10 ( ) 2 Die Denk- und Arbeitsweise des Juristen

Prof. Dr. Reinhard Singer (22.10.2009) Wintersemester 2009/10 § 2 Die Denk- und Arbeitsweise des Juristen I. Rechtsquellen (Literatur: Bork, Rn. 18 ...
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Prof. Dr. Reinhard Singer (22.10.2009)

Wintersemester 2009/10

§ 2 Die Denk- und Arbeitsweise des Juristen I. Rechtsquellen (Literatur: Bork, Rn. 18 ff.; Larenz/Wolf, § 3 ) - Definition: „Entstehungsgründe der Rechtssätze“ - Erscheinungsformen: a) Gesetz und b) Gewohnheitsrecht 1. Gesetz a) Verfassung: Grundordnung des Staates (Grundrechte, Staatsorganisation) b) Verordnungen = Gesetze im materiellen Sinne, nicht im formellen Grund: VO erlässt Exekutive (Art. 80 GG), nicht Legislative) c) Europarecht: -

primäres Gemeinschaftsrecht (EG-Vertrag, z.B. Art. 12 und 39; VOen) gilt unmittelbar

-

Richtlinien bedürfen der Umsetzung gem. Art. 249 Abs. 3 EG

d) Vertrag? h. M.: Nein, Vertrag bindet nur Parteien; Kennzeichen von Gesetzen = Normen, die für unbestimmte Vielzahl von Fällen gelten - unabhängig von Zustimmung der Adressaten. Ausnahme: Tarifvertrag (Rechtsnormen gelten gem. § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend für Arbeitsverhältnis) 2. Gewohnheitsrecht a) Kein geschriebenes Recht, sondern gleichmäßige Übung, die von den Beteiligten als verbindlich anerkannt wird.

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b) Zwei Voraussetzungen: -

längere und gleichmäßige Übung (consuetudo) und

-

Überzeugung der Beteiligten, dass diese Übung als rechtlich verbindlich geboten ist (opinio iuris) Bsp.: (1) culpa in contrahendo, positive Forderungsverletzung (bis zur Schuldrechtsreform; jetzt gesetzliche Grundlage in § 280 Abs. 1 i.V.m. §§ 241, 311 Abs. 2 BGB); Sicherungsübereignung (Grund: Verkehrsbedürfnis; an sich wollte Gesetzgeber nur ein – für Dritte erkennbares -Besitzpfand zulassen; Larenz/Canaris, ML S. 233 f.); Allgemeines Persönlichkeitsrecht. (2) Ungeschriebene Verpflichtung des Rechtsanwalts, vor Gericht in einer Robe (Amtstracht) aufzutreten, beruhte früher auf Gewohnheitsrecht (BVerfGE 28, 21, 30); heute § 20 BORA (Schö-E Nr. 98/1): Verpflichtung im Rahmen des Üblichen (nicht üblich z.B. bei Vernehmung von Kindern als Zeugen), nicht vor Amtsgerichten. Sinn: Robe unterstreicht Objektivität und Sachlichkeit des Gerichtsverfahrens OLG München NJW 2006, 3079: Strafverteidiger in Bayern verpflichtet, unter der schwarzen Robe ein weißes Hemd und eine weiße Halsbinde zu tragen (Gewohnheitsrecht).

2. Gewohnheitsrecht, Verkehrssitte, Handelsbräuche: a) Unterschied: Verkehrssitte und Handelsbrauch im Gegensatz zu Gewohnheitsrecht keine Rechtsquelle, sondern lediglich Hilfsmittel bei der Auslegung von Rechtsgeschäften (§ 157 BGB) sowie bei der Konkretisierung von Treu und Glauben, den guten Sitten und Handelsbräuchen (§§ 138, 242 BGB, 346 HGB). Es handelt sich um Sozialnormen, nicht um Rechtsnormen. Im Kollisionsfall geht das Gesetz vor. Bsp.: Bedeutung des Schweigens auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben als „Zustimmung“ (BGHZ 40, 42, 45; MünchKomm./Busche, § 157 Rn. 21). Vertragsschluss V – K; V übersendet Bestätigungsschreiben mit AGB; K schweigt; AGB = Vertragsbestandteil.

b) Legitimation: aa) des Gesetzes: Wahl der Abgeordneten/Parteien; demokratisch

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bb) des Gewohnheitsrechts: Übung und Rechtsüberzeugung der beteiligten Rechtsgenossen selbst cc) der Verkehrssitte: durch Anwendung oder Auslegung des Gesetzes (§ 157 BGB; § 346 HGB)

3. Richterrecht: Keine Rechtsquelle ist die ständige Rechtsprechung! a) Grund: Aufgabe der Gerichte, Recht zu erkennen, nicht zu schaffen (Gewaltenteilung). Gerichte sind zur Erzeugung von Recht nicht legitimiert. b) Konsequenz: Freiheit der Gerichte, Rechtsprechung aufzugeben und zu ändern. Im Gegensatz zum amerikanischen Recht grundsätzlich keine rechtliche Präjudizienbindung. c) Faktische Präjudizienbindung: Rechtspraxis hält sich faktisch an Rechtsprechung der Obergerichte. aa) Gründe: -

Gerichte unterer Instanz droht Aufhebung im Instanzenzug.

-

Anwälten droht Regress wegen Pflichtverletzung, wenn sie höchstrichterliche Rechtsprechung, vornehmlich die in der amtlichen Sammlung veröffentlichte, übersehen (BGH NJW 1983, 1665: Anwalt übersah Ausschlussfrist für Entgeltansprüche des AN und ihre Anerkennung durch die Rechtsprechung – nicht lesen).

-

Orientierung an Präjudizien dient Rechtssicherheit und Vertrauensschutz der Rechtsunterworfenen.

bb) Bsp.: Änderung der Rechtsprechung nach Schuldrechtsreform 2002 Verschärfte Anforderungen an die Formulierung eines Widerrufsvorbehalts im Arbeitsvertrag (Höchstgrenze 25 – 30 % des Normalverdienstes) gelten erst ab Veröffentlichung des Revisionsurteils; vorher durfte AG auf Bestand der früheren Rechtsprechung vertrauen (BAG NJW 2005, 1820, 1822; NZA 2007, 965, 971 - nicht lesen!). Ergebnis: faktisch erhebliche Präjudizienbindung.

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cc) Konsequenzen: (1)

Literatur (Larenz/Canaris, ML 257): obergerichtliche Rechtsprechung ist „schwächere, subsidiäre Rechtsquelle“; Abweichungen möglich; aber nur unter strengen Voraussetzungen; Abweichler trägt „Begründungslast“.

(2)

Rechtsprechung (BGHZ 87, 150, 155 f.): Abweichung von langjähriger zwingende Gründe“.

Rechtsprechung

erfordert

„schlechthin

d) Verhältnis zum Gewohnheitsrecht: Gewohnheitsrecht entsteht meistens durch langjährige, anerkannte Rechtsprechung wie z. B. bei der culpa in contrahendo, dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht usw.

4. „Herrschende Lehre“: erst recht keine Rechtsquelle; auch in Klausuren keine Berufung auf „herrschende Lehre“, sondern auf Argumente.

II. Aufbau und Struktur des Rechtssatzes Literatur: Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3.Aufl. 1995, 72 ff (Studienausgabe) 1. Normen als Sollenssätze: Normen haben die sprachliche Form eines Satzes. a) Norm ist kein Aussagesatz [Aussagesätze sind entweder Tatsachenbehauptungen („es regnet“) oder Meinungen („Das Auto fährt schnell“)], sondern ein b) „normativer“ Satz: aa) Beispiel: Vermieter hat gemäß § 535 Abs. 1 S. 2 BGB vermietete Sache im vertragsgemäßen Zustand zu erhalten. Begründung: kein Aussagesatz, weil nicht behauptet wird, dass Vermieter die Wohnung in diesem Zustand tatsächlich erhält; der Satz schreibt vielmehr dem Vermieter vor, dass er die Mietsache erhalten soll. Die Formulierung „hat zu erhalten“ ist gleichbedeutend mit „ist verpflichtet, zu unterhalten“.

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Die Verpflichtung, die Mietsache zu erhalten, bezeichnet die Rechtsfolge. bb) Anderes Beispiel: § 823 I BGB „Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Eigentum eines anderen widerrechtlich verletzt, muss diesem den daraus entstehenden Schaden ersetzen“. Rechtsfolge? → Schadensersatzpflicht! Rechtsfolge tritt ein, wenn der Tatbestand verwirklicht ist. Tatbestandsmerkmale: Eigentumsverletzung, Verschulden.

Schaden,

Kausalität,

Rechtswidrigkeit,

2. Die Eigenart des Rechtssatzes lässt sich wie folgt beschreiben: Wenn Tatbestand (T) erfüllt ist, tritt Rechtsfolge (R) in Geltung oder:

T→R

Rechtssatz ist also eine Geltungsanordnung nach dem Schema „wenn, dann“, m.a.W.: ein „hypothetischer“ Satz.

[Exkurs: Zum Teil wird behauptet, Rechtssätze seien Imperative (Befehlssätze). Einwand: trifft zwar auf Verpflichtungssätze zu (z.B. § 433 Abs. 1 BGB), nicht aber z. B. auf Vorschriften, die den Erwerb einer Sache oder den Inhalt von Befugnissen regeln. 1. Bsp.: § 929 BGB Eigentumsübertragung erfordert Einigung und Übergabe -

kein Befehl, da niemand verpflichtet wird, Eigentum zu übertragen

-

dennoch Tatbestand und Rechtsfolge klar zu unterscheiden Tatbestand: Einigung und Übergabe Rechtsfolge: Übergang des Eigentums

2. Bsp.: § 1 BGB Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Geburt. Kein Befehl, keine Pflicht, wohl aber eine „hypothetische“ Geltungsanordnung: „wenn Geburt, dann Rechtsfähigkeit“.

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III. Recht und Gesellschaft

1. Soziale Funktion des Rechts: a) Soziale Integration: Recht ist soziales Herrschaftsinstrument, das durch den Ausgleich widerstreitender Interessen den Zusammenhalt der Gesellschaft erhalten und fördern soll

2 Unterfunktionen b) Verhaltenssteuerung (Ordnungsfunktion)

und c) Konfliktbereinigung (Integrationsfunktion)

aa) Verhaltenssteuerung durch Abgrenzung von Freiheitssphären: Anerkennung von Vertragsfreiheit (§ 311 BGB); aber auch Schranken (§§ 134, 138 BGB). Handlungsfreiheit muss Rechte anderer achten (§ 823 BGB; StGB). Ausgleich zwischen individueller und kollektiver Sphäre -

Vertragsfreiheit (§ 311) schützt Freiheit des Individuums

-

Schranken schützen zB Interessen der Allgemeinheit (§§ 134, 138 BGB) oder des Vertragspartners (§§ 312 ff BGB) im Interesse sozialer Gerechtigkeit (überindividuelle Perspektive)

bb) Verhaltenssteuerung durch Rechtssicherheit -

certitudo:

Klarheit, welche Anforderungen Recht stellt

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-

securitas: Verlässlichkeit, dass rechtskonformes Verhalten durchgesetzt wird

Bsp.: § 823

-

Klarheit, was man tun darf Verlässlichkeit: gerichtliche Durchsetzung

c) Konfliktbereinigung: -

durch Gesetze, Gerichte, Wahlen, Abstimmungen, Rechtsberatung, Vergleiche, ADR (Mediation)

2. Verhältnis Recht und anderen sozialen Normen und 3. Recht und Gerechtigkeit: s.o. § 1 II 1.