Besucherstruktur sei dabei recht heterogen und repräsentiere einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Insgesamt kämen 3.000 bis 4.000 Besucher pro Jahr. Keine 130 km weiter östlich, bei Lowetsch, besuchte die Delegation am Nachmittag einen Steinbruch, der über die Landesgrenzen hinaus traurige Berühmtheit erlangte. Zwischen 1959 und 1962 mussten hier rund 1.500 Menschen unter schwersten Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Der Ort ist bis heute im Volksmund als "Todeslager" bekannt. Die Erforschung dieses Ortes wie auch des gesamten bulgarischen Repressionssystems steckt jedoch noch in den Anfängen. Auf private Initiative konnten bis heute zumindest die Namen von rund 150 Todesopfern dokumentiert werden. Im Gegensatz zum Schiwkow-Museum gibt es in Lowetsch weder Wegweiser noch Informationstafeln, die auf den Steinbruch und seine Geschichte hinweisen. Allein der Initiative der Vereinigung "Istina" (Wahrheit) ist es zu verdanken, dass 1991 ein Gedenkkreuz errichtet und (später) zwei Gedenktafeln angebracht wurden. Stoyan Raichevsky vom Verband "Istina" hielt eine kurze Ansprache, in der er die Geschichte des Ortes erläuterte. Mit einer Kranzniederlegung, zu der auch bulgarische Medienvertreter gekommen waren, gedachte die Delegation der Opfer dieses Arbeitslagers. Der Ratsvorsitzende der Bundesstiftung Aufarbeitung Markus Meckel äußerte im Namen der Delegation die Hoffnung und den Wunsch, dass diese Geste dazu beitragen möge, das Leid der Opfer in die bulgarische Öffentlichkeit zu tragen und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem begangenen Unrecht zu befördern. Mit der nächsten Station der Studienreise verließ die Delegation das 20. Jahrhundert und besuchte das wegen seiner kunstvollen Malereien berühmte bulgarisch-orthodoxe Kloster Trojan. Die Kreuzkuppelkirche im Innenhof des Klosters stammt (in ihrer heutigen Gestalt) aus dem Jahr 1835 und ist außen wie innen mit prächtigen Malereien überzogen. Neben Stifterportäts und biblischen Szenen sind auch eine Reihe historischer Persönlichkeiten aus Russland und Bulgarien abgebildet. Weltberühmt ist die Ikone der "Gottesmutter Tricheirousa" (die Dreihändige).

Donnerstag, 27. Juni Der vierte Tag der Studienfahrt stand ganz im Zeichen von persönlichen Begegnungen, der mit einem Besuch im Gymnasium "Prof. Konstantin Galabov" (www.da-galabov.eu) in Sofia begann. Das Gymnasium wird von bulgarischen Schülerinnen und Schülern besucht, die nach 12 Schuljahren mit einem deutsch-bulgarischen Doppelabitur abschließen können. Der Unterricht findet teilweise oder fast vollständig in deutscher Sprache statt. Das Schulmodell ist landesweit das einzige seiner Art und genießt ein sehr hohes Ansehen, was sich in den Bewerberzahlen niederschlägt. Die Bewerbungen pro Jahr übersteigen um ein Vielfaches die Anzahl der Plätze (5.000 – 6.000 Bewerbungen bei ca. 200 Plätzen), die über ein Auswahlverfahren vergeben werden. Die Delegation besuchte eine 11. Klasse und kam sowohl mit den Schüler(inn)en als auch den Lehrerinnen Grit Eszlinger und Stephanie Ganz 6

sowie dem Leiter der deutschen Abteilung des Gymnaiums Rolf Kruczinna ins Gespräch. Themen waren u.a. das Geschichtsbild Bulgariens und Deutschlands, das im Unterricht vermittelt wird; der Einsatz von Zeitzeugen im Unterricht oder die Zeit der kommunistischen Herrschaft als Gesprächsgegenstand innerhalb der Familien. Besonders beeindruckt war die Delegation von den ausgezeichneten Sprachkenntnissen der Schüler(innen) und einer Projektpräsentation, die die Klasse vorbereitet hatte. Mit dem bemerkenswerten Projekt "Das bemalte Denkmal der Sowjetarmee in Sofia" hatte die AG Geschichte von Frau Eszlinger beim "Schülerwettbewerb zur politischen Bildung 2012" der Bundeszentrale für politische Bildung einen Preis gewonnen. Darin ging es um das von Künstlern im Jahre 2011 bemalte Denkmal, bei dem die sowjetischen Befreier in amerikanische Superhelden verwandelt wurden. Die Aktion erregte weltweit Aufsehen und löste in Bulgarien heftige Diskussionen aus. Die Schüler stellten in ihrer Präsentation ihre Sicht auf die Kunstaktion dar und hinterfragten die Funktion von Denkmälern in der heutigen Erinnerungskultur. Für die vielen (gegenseitigen) Fragen reichte die Zeit kaum aus, so dass das anregende Gespräch mit einer Einladung zur Fortsetzung in Berlin endete. Vom Gymnasium ging es weiter zur Alexander-Nevski-Kathedrale, wo die Delegation zum Gespräch mit Bischof Tichon von Tiberiopol eingeladen war. Der Bischof erzählte von den Schwierigkeiten, die kommunistische Zeit offen anzusprechen und kritisch zu hinterfragen. Ein Grund dafür sei, dass zahlreiche Würdenträger der orthodoxen Kirche damals eng mit dem bulgarischen Staatssicherheitsdienst kooperierten. Nach Aussage des Bischofs üben diese Personen auch heute hohe Funktionen in der Kirche aus und seien nicht bereit, über diese Zeit zu sprechen. Zudem sei die Rolle der Kirche in Bulgarien nicht mit der in der DDR zu vergleichen. Die orthodoxe Kirche sei im Kommunismus kein Ort gewesen, der Schutz geboten habe oder unter dessen Dach sich gar eine Opposition hätte entwickeln können. Resigniert fasste Bischof Tichon die Situation aus seiner Sicht so zusammen: "Sie sind gekommen für eine Sache, die es hier nicht gibt – Bewältigung. Da müssen Sie vielleicht in ein paar Jahren wiederkommen." Auf Details und Erfahrungen mit der Lustration kirchlicher Würdenträger ging Bischof Tichon nicht ein und verwies darauf, dass Gläubige im Allgemeinen eher dazu tendieren würden, zu verzeihen und zu vergessen und sich im Zweifelsfall auch wider besseren Wissens schützend vor die Schuldigen stellten. Im Anschluss an das Gespräch führte er die Delegation durch die Kathedrale und berichtete von einem anderen großen Problem der Gegenwart – der notwendigen Restaurierung der Wand- und Deckenmalereien, für welche dem altehrwürdigen Gotteshaus die finanziellen Mittel fehlen. Am Nachmittag stand ein Erfahrungsaustausch mit Vertretern unabhängiger Forschungseinrichtungen auf dem Programm. Im Café "+tova" traf die Delegation auf Vasil Kadrinov vom Hannah-Arendt-Zentrum Sofia (www.hac.ekonet-bg.org) sowie Dimiter Dimov vom Institut zur Erforschung der jüngsten Vergangenheit (www.minaloto.org). Herr Kadrinov stellte die Arbeit des 2008 gegründeten Hannah-Arendt-Zentrums vor und erzählte von verschiedenen Initiativen, um die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit zu befördern. Als Beispiel nannte er die gescheiterte Petition ans bulgarische Parlament zur Anpassung der Altersbezüge von

ehemaligen Mitarbeitern des repressiven Apparats bis 1989 an die Durchschnittsrente in Bulgarien (www.petizia-ds.ekonet-bg.org). Noch in diesem Jahr wird eine neue Initiative zur Schaffung einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die kommunistische Diktatur gestartet. Außerdem sind eine Studie zum Wissensstand von Schülern über die neuere bulgarische Geschichte sowie mehrere Workshops geplant, die zur Entwicklung neuer Lehrbücher und Materialien für den Unterricht beitragen sollen. Notwendig seien solche Initiativen, da Geschichte momentan nur in den Klassenstufen 6 sowie 10-12 unterrichtet wird, in der 12. Klasse zudem lediglich als Wahlfach. Inhaltlich sei die jüngste Geschichte erst am Ende des Schuljahres im Plan, was regelmäßig dazu führe, dass sie gänzlich entfalle oder nur unzureichend vermittelt würde. Anschließend berichtete Dimiter Dimov über das Institut zur Erforschung der jüngsten Vergangenheit, das 2005 vom Historiker Prof. Ivaylo Znepolski als unabhängiges Forschungsinstitut gegründet wurde. In diesem Institut beschäftigen sich rund 40 Wissenschaftler mit der Geschichte des Kommunismus in Bulgarien und insbesondere mit der Struktur und Arbeitsweise des bulgarischen Staatssicherheits7

dienstes. Schwerpunkte der Arbeit liegen auf der Sicherung von Archivmaterialien, der Durchführung eines groß angelegten Oral-History-Projektes (mit über 380 Videointerviews) sowie auf der Erarbeitung und Publikation der Reihe "Unvollendete Vergangenheit", in der bisher 27 Bände erschienen sind. Mit ihrer Arbeit füllt das Institut nach Aussage von Herrn Dimov eine Lücke, da die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit bisher kein Forschungsgegenstand an den staatlichen Universitäten sei. Vor allem mit der Publikationsreihe hoffen die Wissenschaftler, die bereits untereinander gut vernetzt sind, langfristig eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und dass ihre Erkenntnisse in künftige Lehrpläne Eingang finden. Nicht zuletzt seien solche Publikationen auch ein notwendiges Gegengewicht zu den Berichten ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, die seit einigen Jahren veröffentlicht und stark nachgefragt werden. Berichte ehemaliger Repressierter sind bisher kaum veröffentlicht worden. Dann ergriff Herr Nebodiev, Wissenschaftler am Hannah-Arendt-Zentrum das Wort, der sich intensiv mit dem Thema "Orthodoxe Kirche und Kommunismus" beschäftigt. Hielt sich Bischof Tichon von Tiberiopol in seinen Ausführungen zurück, so konnte Nebodiev konkret von der Durchdringung der orthodoxen Kirche durch die bulgarische Staatssicherheit berichten: Demnach habe sich nur die erste Generation nach 1945 erfolgreich einer Zusammenarbeit widersetzen können. In den 1970er Jahren habe die systematische Unterwanderung begonnen. Die Durchdringung sei auch dadurch erleichtert worden, weil die orthodoxe Kirche unabhängig und autonom ist (im Gegensatz zur katholischen Kirche mit dem Papst als oberste Instanz). Im Jahr 2012 wurde bekannt, dass 11 der damals 15 Mitglieder der Heiligen Synode Mitarbeiter der bulgarischen Staatssicherheit gewesen sind. Das Bekanntwerden dieser Tatsache hatte allerdings keine unmittelbaren Folgen, die Metropoliten sind noch immer im Amt.2 Zum Schluss berichteten die Gesprächspartner von der positiven Entwicklung, dass die kommunistische Vergangenheit Bulgariens langsam den Weg ins öffentliche Bewusstsein findet – beispielsweise über Spielfilme, Dokumentationen und themenspezifische Internetportale. Am Abend freuten sich die Delegation und ihre bulgarischen Partner dann über die Einladung zu einem Empfang in die Residenz von Botschaftsrat Reinhard Krapp und seiner Frau. Bei einem leckeren Buffet konnten die intensiven Gespräche fortgesetzt und zahlreiche neue Kontakte geknüpft werden.

Freitag, 28. Juni Am letzten Tag der Studienreise stand ein Besuch bei der Kommission zur Offenlegung der Dokumente und der Zugehörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit und zu den Nachrichtendiensten der Bulgarischen Volksarmee (COMDOS) auf dem Programm. Die Kommission ist mit der Umsetzung des im Dezember 2006 verabschiedeten Gesetzes zur Offenlegung der Dokumente und der Ermittlung von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes und des militärischen Nachrichtendienstes beauftragt. Nach der Konstituierung nahm die Kommission 2007 ihre Arbeit auf. Ihr gehören neun Mitglieder an. Der Vorsitzende, Evtim Kostadinov, empfing die Delegation im mit umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen ausgestatteten Zentralarchiv in Bankya, etwa 10 km von Sofia entfernt. Herr Kostadinov berichtete von der Arbeit der Kommission, deren Mitglieder vom Parlament auf jeweils fünf Jahre bestimmt werden. Im Rahmen der ersten Kommission, die von 2007 bis 2012 tätig war, wurden 124.000 Personen auf Stasi-Mitarbeit überprüft, die meisten davon waren Politiker oder Amtsträger. Die Ergebnisse dieser Überprüfung hätten jedoch keine Konsequenz für die berufliche Situation der Überprüften. Während dieser Zeit wurde auch das heutige Zentralarchiv auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne in Bankya aufge-

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Ergänzung: Mit der Wahl des Metropoliten Neofit zum neuen Oberhaupt der autokephalen Bulgarisch-Orthodoxen Kirche im Februar 2013 könnte die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in der Kirche vorangehen. Es ist als positives Zeichen zu werten, dass jene Kirchenmitarbeiter heilig gesprochen werden sollen, die während der kommunistischen Diktatur ermordet wurden. Neofit selbst gilt als unbelastet. (Quelle: Bericht von Dr. Marco Arndt, KAS, Auslandsbüro Bulgarien, abrufbar unter http://www.kas.de/bulgarien/de/publications/33614/. Zum Thema Stasiverflechtungen in der bulgarischorthodoxen Kirche hat die Konrad-Adenauer-Stiftung zudem einen Bericht veröffentlicht, der unter folgendem Link abrufbar ist: http://www.kas.de/wf/doc/kas_6329-1442-1-30.pdf?120329113718.) 8

baut, das 2011 offiziell eröffnet wurde. Hier werden rund 80% aller einschlägigen Unterlagen aus dem Zeitraum 1944-1991 nicht nur fachgerecht gelagert, sondern auch, wenn nötig, restauriert und konserviert. Der Bestand umfasst rund 2 Millionen Blatt Papier, die einer Länge von rund 9 km lfd. Akten entsprechen. Außerdem gibt es mehrere Tausend Fotos und Negative sowie Filmmaterial und elektronische Daten. Während der ersten fünf Jahre gab es über 12.000 Anträge auf Akteneinsicht, davon knapp die Hälfte von ehemals Verfolgten. Die übrigen Anfragen stammten aus den Bereichen Forschung, Wissenschaft und Medien. Die gesetzliche Frist zur Bearbeitung der Anträge liegt bei nur 30 Arbeitstagen. Die Kommission hat sich selbst zum Ziel gesetzt, die Wartezeit künftig auf 20 Tage zu reduzieren. Dass es mitunter noch schneller gehen kann, davon konnte sich die Delegation vor Ort selbst überzeugen. Einem Mitglied der Delegation wurden nur 15 Minuten nach Abgabe seines Antrages seine mehrbändigen Akten vorgelegt und angekündigt, dass die gesamten Unterlagen binnen weniger Tage digitalisiert auf CD per Post zugestellt werden können. Nicht nur hinsichtlich der Bearbeitungszeit, auch bezüglich des Daten- und Persönlichkeitsschutzes sowie den gesetzlich formulierten Aufgaben zeigten sich deutliche Unterschiede zum deutschen Stasi-Unterlagen-Gesetz. Etwa 100 Mitarbeiter kümmern sich um die Sicherung, Erschließung und Aufbereitung der Unterlagen. Akteneinsichten können vor Ort im Lesesaal stattfinden. Zu den Aufgaben der Kommission gehört auch die Veröffentlichung von Dokumenten. Ebenso wird der Erfahrungsaustausch auf internationaler Ebene gesucht. So gehört die Kommission zu den Gründungsmitgliedern des "Europäischen Netzwerks der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden". Mit dem langsam aber stetig zunehmenden öffentlichen Interesse erwartet die Kommission steigende Antragszahlen. Für die Zeit der zweiten Kommission, die bis 2017 tätig ist, stellen die fortlaufende Digitalisierung des Archivguts und ihre Veröffentlichung im Internet sowie die Überführung weiterer Archivbestände ins Zentralarchiv die wichtigsten Ziele dar. Langfristig will die Kommission mit ihrer Arbeit die Grundlagen für ein Institut zum Nationalen Gedächtnis (Institute for National Remembrance) schaffen, wie es z.B. bereits in der Slowakei oder Polen besteht. Im Gespräch wurde auch das Thema der Aktenvernichtung angeschnitten. Herr Kostadinov räumte ein, dass auf Anweisung des Innenministers 1990 etwa 150.000 Archivakten vernichtet worden seien. Weiterhin verwies er auf den Brand in der ehemaligen Parteizentrale der BKP im Jahr 1990 und bestätigte die Vermutung von Dr. Vukov, dass dabei zahlreiche wichtige Akten vernichtet wurden. Es sei jedoch sehr schwer, das gesamte Ausmaß der verloren gegangenen Akten abzuschätzen. Nach dem Gespräch gab es eine Führung durch das Archiv. Im Anschluss fuhr die Studiengruppe zurück nach Sofia, um im Goethe Institut mit Latchezar Tochev, Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, über die verschiedenen Gesetze zur juristischen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und die von ihm unterstützte virtuelle Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus zu sprechen. Nicht zuletzt aufgrund der bisher gescheiterten Versuche, einen realen Ort als Gedenkstätte einzurichten, wurde beschlossen, eine virtuelle Gedenkstätte zu schaffen. Ziel der Webseite www.victimsofcommunism.bg ist in erster Linie die Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Diktatur. In mühevoller Arbeit recherchieren die Projektmitarbeiter Namen und Schicksale in Privatarchiven, Gefängnis- oder Ministeriumsakten. Bisher wurden auf diese Weise nahezu 23.000 Namen auf der Internetplattform veröffentlicht. Die Webseite gibt es auch in einer englischen Version und bietet Materialien für die historisch-politische Bildung sowie Filmmaterial (Dokumentationen, Zeitzeugenberichte) an. Nach dem Mittagessen besichtigte die Delegation die Sofioter Synagoge, wo sie mit Dr. Marcel Israel (ehem. Präsident der jüdischen Gemeinde), zusammentraf. Dr. Israel erläuterte die Geschichte der bulgarischen Juden und der sephardisch-orthodoxen Synagoge, die nach dem Vorbild des "Leopoldstädter Tempels" (Wien, 1938 zerstört) erbaut wurde. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 48.000 Juden in Bulgarien, die durch das bulgarische Parlament vor einer Deportation in die Vernichtungsla-

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ger geschützt werden konnten.3 Dennoch waren sie massiven Repressalien ausgesetzt, so dass nach dem Ende des Krieges die meisten Juden auswanderten. Heute ist die jüdische Gemeinde in Bulgarien recht klein. Die Zahl ihrer Mitglieder schätzt Dr. Israel auf höchstens 5.000. Danach fuhr die Delegation zum "Neuen Museum für sozialistische Kunst" in Sofia, das 2011 eröffnet wurde. Der Besucher findet dort auf einer großzügigen Freifläche eine Ansammlung von Skulpturen, die vor 1989 im öffentlichen Raum standen. Friedlich vereint stehen hier scheinbar wahllos Leninbüsten neben Arbeiterfrauen und -männern, Soldaten, den Standbildern bulgarischer Kommunisten wie Georgi Dimitrow und Sportlern im Stil des sozialistischen Realismus. Auch jener rote Sowjetstern, der einst das Parteigebäude der Bulgarischen Kommunistischen Partei zierte, hat hier ein neues Zuhause gefunden. Im Museum selbst wurde gerade eine Ausstellung mit Propagandaplakaten aus verschiedenen kommunistischen Ländern gezeigt. Es ist zwar das Anliegen des Museums, sozialistische Kunst zu zeigen, dennoch wäre eine historische Kontextualisierung und kritische Distanz bitternötig. Denn an dieser mangelt es dem Museum ganz offensichtlich. Es fehlt sowohl an einem durchdachten didaktischen Konzept als auch an jeglicher Information über die Bedeutung der hier zur Schau gestellten Relikte. Die Besucher bleiben sich selbst überlassen und können in einem kleinen Museumsshop neben Büchern auch einschlägige Devotionalien erwerben. Mit einem recht befremdlichen Gefühl verließ die Delegation das Museum wieder. Erneut waren hier öffentliche Gelder darauf verwendet worden, einen Ort der Nostalgie zu schaffen, während zahlreiche Initiativen zu Gedenkorten an die Opfer des Kommunismus an der Bürokratie und Finanzierung scheitern. Bei einem gemeinsamen Abendessen ließ die Delegation die Eindrücke der Woche noch einmal Revue passieren und bedankte sich herzlich bei Sibila Stoyanova und der Dolmetscherin Milkana Dehler für die großartige Unterstützung vor Ort. Draußen gingen derweil – wie jeden Abend seit dem 14. Juni 2013 – Tausende bulgarische Bürgerinnen und Bürger auf die Straße, um den Rücktritt der amtierenden Regierung unter Ministerpräsident Plamen Orescharski zu fordern und gegen Korruption und Stasi-Seilschaften in Politik und Wirtschaft zu protestieren.

Samstag, 29. Juni Der Vormittag stand zur freien Verfügung. Danach machte sich die Gruppe, um viele Informationen und Eindrücke reicher, auf den Weg zum Flughafen und trat die Heimreise an.

Bericht: Fanny Heidenreich

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Dieser Umstand bildet die Grundlage für die weit verbreitete These von der "Rettung der Juden Bulgariens", die sowohl die damals geltenden antisemitischen Gesetze als auch die Tatsache ignoriert, dass die etwa 12.000 Juden, die in den seit April 1941 bulgarisch besetzten Gebieten in Vardar-Makedonien, West-Thrakien und Ägäisch-Makedonien lebten, in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und fast alle dort ermordet wurden. Vgl. Stefan Troebst: Rettung, Überleben oder Vernichtung? Geschichtspolitische Kontroversen über Bulgarien und den Holocaust. In: Südosteuropa, Nr. 59 (2011), H.1, S.97-127. 10

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