10. Ausblicke Die Klassiker der Moderne

337 _________________________________________________________________________ 10. Ausblicke „Beide, Kunst wie Politik der Gegenwart, sind vom gleiche...
Author: Ludo Beck
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10. Ausblicke „Beide, Kunst wie Politik der Gegenwart, sind vom gleichen Willen beseelt: Sammlung der zerstreuten Teile, Bildung einer neuen Gemeinschaft. Das Steuer des Geistes ist herumgeworfen. Wohl kaum eine Zeit hat sich so schroff den Zielen der vorangehenden entgegengestellt wie die heutige, keine Stilwende war so scharf ausgeprägt wie die Stilwende der Gegenwart“. 1934 beschreibt Ernst Pepping – soeben Dozent an der Kirchenmusikschule Berlin-Spandau – in seiner theoretischen Schrift Stilwende der Musik1 quasi zeugnishaft die Epochenzäsur um 1930, die in der Rückschau (Pepping) dem Lied insgesamt (Verbreitung des Orchesterliedes, des kammermusikalischen Liedes, Zurückdrängen des solistisch geprägten weltlichen wie geistlichen Klavier- bzw. Orgelliedes) eine dreifach-divergierende Richtung verleiht.

10.1. Die Klassiker der Moderne Den Verfechtern der Dodekaphonie2 um das Zentrum Arnold Schönberg (1874 – 1951, Zeitgenosse Regers!), seine Schüler Anton von Webern (1883 – 1945), Alban Berg (1885 – 1935), Egon Wellesz (1885 – 1974) und Karl Linke u. a.3 – die Zweite Wiener Schule – sowie den übrigen Klassikern der Moderne4 Igor Strawinsky (1882 – 1971), Béla Bartók (1881 – 1945) oder Paul Hindemith (1895 – 1963, Ausrichtung an der alten Form bei Bach und Reger)5 standen die Befürworter und Bewahrer der Tonalität gegenüber,6 deren historisch beeinflußte Musik (Lied) zum einen in Max Reger gipfelte, unter denen zum anderen Zeitgenossen wie Kaminski und Raphael den Weg der Gradwanderung zwischen Tradition und Neuer Musik7 versuchten; etliche (Lied-) Komponisten der Geburtsjahrgänge nach 1900 hinterließen ein stilistisch gesplittetes Werk (z. B. Ernst Krenek, 1900 – 1991 und Hermann Reutter, geb. 1900), beiden Tendenzen verhaftet. Die dritte Lied-Richtung ab ca. 1920 wird von der Singbewegung bestimmt (Fritz Jöde 1887 –1970), die sich vornehmlich dem Vorbild des Liedes aus dem 15./16. Jahrhundert zuwendet; die damit verbundene Erneuerung des Volksliedes ist als stilistisch außerhalb der KunstliedGattungen anzusehen (Komponisten: Joseph Ahrens, Helmut Bornefeld, Kurt Fiebig, Johannes Drießler u. a.); als Ausnahme ist der Orgellied-Zyklus Momento mori (1954) von Bornefeld zu nennen. Arnold Schönberg, nach eigenen Aussagen zeitweise Brahmserianer, beeinflußt von Wagner (Tristan-Akkord f-h-dis1-gis1),8 Liszt, Bruckner und Wolf, besonders gefördert von Richard Strauss, von Max Reger bis ca. 1905 akzeptiert9 (der von Schönberg und Alexander von Zemlinsky im März 1904 gegründete Verein schaffender Tonkünstler, im November 1918 als Verein für musikalische Privataufführungen erneut ins Leben gerufen, hebt in seinen Grundsätzen u. a. hervor, daß keine Stilart bevorzugt wird, „nebst Liedern, Klavierstücken, Kammermusik, kleinere Chorsachen, auch Orchesterwerke in Betracht kommen“; ein Forum ohne Presse, mit sorgfältiger Einstudierung, zum besseren Verständnis mit Einführungen, auf dem Max Reger der am meisten aufgeführte Komponist war, sein Lied wie das weltlich-geistliche Klavierlied insgesamt stets ein Zentrum der Programmauswahl darstellte),10 läßt exemplarisch anhand seines Liedoeuvre (11 opusZahlen, 43 Klavierlieder, 11 Orchesterlieder mit dem – teilweise – geistlichen Zyklus op. 8 aus Des Knaben Wunderhorn) kompositorische Entwicklung deutlich werden. Es beginnt mit op. 1, es folgt der Schritt zur Atonalität in op. 15, das Melodram Ein Überlebender aus Warschau op. 46 entsteht 1947, Schlußpunkt sind die Klavierlieder op. 48 (1933). Der Kontakt mit der Orgel symbolisiert sich in den im amerikanischen Exil entstandenen

338 _________________________________________________________________________ Variations on a Recitative op. 40 (1941) sowie der Instrumentierung Bach´scher Orgelwerke. Die Lieder (-zyklen) op. 15, 20, 22 wären auch im Kontext zu Schönbergs Phase als Maler zu betrachten (zwischen 1908 – 1912).11 Stilistisch prägende Liedentwicklungen sind bei von Webern (Geistliches Klavierlied op. 12, Fünf geistliche Gesänge op. 15 als Kammermusik, ähnlich op. 16 als Fünf Canons, op. 17/18) und Berg (88 Lieder, kein Geistliches Lied, Orchesterlieder) chronologisch ablesbar. Das Geistliche Lied für Mezzosopran, Violine, Viola und Klavier op. 23 von Wellesz ist in Vergessenheit geraten. Die Klavier-, Kammermusik- und Orchesterlieder von Strawinsky zeigen stark russischen Einfluß, sind dem Volkslied verhaftet (u. a. Pastorale op. 6, 1908), daher sehe ich eine Zuordnung innerhalb der Nationalräume (Kap. 11.) was entsprechend für Bartók zu gelten hat. Das (meist zyklisch) angelegte Liedschaffen Hindemiths umfaßt 35 Einzelund Reihen-Titel, Klavierlieder, Orchesterlieder und Lieder mit kammermusikalischer Besetzung. Als zentrale Stationen gelten die Drei Gesänge für Sopran und Orchester op. 9 (1917), die starke spätromantische Bezüge zu Strauss und Wagner12 erkennen lassen, der geistliche Klavierzyklus Das Marienleben op. 27 (zwischen 1922 und 1959 in drei verschiedenen Instrumentalfassungen vorliegend) und die Vierzehn Motetten für Sopran, Tenor und Klavier nach Bibeltexten der Luther-Fassung (1940/1960). Sein vergleichsweise kleines geistliches Oeuvre, das als persönlich gehaltenes (ökumenisch bezeugtes) Credo im Todesjahr 1963 mit der Messe für gemischten Chor a capella und dem Fragment Credo (Solo, Instrumente) abschloß, findet seine Mitte in den Chorwerken mit und ohne Orchester, im Geistlichen Lied (Klavier/Orchester). Mehrere Liedzyklen nach Texten von Brentano, Claudius, Novalis, Rilke, Silesius umgeben op. 27 Das Marienleben und die 14 Motetten (ohne opus-Zahl) mit biblischer Textgrundlage. Die weit ausladenden Geistlichen Klavierlieder mit lateinischem Text gleichen spätromantischen Biblischen Balladen. Das Marienleben – ursprünglich 15 Geistliche Klavierlieder nach Texten von Rainer Maria Rilke, 15 Stationen zwischen Geburt und Tod Mariä, im Zentrum das Geburtsgeschehen von Bethlehem – legitimiert in den Augen Hindemiths auf Grund einer selbständigen, von Bildern, Metaphern, Gedanken und poetischen Sprachformen13 angefüllten Dichtung das Gegenüber einer autonomen, konstruktiven, von linearer Transparenz und klanglicher Härte geprägten Musik; Stimmung und Gefühl werden verneint. Daß dieser GeistlicheLieder-Zyklus ihm spiritueller Lebensbegleiter war („Ich begann ein Ideal edler und möglichst vollkommener Musik zu erschauen, das ich dereinst zu verwirklichen imstande sein würde ...“),14 wird an ständigen technischen Überarbeitungen und Neufassungen (Orgellied) deutlich; auch Fassungen für Viola und Klavier waren angedacht. Im Kontext zum Stellenwert, zur Funktionsbestimmung der Orgel in Hindemiths Schaffen, die keinen gottesdienstlich-liturgischen Bezug aufweist, sondern gänzlich als Konzert- und Kammermusik-Instrument zu werten ist, wäre eine Bearbeitung für Orgel und Solo diskutabel. Zwei Einzelstücke für Orgel (1918) sind verschollen, die drei Orgelsonaten (I und II, 1937, III, 1940) finden ihre Anreger im Umfeld seiner Lehrtätigkeit in den USA. Die beiden, stilistisch sehr unterschiedlichen Orgelkonzerte (mit großer Orchesterbesetzung) 1927 und 1963 sind zu Unrecht nahezu vergessen. Hindemith als Musiker seiner Zeit – durchaus auch in kritischer Distanz engagierter Verfechter des Reger´schen Werkes15 – „widerlegt die alberne Phrase von ihrer schöpferischen Ohnmacht. Mehr noch: Sein Werk steht als neue Einheit gegen das verwässerte Epigonentum der Spätromantik, es führt eine Entwicklung weiter, die unter der Devise Zurück zur absoluten Musik mit Brahms begonnen hat. Reger ist das wichtigste Bindeglied. Indem diese Entwicklung in die Gegenwart mündet, indem neue Kräfte neue Gestalt gewinnen, wird sie wieder zum Anfang“, so formuliert Heinrich Strobel 1928 die Grundlagen Hindemiths (Musikantentum, Handwerk, Gegenwart).16

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10.2. Ernst Pepping (Stilwende der Musik) Während Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, die Donaueschinger Musikfeste, die Gründung der Internationalen Gesellschaft für neue Musik (1923) sowie weiterer internationaler Vereinigungen das musikalische Podium für Schönberg, Webern, Berg, Strawinsky, Bartók, Hindemith, Reger und viele andere war, trat gleichzeitig jedoch eine Überzeugungskraft von protestantischer Kirchenmusikbewegung in den Mittelpunkt, nämlich den Grundelementen des lutherischen Gottesdienstes Verkündigung und Anbetung17 neuen Raum zu geben; die klassischen Ideale evangelischer Kirchenmusik (Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach) verhalfen zu einer Musikästhetik, die sich von einer egozentrischen kompositorischen Ausdrucksweise abheben wollte hin zu einem objektiven Sprechenlassen des Wortes durch die Bibel.18 Im Bereich der Orgel (Praetorius-Orgel Freiburg 1922), der alten Chor- und Kammermusik (England, Deutschland, Italien) sowie der Bau- und Spielweise alter Instrumente und historischer Notendrucke (Denkmäler deutscher Tonkunst 1926) entstand flankierend ein Diskussionsforum, mit Hilfe dessen es um 1930 Kirchenmusikern und Komponisten wie Ernst Pepping (1901 – 1981), Wolfgang Fortner (1907 – 1987), Hugo Distler (1908 – 1942) und Johann Nepomuk David (1895 – 1977) gelingen konnte, in der geistlichen Vokalmusik, im Geistlichen Lied einen Neuanfang zu wagen. Durch die neue Bedeutung von Stimme und Orgel im Zenit des Gottesdienstes bekommt das Orgellied einen wesentlichen Impuls; das politische Verbot ließ zwar auch solche Literatur einstweilen verstummen, als die Zeit widerspiegelndes Phänomen hat es zu neuer Aussagekraft und Entwicklungsfähigkeit gefunden. In seiner Stilwende der Gegenwart gibt Ernst Pepping, einer der stärksten Erneuerer der evangelischen Kirchenmusik, seinen Ausblick: „Damit ist zwar ein neues Tonmaterial“ [Zwölftonsystem Schönbergs] „entstanden, doch fehlt ihm die Lebenskraft ...“.19 Die überlieferte siebenstufige diatonische Skala ist für Pepping die „denkbar beste, die sechs Kirchentöne sind Optimalformen der siebenstufigen Oktaveneinteilung, alle stilistischen Entwicklungen der Musik überdauernde Ordnungen“.20 In einer seiner zentralen Äußerungen bedeuten die „Grundwerte Intervall, Akkord (Dreiklang), Tonart Symbole des Stilwillens, die Tonordnung Formung des Willens – nichts in der Musik ist Naturgeschenk“;21 Hindemiths Position – mit seiner konzeptionellen Werk-Ausrichtung (wie Reger) zwischen allen Stühlen – grenzt sich von der Peppings ab, indem er die „natürlichen und geschichtlich gegebenen künstlerischen Mittel“ so für den Kompositionsprozeß einsetzt, „daß sie der gewählten Aufgabenstellung und Zielsetzung am besten entsprechen“.22 Wenn Pepping 1934 – Entstehungsjahr des für den evangelischen Kirchenchor der Nachkriegszeit so bedeutsamen Spandauer Chorbuches – zum Schluß seines Ausblicks von „noch nicht endgültig feststehenden Grundlinien der musikalischen neuen Form ... und der Unsicherheit des Übergangs“ spricht, dann zeigt er als Vorreiter dieser kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung ein Verantwortungsbewußtsein für ein praxisbezogenes „Werk, daß allein in unmittelbarer Verbindung zum Geist der Zeit in die neue Ordnung führt“,23 abzulesen an seinem Geistlichen-Klavierlieder-Zyklus Liederbuch nach Gedichten von Paul Gerhardt (1945/46!). Zu gleicher Zeit wie das Haus- und Trostbuch stellen die wenige Monate nach Kriegsende komponierten 12 Lieder persönliches Bekenntnis und eigene Lebenserfahrung dar,24 zunächst ganz der seelischgeistigen Aufrichtung und Zurüstung verpflichtet. Sein Schüler Frank Michael Beyer, selbst Komponist, hat eine Auswahl von fünf Geistlichen Liedern für Singstimme und Orgel erstellt, die im Pepping´schen Sinne Orgellieder darstellen, denen man ein

340 _________________________________________________________________________ orgeladäquate und komplexe Nutzung im Sinne der Orgelbewegung, ein Ausbalancieren von Wortgebundenheit des Soprans und Anpassung an die Instrumental (Orgel)-Thematik eines selbständigen, kontrapunktisch reich, artikulatorisch detailliert durchgearbeiteten Satzes konstatieren muß. Formal stehen die Orgellieder für eine Weiterentwicklung der barocken Aria. Walter Blankenburg attestiert ihnen Empfindungsreichtum, ein hohes Maß künstlerischer Gestaltungskraft,25 die in der Orgelfassung als gesteigert erscheint, als Motivationsschub gewirkt haben könnte. Pepping als Tonsetzer ging es „um das Einfache, Organische, Ungekünstelte ... von Modischem völlig frei ...“26

10.3. Wolfgang Fortner, Hugo Distler, Johann Nepomuk David Im gleichen Zeitraum zwischen 1934 und 1945 – gemeinhin wird von der zweiten klassischen Moderne gesprochen – entstanden die für das geistliche Vokalwerk Wolfgang Fortners relevanten opera, darunter die Drei geistlichen Gesänge (1934), die als frühe Zeugnisse seiner Entwicklung nicht unbedingt typisch für seinen Personalstil sind,27 es gelten noch neobarocke Züge (ebenso bei Distler und David). Sehr weitgefaßt, kann Fortners opus zur Schöpfungsgeschichte The Creation (1955) für mittlere Stimme und Orchester als geistliches Orchesterlied eingestuft werden, aufgrund der Überlänge übersteigt es aber die Form des Liedes; ein Zeichen seiner Textbehandlung: Nicht biblische Vorlage, sondern poetische Nachdichtung, hier der Negerdichter James Weldon Johnson. Bis zur Jahrhundermitte blieb er Strawinsky und Hindemith verbunden, öffnete sich aber als einziger bedeutender Komponist der zweiten klassischen Moderne neuen Stilmitteln, indem er Schönbergs Dodekaphonie modifiziert in Richtung einer harmonischen Festlegung eines Ausschnitts der Zwölftonreihe,28 er gegen Ende seiner Schaffenszeit aleatorische Elemente und elektronische Klänge erschließt; das Gladbacher Te Deum für Bariton, Chor, Elektronik und Orchester spannt einen stilistischen Bogen von der Gregorianik bis hin zu radikalen neuen Ideen, weshalb Hermann Danuser in seiner Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts von radikaler Moderne (im Gegensatz zur gemäßigten Moderne) spricht.29 Aus heutiger Sicht gehört Fortner – mit seinem geistlichen (Vokal-) Werk – zwischen Tradition und Avantgarde, wie es Joachim Dorfmüller für die Orgelmusik ab 1960 formuliert.30 Der abrupte Freitod Hugo Distlers (1942) gibt keinen Blick frei für Entwicklungsprozesse im Sinne Fortners. Sein Gesamtwerk (umfangreiches Vokalwerk, überwiegend geistlicher Charakter) ab 1930 hat unmittelbare Bedeutung neben Pepping als dem Erneuerer, der die neobarocken Ideen der Orgel- und Chorbewegung der 20er Jahre aufnimmt. Sein vom Wortduktus hergeleiteter Chorstil, rhythmisch-melodisch31 aufgefächert, ist der Choralpassion op. 5 (1932) wie der Weihnachtsgeschichte op. 10 (1933) exemplarisch zu entnehmen, zumal Solostimmen (Vorsänger, Sopran) explizite Aufgaben zugewiesen sind. Sonderformen des Geistlichen Liedes stellen seine Kantaten (ab 1935) dar, die neben Solostimme(n) Chor und Instrumente (Streicher) einbeziehen; in eben die gleiche Rubrik gehören seine Geistlichen Konzerte für hohe Singstimme und Orgel, die denen von Heinrich Schütz nachempfunden sind (Kap. 12.2.). Distlers Impuls für das Orgellied liegt im kammermusikalisch-orgeltransparenten Handwerk, was Aufnahme in kommenden Jahrzehnten gefunden hat. (Kap. 10.5.). Unter Einbeziehung historischer Erkenntnisse der Orgelbewegung kommt Johann Nepomuk David zu einem modernen, individuellen, nicht historisierenden Klangbild32 der

341 _________________________________________________________________________ Orgel, der er ein umfangreiches Werk widmet (u. a. Choralwerk für Orgel in 21 Bänden, zwischen 1929 und 1973: Rechenschaftsbericht seiner Entwicklung).33 In enger Bindung an den Choral schreibt er bedingungslos polyphon, an eine einzige Thematik gebunden; die damit verknüpfte herbe Tonalität hat er seit 1924 nie mehr verlassen. Tiefe christliche Gläubigkeit, sparsame Gestik wie leidenschaftlicher Ausdruck prägen auch sein geistliches Chorwerk, dessen fünf Choralkantaten für drei Solostimmen und Positiv (op. 60, 1965), Geistliches Klavierlied Marienpreis (op. 63, 1966) und die Kantate O wir armen Sünder für Altsolo und Orgel (op. 65, 1966) tendentiell dem Geistlichen Lied nahe stehen; die Gottesminnelieder Ich stürbe gern aus Minne für Frauenstimme und Orgel (ohne opusZahl, 1942, Text von Mechthild von Magdeburg) stehen für ein charakteristisches Orgellied, der abschnittsweise vollzogene Farb- und Tonartenwechsel – man darf hier noch davon sprechen – läßt spätromantische Affinität zu! Seine Wirkungen als Kontrapunktiker gelten als fundamental für einen breiten Schülerkreis, eine unmittelbare Fortsetzung in Form und Tonalität einer Liedgestaltung läßt sich nur schwer ausmachen.

10.4. Hermann Schroeder, Friedrich Zipp, Siegfried Reda Drei weitere Komponisten sind als Zeitgenossen und Nachfolger der kirchenmusikalischen Erneuerer zu nennen, die der Vokal- (Solo) und Instrumental- (Orgel) Musik eine geistlichkompositorisch-differenzierte Prägung verliehen haben, aber ihr Fundament nicht verleugnen: Hermann Schroeder (1904 – 1984) hat sich in seinem umfangreichen (choralgebundenen) Orgelwerk der katholischen Kirchenmusik verschrieben; sein Spezifikum stellt die Orgelkammermusik dar. Die Drei Gesänge Canticum triplex für Sopran und Orgel (1982 erschienen) entwickeln einen Orgellied-Charakter über gregorianisch-psalmodische (Quarten-) Führung, schlichten freitonalen akkordischen Satz bis hin zu einem Jubilus-Alleluja (Nr. 3), in dem Orgel und Solo in Selbständigkeit und Verschmelzung alle Register ausschöpfen, Anklänge an Rheinberger-Strukturen sind erkennbar. – Die Zwei geistlichen Gesänge (aus op. 45, 1954) von Friedrich Zipp (1914 – 1997) zeigen einen Pepping-bewußten, aber für die Gattung sensiblen Tonschöpfer, dessen musikalisch-freitonaler Duktus auch schon Charakteristika der für die evangelische Kirchenmusik prägenden Bläserchöre andeutet (Punktierungen, Quartläufe); diesem Instrumentalkörper galt ein wesentlicher Teil seines Werkes („Auch das Einfache kann den gleichen Symbolwert, nämlich Spiegel des Ewigen zu sein, haben wie das komplizierte Kunstwerk“).34 Ihre Fortsetzung finden die Orgellieder in seinen späteren Kleinen geistlichen Konzerten (Kap. 12.2.). – Schüler von Pepping und Distler – und damit (bis ~ 1960) die stärkste stilistische Nähe – ist Siegfried Reda (1916 – 1968), dessen Linearität des Orgelsatzes in mehrschichtigen Strukturen geordnet ist (Partiten und Vorspielsammlungen für Orgel). Bei Reda wird Orgelbau und Orgeldisposition wie registrierung intensiviert. Das Deklamationsprinzip, der Affekt in der Sprachbehandlung seines Vokalwerkes schlägt durch auf die obligate Instrumental- wie Vokalbehandlung im Lied: Seine Evangelien-Musik für Orgel und eine hohe Frauenstimme (Reihenfolge!) aus dem Jahr 1952 steht für ein Orgellied, daß auf dem Horizont von Klangfläche die beiden Solopartner oftmals zu zauberhafter Filigran-Umspielung und -Verschmelzung führt, unter Einbeziehung starker rhythmischer Elemente; exakte Registrieranweisungen knüpfen an die Hoch-Zeit des Orgelliedes der vergangenen Jahrhundertwende an.

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10.5. Die Neutöner ab 1960 So wie die musikologische Reflexion insgesamt bei 1980 endet, bleibt dem Betrachter von heute vergleichsweise keine differenziertere Beurteilung als die, daß ein sich sozialwirtschaftlich-politisch-kulturelles Stabilisieren im Sog des Aufstiegs nach 1945 mehr und mehr eine musikalische Landschaft (weltweit wie regional) von Gegensätzen, von vielfach verästelter Avantgarde,35 von schwer überschaubarer Fülle des Rückgriffs in europäische wie außereuropäische Traditionen und damit von einer Vielfalt an Formgebung und Segmenten innerhalb der Gattungen zu Tage fördert (Jürgen Habermas, geb. 1929, spricht 1980 von der Moderne als einem unvollendeten Projekt).36 Da der Blickwinkel durch eine stets sich überholende, schnellebige Musikgeschichte einem permanent wechselnden Standort unterworfen ist (Avantgarde stand erstmalig für das Handwerk der Seriellen Musik, siehe Kap. 10.3.), kann keiner der publizierten Termini – geprägt durch die Publizisten, nicht die Komponisten selbst – die zurückliegenden vier Jahrzehnte der musikalischen Kunst signifikant umschreiben; Begriffe wie gemäßigte und radikale Moderne, Postmoderne, Neomoderne (Hermann Danuser)37 wie erste und zweite Avantgarde (J. B. Metzler) unternehmen den Versuch – unter Hintanstellung kognitiver Wahrnehmung von Kurzzeitcharakter – neue, punktuelle (z. B. regionale) Strömungen zu erfassen. Statt der musikhistorisch verbrauchten Formel von Neuer Musik gestatten die Neutöner (ab 1960) zumindest die Assoziation zum größten gemeinsamen Nenner der Liedkomponisten, das Wort-Ton-Verhältnis als verbindende Kraft innerhalb eines weitgefächerten Geistlichen Liedes (als Geistliches Klavierlied und Orgellied) auszumachen. Aufgrund einer sich ausweitenden Segmentierung der Gattung Orgellied (Form, Instrumentierung, Inhalt) erscheinen mehrheitlich Liedschöpfungen als Sonderform (Kap. 12.). In alphabetischer Reihenfolge sind mir folgende Komponisten eines oder mehrerer Geistlichen Klavierlieder-Orgellieder zeitgeschichtlich bedeutsam: *Boris Blacher (geb. 1903) *Günter Bialas (1907 – 1995) *Oskar Gottlieb Blarr (geb. 1934) *Rupert Gottfried Frieberger (geb. 1951) Zsolt Gárdonyi (geb. 1946) Godehard Kirscht (geb. 1918) Johannes H. E. Koch (geb. 1918) Ernst Krenek (1900 – 1991) Dietrich Manicke (geb. 1923) Tilo Medek (geb. 1940) Malte Rühmann (geb. ?) Hans-Ludwig Schilling (geb. 1927)

Drei Psalmen für Bariton/Klavier (1943) Preisungen für Bariton/Klavier (1965) Ahawti ki jischmah Adonai (Psalm 116) für Alt (Bariton)/Orgel (1995) Biblisches Triptychon für Sopran/Orgel (1984) Magnifikat für Mezzosopran/Orgel (1997) Zwei geistliche Gesänge op. 5 für Baß/Orgel (1994) Die Samariterin am Brunnen für Sopran/Orgel (1999) Zwei geistliche Gesänge für mittlere Stimme/Klavier (1959) Magnifikat für Mezzosopran/Orgel (1969) Geistliche Lieder (6) für mittlere Singstimme/ Orgel (1975/1984) Der Lobgesang des Lazarus op. 5 für Bariton/Orgel (1996) 10 Geistliche Gesänge für Bariton/Orgel (1987/1992/1993) Der 150. Psalm für Sopran/Tenor/Orgel (1964)

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Wolfgang Stockmeier (geb. 1931) Bernd Alois Zimmermann (1918 – 1970)

Der 23. Psalm für Bariton/Orgel (1987) Zwei Lied/Choral-Motetten für Sopran/Orgel (1959) Credopsalm (Ps. 139) für Sopran/Orgel (1997) Drei geistliche Lieder für mittlere Stimme/ Klavier (1993)

* Zyklische Liedform Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit, sie kann aber als exemplarisch für das Geistliche Klavierlied-Orgellied von 1960 – 2000 gelten. 1 2

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A. a. O., Stilwende der Gegenwart, Mainz 1934, S. 79. Im Februar 1923 teilt Schönberg seinen Schülern im Ort Mödling seine neue Methode, die Komposition mit zwölf nur aufeinanderbezogenen Tönen mit. Vgl. Martina Sichardt, in: Die Entstehung der Zwölftonmethode Arnold Schönbergs, Mainz, Diss. 1990, S. 7. Vgl. Manuel Gervink, Arnold Schönberg und seine Zeit (Große Komponisten und ihre Zeit), Laaber 2000, S. 217. Karl Linke erinnert sich an eine Unterrichtsstunde bei Schönberg: Nach Prüfung eines von Linke komponierten Liedes soll sein Lehrer gesagt haben „ ... Die Musik soll nicht schmücken, sie soll bloß wahr sein ...“. Konkreter wird die Szene bei Klaus Stadler beschrieben: „Haben Sie das wirklich so kompliziert gedacht? ... Schwer darf Ihnen gar nichts vorkommen. Was Sie komponieren, muß Ihnen so selbstverständlich sein wie Ihre Hände und Ihre Kleider ...“ (Schönberg). Vgl. Karl Linke, Schönberg als Lehrer, in: Lust an der Musik, hrsg. v. Klaus Stadler, München 1984, S. 376/377. Vgl. Anm. 3, S. 347. Vgl. Andres Briner, Dieter Rexroth, Giselher Schubert, Paul Hindemith – Leben und Werk in Bild und Text, Zürich 1988, S. 18, 48ff. Vgl. Werner Oehlmann, Reclams Liedführer, Stuttgart 1973, S. 855/856. Hermann Danuser spricht in seinem Abschnitt „Kirchenmusik 1932 – 1950“ davon, daß „die Krise der fortschrittsorientierten Neuen Musik um 1930 entschieden zur Pflege liturgischer Musik im Dienst einer bestimmen Gemeinschaft beitrug“; gemeint ist das Vorbild Heinrich Schütz als Einheit von musikalischer (Chor-) Funktion und künstlerischer Erfüllung. Vgl. Die Musik des 20. Jahrhunderts, in: NHdb Bd. 7, Laaber 1984, S. 248. Max Regers Fantasie und Fuge über den Namen BACH op. 46 für Orgel (1900) übernimmt in T. 1/2 der Fantasie den Tristan-Akkord. Vgl. Antonius Bittmann, Aspekte der WagnerRezeption Max Regers, in: Reger-Studien 6, Moderne und Tradition, Kongreßbericht Karlsruhe 1998, hrsg. v. A. Becker, G. Gefäller, S. Popp (Schriftenreihe des MRI, Bd. 13), 2000, S. 293ff. Vgl. auch Heinrich Poos, Zur Tristanharmonik, in: Festschrift Ernst Pepping, Berlin 1971, S. 269. Vgl. Anm. 3, S. 95 (Künstlerische Individualisierung). Schon im zweiten Konzert nach der Eröffnung der ersten Saison 1918/1919 (5. Januar 1919) stand Reger mit zwei seiner großen Werke im Mittelpunkt (op. 96 für zwei Klaviere und op. 118 für Cello und Klavier). Vgl. Walter Szmolyan, Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen (Musikkonzepte 36), hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn, München 1984, S. 101ff. Vgl. Anm. 9, S. 165. Die Kunst Schönbergs als Maler sieht Adolf Weißmann kritisch (Schönberg hat gewiß einmal Bilder gemalt); während die Malerei zum Kunstgewerbe hindrängt, will die Musik Schönbergs nur höchste Kunst, Ausdruckskunst sein. Vgl. Adolf Weißmann, Die Musik in der Weltkrise, Stuttgart 1922, S. 182/183. Op. 9 gilt als „Extrempunkt in der Auseinandersetzung mit der musikalischen Moderne um 1900 – Typus der spätromantischen in der Expressivität nicht mehr zu steigernden Bekenntnismusik“. Vgl. Anm. 5, S. 29.

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Vgl. Anm. 5, S. 76. Vgl. Anm. 13, S. 207. Vgl. Anm. 8, Wolfgang Rathert, Der Komponist als Interpret – Überlegungen zu einem neuen Musiker-Typus bei Reger und Hindemith, S. 367ff. Hindemith erweist Reger u. a. seine Referenz im Titel der Lustigen Sinfonietta op. 4 (1916, Regers Todesjahr); Reger schreibt seine Sinfonietta op. 90 im Jahre 1905. Hindemith bearbeitet Regers 100. Psalm op. 106 (1955), er widmet sich als Dirigent (nach 1945) dessen großen Orchesterwerken. Vgl. Anm. 13, S. 85. Vgl. Anm. 7, S. 248. Vgl. Anm. 17, a. a. O. A. a. O., S. 95. Vgl. Anm. 8, Karl Hochreither, Ernst Peppings Toccata „Mitten wir im Leben sind“, S. 130ff. Im II. Abschnitt beleuchtet der Autor kompositorisch Elementares in der Orgeltoccata anhand Peppings Grundlagen, die sich in seinen Büchern Stilwende der Musik und Der polyphone Satz wiederfinden. Vgl. Anm. 20, S. 42. Vgl. Anm. 15, S. 375. Vgl. Anm. 19, S. 101. Vgl. Anm. 21, Walter Blankenburg, Ernst Peppings „Liederbuch nach Gedichten von Paul Gerhardt“ in geschichtlicher Beleuchtung, S. 147. Vgl. Anm. 24, S. 157. Wolfgang Stockmeier spricht in seinem Aufsatz Ernst Pepping in memoriam von seinem Schlüsselerlebnis zur Neuen Musik durch Peppings Orgelpartita Wie schön leuchtet der Morgenstern (1933), in: MuK 1982, Jg. 52, S. 52/53. Vgl. Anm. 26, Uwe Lohrmann, Zum geistlichen Werk Wolfgang Fortners, S. 215ff. Klaus Langrock, Fortner, Wolfgang, in: Das neue Lexikon der Musik, Bd. 2, StuttgartWeimar 1996, S. 98. A. a. O., S. 292. Vgl. Anm. 27, Joachim Dorfmüller, Cantus-firmus-Toccata zwischen Tradition und Avantgarde – Ein Beitrag zur Orgelmusik nach 1960, II, S. 127ff. Vgl. Anm. 28, Heinrich Lindlar, Distler, Hugo, Bd. 1, S. 680/681. Vgl. Anm. 31, Bernhard Albert Kohl, J. N. David, S. 619/620. Vgl. Anm. 32, a. a. O. Vgl. Fred Flindell, Zipp – Friedrich, in: MGG 14, Sp. 1319 Vgl. Anm. 18, 1950 – 1970 Moderne, Postmoderne, Neomoderne. Ein Ausblick, S. 392. Vgl. Anm. 35, a. a. O., S. 406. Vgl. Anm. 35, a. a. O.