1 Einleitung Biografie und Generation in Ostdeutschland Der methodische Zugang Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung.............................................................................1 2 Biografie und Gene...
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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung.............................................................................1 2 Biografie und Generation in Ostdeutschland ..................4 2.1

Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten .................................................. 5

2.2

Generation als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft........................................ 9

2.3

Hintergründe generationsspezifischer Lebensdeutungen in Ostdeutschland ........... 12

2.3.1

Der Systemwechsel als lebensgeschichtliches Ereignis................................... 12

2.3.2

Ostdeutsche Generationen als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften.. 15

3 Der methodische Zugang .................................................17 3.1

Grundcharakteristika qualitativer Sozialforschung .................................................. 18

3.2

Auswahl der Interviews............................................................................................ 19

3.3

Datenerhebung ......................................................................................................... 21

3.3.1

Das autobiografisch-narrative Interview .......................................................... 21

3.3.2

Das Leitfadeninterview in der Oral History ..................................................... 22

3.4

Auswertung .............................................................................................................. 23

4 Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz....................26 4.1

Drei erzählte Lebensgeschichten in Einzelfallanalysen ........................................... 26

4.1.1

Die Richterin Rosemarie Senkel ...................................................................... 26

4.1.2

Die Schulrätin Uschi Naß................................................................................. 35

4.1.3

Die Schulleiterin Brigitte Bräutigam................................................................ 42

4.1.4

Gegenüberstellung der Einzelfälle ................................................................... 51

4.2

Kontrastierender Generationenvergleich.................................................................. 52

4.3

Ergebnis: Deutungsmuster der Aufbau-Intelligenz.................................................. 65

5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen ................67 Literaturverzeichnis ...............................................................70 Anhang 1 bis 7 ........................................................................77

Einleitung

1 Einleitung Der Systemwechsel von 1990 führte zu dramatischen Veränderungen nicht nur der politischen, ökonomischen und kulturellen Struktur der ehemaligen DDR, sondern auch in den „Lebenswelten“ insbesondere der ostdeutschen Bevölkerung. Der Strukturbruch spiegelt sich auf der Subjektebene wider, indem Lebensverläufe und Lebenspläne unterbrochen, biografische Ressourcen und bisher sinnvolle Handlungsmuster in Frage gestellt wurden und Werte und Orientierungen ihre Gültigkeit verloren. Die Betroffenen waren entsprechend ihrer biografischen Ressourcen unterschiedlich auf das historische Ereignis vorbereitet; bei vielen führte der Systemwechsel jedoch dazu, dass eine routinemäßige Auslegung ihrer bisherigen lebensgeschichtlichen Erfahrungen nicht ohne weiteres möglich war und mit der lebensgeschichtlichen Störung in der Biografie in irgendeiner Weise umgegangen werden musste. Grundlegend infrage gestellt wurden Konsistenz- und Kontinuitätsidealisierungen, die eine Verlässlichkeit der in der Vergangenheit erlernten Handlungs- und Deutungsmuster für die Gegenwart und die angenommene Zukunft ermöglichen. Eine massive Infragestellung der lebensweltlichen Deutungsmuster und eine deutliche biografische Störung erscheint bei denjenigen Personen wahrscheinlich, deren Lebensgeschichten aufgrund ihrer beruflichen Stellung, ihres politischen Engagements und ihres Alters in besonderer Weise an das System der DDR gebunden waren: der weiblichen „Aufbau-Intelligenz“ (Hoerning/Kupferberg 1999), also den zwischen 1930 und 1940 Geborenen, die den Aufbau der DDR mit Enthusiasmus mitgetragen, als Frauen erfolgreiche Karrieren in akademischen Berufen in der DDR absolviert und im weitesten Sinne systemtragende Positionen innehatten. Sie erfuhren die Wende kurz vor ihrer erwarteten Pensionierung – ein Neuanfang war zu diesem Zeitpunkt für die Mehrzahl nicht mehr realisierbar. Das aus dieser Situation resultierende angenommene Spannungsverhältnis zwischen der Vergangenheit in der DDR und der Gegenwart und Zukunft in der Bundesrepublik musste in irgendeiner Weise biografisch verarbeitet werden. In dieser Arbeit soll nun der biografische Umgang der weiblichen Aufbau-Intelligenz mit einer derartigen lebensgeschichtlichen Diskontinuitätserfahrung im Mittelpunkt stehen. Ausgehend von den Überlegungen der rekonstruktiven Biografieforschung, nach der autobiografische Zeugnisse dazu dienen, die aktuelle Selbst- und Weltsicht sowohl sich selbst als auch seinem Gegenüber plausibel zu machen, wird Lebensgeschichten nachträglich Konsistenz und Kontinuität verliehen, indem die noch so widersprüchlichen einzelnen Lebensphasen in einen

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Einleitung

sinnvollen Zusammenhang gestellt werden und somit auch Brüche in den Lebensgeschichten geglättet werden (vgl. Rosenthal 1995). Wie stellt sich angesichts der Annahme eines lebensgeschichtlichen Bruchs wie dem Systemwechsel von 1990 die biografische Konsistenz- und Kontinuitätsherstellung dar? Dominieren Strategien des Verdrängens und Verschweigens, der Rechtfertigung und der illegitimen Umschreibung, oder wird die Option der Auseinandersetzung, des Eingeständnisses oder der Neuformierung des Lebensweges gewählt? Welche Rolle nimmt der Systemwechsel in den biografischen Erzählungen ein und wie wird er lebensgeschichtlich gedeutet? Wie wird die eigene berufliche und politische Karriere im System der DDR vor dem Hintergrund einer nachträglichen Delegitimierung dieses Systems dargestellt? Welche Rolle spielen die nach der Wende gemachten Erfahrungen für die Deutung des eigenen Lebens? In der vorliegenden Arbeit soll dementsprechend der Frage nachgegangen werden, wie Angehörige der Aufbau-Intelligenz, die in systemtragenden Leitungspositionen in der DDR tätig waren, die biografische Störung des Systemwechsels in ihren um das Jahr 2000 erzählten Lebensgeschichten verarbeiten. Dazu stelle ich drei lebensgeschichtliche Interviews ostdeutscher Frauen1 vor, die der sogenannten „Aufbaugeneration“ (Jg. 1930 bis 1940) angehören, als Funktionärinnen in der DDR in den Bereichen Justiz und Bildung erfolgreiche Karrieren realisieren konnten und auf unterschiedliche Art und Weise im Zuge des Systemwechsels eine Delegitimierung erfahren mussten. Die Interviews wurden zwischen 2000 und 2001 im Rahmen des Projektes „Frauengedächtnis“2 des Berliner Vereins OWEN (Ost-West-Europäisches Frauennetzwerk) durchgeführt.3 Biografische Selbst- und Weltdeutungen beruhen zwar auf einer individuellen Erfahrungsaufschichtung und werden durch das einzelne Subjekt rekonstruiert. Dennoch sind sie deutlich sozial bestimmt, indem sie sich an kollektiven Vorgaben orientieren. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich über die individuellen Lebensdeutungen hinaus generationsspezifische Deutungsmuster zur Herstellung von lebensgeschichtlichen Sinnzusammenhängen nachvollziehen lassen. Um dies zu überprüfen ziehe ich zur Kontrastbildung eine weitere Generation von 1

Dass es sich ausschließlich um weibliche Interviewpartner handelt, ist dem Forschungsinteresse des Vereins OWEN, der die Daten erhoben hat, geschuldet – ich werde diesen Sachverhalt in meiner Arbeit thematisieren, aber nicht in den Mittelpunkt stellen. 2 Im Rahmen des 1998 ins Leben gerufenen internationalen Bildungs- und Forschungsprojekts „Frauengedächtnis – auf der Suche nach dem Leben und der Identität von Frauen im Sozialismus“ befragen Frauenorganisationen aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks Frauen verschiedener Generationen, die die sozialistischen Regimes erlebt haben, nach ihren biografischen Erinnerungen. Die Interviewmaterialen werden sowohl in den jeweiligen Ländern als auch im zentralen Archiv „Frauengedächtnis“ in Prag archiviert (vgl. www.owenfrauennetzwerk.de). 3 Dem Verein OWEN und insbesondere Dr. Marina Grasse sei an dieser Stelle ganz herzlich für die Bereitstellung des Interviewmaterials gedankt.

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Einleitung

„Intelligenzlern“ (Hoerning/Kupferberg 1999) heran, und zwar Frauen, die der sogenannten „Integrierten Generation“ (Jg. 1950 bis 1960) angehören, in ähnlichen systemnahen Funktionen gearbeitet haben und für die der Systemwechsel ebenfalls eine biografische Diskontinuitätserfahrung darstellt. Die Annahme eines generationsspezifisch unterschiedlichen Umgangs mit der Systemtransformation erscheint plausibel, weil sich die generationstypischen Erfahrungen mit dem System deutlich voneinander unterscheiden – die erste Generation erlebte in ihrer Jugendphase den Aufbau eines sozialistischen Staates, während die später geborene Generation in die etablierte DDR hineingeboren wurde, woraus möglicherweise Unterschiede in der Bindung an die DDR und den Sozialismus resultieren. Des Weiteren differieren auch die Erfahrungen und Anforderungen im Anschluss an den Systemwechsel: Während bei der Aufbau-Intelligenz das Ende der DDR mit dem Abschluss der beruflichen Karriere einherging und eine Identifikation mit dem neuen System aufgrund der Möglichkeit des Rückzugs in die Privatsphäre weniger zwingend erscheint, standen die Angehörigen der Integrierten Generation vor neuen beruflichen Herausforderungen, die auch eine intensivere Auseinandersetzung mit dem neuen System sowie der eigenen Vergangenheit in der DDR erfordern. Im Unterschied zu den einschlägigen qualitativen Analysen ostdeutscher Generationen, wie sie Albrecht Göschel (1999), Dieter Geulen (1993) oder Rainer Land und Ralf Possekel (1995) vorgelegt haben, lege ich den Schwerpunkt auf den biografischen Kontinuitätsbruch der Systemtransformation und betrachte vor diesem Hintergrund die rückblickenden lebensgeschichtlichen Deutungen einer weiblichen Generationseinheit. Es geht also nicht um die Frage, welche Erfahrungen die Frauen in ihrem Leben gemacht haben, sondern was sie davon auf welche Weise in ihrer eigenen Lebensgeschichte thematisieren. Dieser Arbeit liegen zwei elementare Annahmen zugrunde: Erstens gehe ich davon aus, dass der Systemwechsel als eine lebensgeschichtliche Diskontinuitätserfahrung angesehen werden kann, die bisherige Deutungsmuster der Betroffenen auf verschiedenen Ebenen in Frage stellt und bei einer angenommenen Präferenz für biografische Konsistenz und Kontinuität lebensgeschichtlich verarbeitet werden muss. Zweitens erwarte ich, dass der lebensgeschichtliche Umgang mit dem historischen Ereignis des Systemwechsels generationsspezifische Unterschiede aufweist, die auf differierende Erfahrungsaufschichtungen sowohl im System der DDR als auch in der Bundesrepublik zurückzuführen sind. Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Im zweiten Kapitel, das den theoretischen Rahmen bildet, stelle ich erstens dar, weshalb es sich bei biografischen Erzählungen um soziale Konstruktionen handelt, die der Herstellung von lebensgeschichtlicher Konsistenz- und Kontinuität gelten 3

Biografie und Generation in Ostdeutschland

(2.1). Im Abschnitt 2.2 soll aufgezeigt werden, inwiefern das Konzept der Generation als soziale Rahmung individueller Erinnerungen herangezogen werden kann. Anschließend mache ich meine Überlegungen zum biografischen und zum generationellen Ansatz im Hinblick auf das Untersuchungsfeld Ostdeutschland anwendbar (2.3). Das dritte Kapitel dient der ausführlichen Illustration des methodischen Vorgehens, die ich für notwendig erachte, da Transparenz ein Gütekriterium qualitativer Forschung darstellt. Im vierten Kapitel präsentiere ich die Ergebnisse meiner Analyse der lebensgeschichtlichen Deutungsmuster weiblicher Angehöriger der Aufbau-Intelligenz. Nach der Vorstellung der Rekonstruktionen von drei individuellen Lebensdeutungen in Einzelfallanalysen in Abschnitt 4.1 ziehe ich unter Punkt 4.2 kontrastierend zwei biografische Interviews aus der Integrierten Generation hinzu. Dieser Vergleich soll zeigen, ob die vorher rekonstruierten individuellen Deutungsmuster auf die Möglichkeit einer Generation der Aufbau-Intelligenz verweisen. Abschnitt 4.3 gilt der Zusammenfassung der Überlegungen zu den Deutungsmustern der AufbauIntelligenz. Eine abschließende Diskussion der Untersuchungsergebnisse erfolgt im fünften Kapitel.

2 Biografie und Generation in Ostdeutschland Der Frage nach der Möglichkeit einer generationsspezifischen Sicht auf die eigene Lebenszeit liegt die Bestimmung der Angehörigen der Aufbau-Intelligenz als Generationseinheit zugrunde. Diese dient als „Rahmenvorgabe für mögliche Erlebniskonfigurationen und ihre Auswirkungen auf den gegenwärtigen biographischen Thematisierungsbedarf“ (Fischer-Rosenthal 1995: 70). Die theoretischen Bezugspunkte bilden der biografische und der generationelle Ansatz. Beiden Überlegungen ist die Verknüpfung von individuellem Leben und Gesellschafsgeschichte gemein, beide tragen zur gesellschaftlichen Regelung von Zeitlichkeit bei und lassen sich fruchtbar miteinander verbinden.4 Im Folgenden erläutere ich zunächst aus einer biografie- und erinnerungstheoretischen Perspektive heraus Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten, um anschließend das Generationskonzept als mögliche soziale Rahmung biografischer Erinnerungsarbeit vorzustellen. In einem dritten Schritt sollen beide Ansätze im Hinblick auf das Untersuchungsfeld Ostdeutschland fruchtbar gemacht werden. Damit führe ich aus, inwiefern die lebensgeschichtlichen Erzählungen von Angehörigen der Aufbau-Intelligenz zur Analyse generationsspezifi4

So betont beispielsweise Ute Daniel den Vorteil einer Untersuchung von kollektiven Erinnerungen in Bezug auf bestimmte Altersgruppen, um diese von einer harmonisierenden Erinnerungspolitik unterscheidbar zu machen (vgl. Daniel 2001: 343f.).

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Biografie und Generation in Ostdeutschland

scher Erfahrungs- und Deutungsmuster der Vergangenheit und insbesondere eines gesellschaftlichen Systemwechsels herangezogen werden können.

2.1 Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten Das seit den 70er Jahren wachsende Interesse für die Rolle des Subjekts in der Gesellschaft führte zu einer zunehmenden Beschäftigung mit Selbstzeugnissen in den Geschichts- und Sozialwissenschaften.5 Die verschiedenen Ansätze verfolgen das Ziel, anhand individueller Lebensgeschichten die Wechselwirkungen zwischen Individuen und gesellschaftlichen Strukturen zu erhellen (vgl. Rosenthal 1994: 125). Allgemein formuliert geht es also um die Frage, wie Menschen gegebene Strukturen erfahren, sich diese aneignen oder auf sie einwirken. Zu den als Quellen herangezogenen autobiografischen Dokumenten gehören Autobiografien und Memoiren, aber auch Briefe, Tagebücher oder – wie in dieser Arbeit – biografische Interviews (vgl. Stephan 2006). Im Folgenden stelle ich die dieser Arbeit zugrunde liegenden Auffassungen zu Struktur und Funktion der erzählten Lebensgeschichte vor, die ich mit Gabriele Rosenthal als „[...] soziales Gebilde [definiere], das sowohl soziale Wirklichkeit als auch Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte konstituiert und das in dem dialektischen Verhältnis von lebensgeschichtlichen Ereignissen und Erfahrungen und gesellschaftlich angebotenen Mustern sich ständig neu affirmiert und transformiert [...].“ (Rosenthal 1995: 12)

Lebensgeschichten dienen also der Strukturierung autobiografischer Erfahrungen zum Zwecke der Orientierung in der Gesellschaft und der Herstellung eines aktuellen Selbstbildes und stellen somit eine soziale Realität her. Dieser individuelle Konstruktionsakt ist sozial mitbestimmt, weil er sich an gesellschaftlichen Deutungsmustern orientiert. Eine solche Bestimmung des Gegenstandes basiert auf bestimmten strukturellen Merkmalen. So legen Überlegungen aus der Biografie- und Gedächtnisforschung nahe, dass zwischen erlebten Ereignissen, der Erfahrung, der Erinnerung und der erzählten Lebensgeschichte eine grundsätzliche Differenz besteht, und dass zwischen diesen Schritten jeweils sozial beeinflusste Konstruktionsakte des Individuums liegen (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 29). Diese Schritte sollen im Folgenden in stark schematisierender Weise erläutert werden. Im Sinne des Erfahrungs-Konzeptes der Verstehenden Soziologie ist bereits soziale Wirklichkeit durch das Subjekt nicht objektiv erfahrbar, sondern wird erst durch individuelle Interpre-

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In Deutschland gab vor allem die Suche nach den Ursachen des Nationalsozialismus den Anstoß für eine zunehmende Beschäftigung mit der Rolle des Individuums in der Gesellschaft (vgl. Stephan 2006; Rosenthal 1988).

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tationsprozesse von Handlungen und Ereignissen hervorgebracht.6 Individuen machen also Erfahrungen, indem sie erlebten Ereignissen Sinn zuweisen. Dabei werden Ereignisse nicht in ihrer Einmaligkeit wahrgenommen, sondern durch vorstrukturierte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster typisiert. Diese Muster, die in konkreten Interaktionen gewonnen und im Hinblick auf gegenwärtige und zukünftige Orientierungen modifiziert werden, sind durch Sprache oder normierte Handlungsmuster wie Karrieren gesellschaftlich bestimmt (vgl. Schütze 1973: 452ff.). Im Laufe des Lebens schichten sich immer neu gewonnene Typisierungen oder Erfahrungen auf und bilden die Erfahrungsgeschichte des gelebten Lebens. Diese „biografische Erfahrungsaufschichtung“ (Krassnitzer 2001: 222) umfasst eine große Fülle von Erfahrungen, die noch nicht sinnvoll miteinander verknüpft sind. Bei der anschließenden Konstruktion ihrer Lebensgeschichte greifen die Biografen nicht auf die Gesamtheit ihrer erlebten Erfahrungen zurück, sondern auf die zu dem jeweiligen Zeitpunkt relevanten Erinnerungen. Dem liegt eine Auffassung des Gedächtnisses zugrunde, die nicht von einem „Speichergedächtnis“ (Jureit 1999: 47) als einer Art Spiegel gelebter Erfahrungen ausgeht, sondern von der lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung als einer Art „Fundus“, aus dem im komplexen Prozess des Erinnerns Erlebtes in Übereinstimmung mit neu gewonnenen Erfahrungen zu einer strukturierten erinnerten Lebensgeschichte verknüpft wird. Dies geschieht durch Auswahl und Vereinfachung, aber auch durch Verdrängung. Aus einer gegenwärtigen Perspektive heraus kombiniert der Erinnernde also relevante biografische Ereignisse zu sinnvollen Geschichten, die sich zu einem stimmigen Selbstbild formen (vgl. Krassnitzer 2001: 223). Hier wird deutlich, dass Identität nicht statisch ist, sondern einen Prozesscharakter besitzt und neue Erfahrungen – wenn sie sich nicht problemlos in die bisherige Erfahrungsaufschichtung einordnen lassen – immer wieder Überarbeitungen der biografischen Identität erfordern (vgl. Fischer-Rosenthal 1995: 51). Auch der eben geschilderte Konstruktionsakt der Erinnerung ist sozial mitbestimmt, indem er sich an „Erinnerungsstützen des Kulturgedächtnisses“ (Niethammer 2003: 35) anlehnt. Bereits Maurice Halbwachs (1985) unterstreicht in seinem 1925 veröffentlichten Werk „Les cadres sociaux de la mémoire“ die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses, das durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen geprägt wird.7 Niethammer verweist außerdem auf die Dimension unwillkürlicher Erinnerungen, die in stark emotional konnotier-

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Zum Erfahrungs-Konzept in der Verstehenden Soziologie vgl. Schütz/ Luckmann 1975: 154-184. Aufgenommen und weiterentwickelt wurde der Ansatz des kollektiven Gedächtnisses v.a. von Aleida und Jan Assmann, die zwischen dem kommunikativen Gedächtnis, das die interaktive Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen und Gruppen bezeichnet, und dem kulturellen Gedächtnis, das unabhängig von lebendigen Trägern das kollektiv geteilte Wissen über die Vergangenheit einer Gesellschaft bestimmt, differenzieren (vgl. Assmann 1988). 7

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ten Situationen entstehen und dann meist vorbegrifflicher und sinnlicher Natur sind (vgl. Niethammer 2003: 35).8 Der dritte Schritt besteht in der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte. Mit der Verbalisierung seiner Lebensgeschichte verfolgt der Biograf das Ziel, nicht nur sich selbst, sondern auch seinem Interaktionspartner ein „strukturiertes Selbstbild“ (Fischer 1978: 319) zu vermitteln, das auch im Zeitverlauf eine relative Stabilität aufweist.9 Wie die erinnerte Lebensgeschichte orientiert sich auch die aus den Erinnerungen konstruierte und in einer Interaktion realisierte Lebensgeschichte an gesellschaftlichen Ordnungsschemata und ist zusätzlich durch die konkrete Erzählsituation mitbestimmt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass zur kommunikativen Weitergabe der eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrung eine allgemein verständliche Struktur der biografischen Erzählung unabdingbar ist: „Es lässt sich [...] zeigen, dass wir bei der Strukturierung unserer Erfahrungen zu einer Lebensgeschichte, die andere verstehen können, auf gemeinsam geteilte Ordnungsprinzipien zurückgreifen, die es uns überhaupt erst erlauben, die privat-persönlichen Inhalte zu übermitteln bzw. aufzunehmen.“ (FuchsHeinritz 2005: 25)

Das entscheidende strukturelle Prinzip „biografischer Selbstpräsentationen“ (Rosenthal 1995: 12f.) besteht darin, im Leben überhaupt eine Geschichte zu sehen, und dementsprechend besteht die Erwartung an Lebensgeschichten darin „[...] Sinn zu machen, zu begründen, eine gleichzeitig retrospektive und prospektive Logik zu entwickeln, Konsistenz und Konstanz darzustellen, indem sie einsehbare Beziehungen wie die der Folgewirkung von einem verursachenden oder letzten Grund zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen herstellt, die so zu Etappen einer notwendigen Entwicklung gemacht werden.“ (Bourdieu 1990: 76)

Der Biograf entspricht dem, indem er sein gesamtes bisheriges Leben in einen sinnvollen Zusammenhang stellt (Konsistenzannahme) und seine Erlebnisse als eine Kette von notwendig aufeinander folgenden Entwicklungen präsentiert (Kontinuitätsannahme) und dementsprechend lebensgeschichtliche Diskontinuitätserfahrungen zum Zwecke eines kohärenten Selbstbildes zu glätten versucht.

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In diesen Überlegungen verbinden sich zwei unterschiedliche Gedächtnis- und Erinnerungsbegriffe: Während Maurice Halbwachs in seinem Ansatz den sozialen Konstruktionscharakter des Gedächtnisses betont, unterstreichen Henri Bergson und Sigmund Freud die Unwillkürlichkeit von Erinnerungen. Ergebnisse der Kognitionsforschung belegen eine derartige Verbindung beider Konzeptionen (vgl. Niethammer 2003: 35). 9 Um in aktuellen und zukünftigen Interaktionssituationen handlungsfähig zu bleiben – um also sich selbst und andere zu verstehen und sich wechselseitig aneinander zu orientieren – ist es unabdingbar, sich selbst und den anderen als eine Einheit zu begreifen und sich nicht auf die jeweilige komplexe Erfahrungswirklichkeit zu beziehen (vgl. Hahn 1995: 141). Dass Zeitlichkeit für die Herstellung eines kohärenten Selbstbildes eine so entscheidende Rolle spielt, ist nach Hahn historisch bedingt und wird in Gesellschaften relevant, in denen die Gegenwart die Vergangenheit nicht mehr ausreichend transparent macht, was beispielsweise in Gesellschaften mit zunehmenden sozialstrukturell angebotenen Freiheitsräumen der Fall ist (ebd.: 144f.).

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Bezüglich dieses grundsätzlichen Strukturmerkmals der Konsistenz- und Kontinuitätsherstellung orientiert sich der Biograf an Formtraditionen, zu denen Fuchs-Heinritz u.a. die religiöse Beichte, Autobiografien und Memoiren, aber auch Lebenslauf, Laufbahn und Normalbiografie als sozial institutionalisierte Vorstellungsmuster des Lebenszyklus zählt (vgl. FuchsHeinritz 2005: 25ff.). Schließlich hat auch die konkrete Erzählsituation Einfluss auf die Art und Weise der Darstellung. Institutionelle Merkmale der Erzählsituation regeln bestimmte Rollen- und Funktionsvorgaben,10 und auch die variierenden Ziele des Erzählers können die Gesprächssituation mitbestimmen.11 Außerdem beeinflussen die wirklichen und unterstellten Erwartungen des Erzählers an seinen Zuhörer die Art der autobiografischen Darstellung; schließlich verfügt dieser zumindest über eine vage Idee des Forschungsinteresses des Projekts, an dem er teilnimmt (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 32f.). Bisher wurde betont, dass es sich bei der Erzählung einer Lebensgeschichte um einen Konstruktionsakt zur Herstellung eines aktuellen Selbstbildes und zur Orientierung in der Sozialwelt handelt. Dennoch sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Gegenwartsperspektive zwar die Auswahl der Erlebnisse für eine Lebensgeschichte bestimmt, diese aber keinesfalls vollkommen willkürlich konstruiert wird. Biografisches Wissen folgt im Allgemeinen der spezifischen lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung (vgl. Wensierski 1994: 113). Die erzählte Lebensgeschichte wird also durch den dialektischen Austausch zwischen den in der Erinnerung sedimentierten Erfahrungen und ihrer Zuwendung in der Gegenwart des Erzählens bestimmt – „erlebte und erzählte Lebensgeschichte stehen also in einem wechselseitigen Verhältnis“ (Rosenthal 1995: 20). In diesem Abschnitt habe ich die gesellschaftliche Bestimmtheit erzählter Lebengeschichten recht allgemein erläutert. Allerdings bedarf die Kontingenz- und Kontinuitätskategorie der Biografie einer Verankerung in konkreten kollektiven Erfahrungsbezügen. Diese können beispielsweise durch die soziale Einbettung in ein Milieu, eine Nation oder eben eine Generation gegeben sein.

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Es ist sicherlich ein Unterschied, ob eine Lebensgeschichte im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Interviews erzählt wird, für das gezielt aussagewillige Zeitzeugen gesucht wurden, oder ob es sich um eine Aussage vor Gericht handelt. 11 So kann es dem Biografen mal um eine Steigerung seiner Beliebtheit, ein anderes Mal um seine Entlastung gehen.

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2.2 Generation als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft Das Konzept der Generation wird in den Sozialwissenschaften sehr unterschiedlich verwendet.12 Im Rahmen dieser Arbeit soll der Begriff der „Generation“ eine „komplexe Beziehung zwischen der historisch-gesellschaftlichen Zeit und der individuell-persönlichen Zeit“ (Sackmann 1992: 202) darstellen und als soziale Kategorisierung Gruppen bezeichnen, deren Zeitgenossenschaft als Alterskohorte Ähnlichkeiten in ihren Erfahrungs- und Deutungsmustern nahe legt.13 Die Zugehörigkeit zu einer Generation bedeutet also nicht nur das gemeinsame Erleben einer bestimmten historischen Zeit, sondern auch, dass diese Zeit aus der gleichen lebensgeschichtlichen Perspektive heraus wahrgenommen wird und dementsprechend Deutungen des eigenen Lebens generationsspezifische Ähnlichkeiten aufweisen. Um diese Annahmen plausibel zu machen lohnt sich ein Rückgriff auf die grundlegenden Überlegungen Karl Mannheims zum „Problem der Generation“ (Mannheim 1970), in denen er den Begriff im Rahmen einer formalen Soziologie theoretisch anwendbar macht. Dabei grenzt der Autor das Phänomen der Generation von konkreten Gemeinschaften ab und bestimmt es als ein soziales Gebilde ähnlich der Klassenlage (ebd.: 524ff.), wobei die soziale Bindung in einer unkonkreten „verwandten Lagerung der Menschen im sozialen Raume“ (ebd.: 526) besteht. Im Gegensatz zur Klassenlage, die in den „ökonomisch-machtmäßigen“ (ebd.: 525) Strukturen einer Gesellschaft verankert ist, geht der Generationszusammenhang auf den biologischen Rhythmus zurück: „Durch die Zugehörigkeit zu einer Generation, zu ein und demselben ‚Geburtenjahrgange’ ist man im historischen Strome des gesellschaftlichen Geschehens verwandt gelagert“ (ebd.: 527). Mannheim differenziert sein Generationskonzept weiter aus, indem er zwischen Generationslage, Generationszusammenhang und Generationseinheiten unterscheidet. Die Generationslage einer Alterskohorte zeichnet sich durch eine kollektive „Erlebnisschichtung“ – die „Möglichkeit an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren“ (ebd.: 535f.) – aus. Aus der objektiven Lagerung im selben historisch-sozialen Raum resultiert eine geteilte biografische Perspektive auf die historische Entwicklung (vgl. Corsten 2001: 35), die sich von den Sichtweisen anderer Generationen auf dieselbe Entwicklung unterscheidet.14 Dass benachbarte Generationen historische Ereignisse verschieden erleben und erinnern, begründet Mannheim mit der prägenden Phase der Adoleszenz. Erlebnissen und Erfahrungen, die in der Jugend gemacht wurden, spricht der Autor 12

Zu den verschiedenen theoretischen und methodischen Ansätzen der Generationsforschung vgl. Corsten 2001. So sind Familiengenerationen nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. 14 Mannheim knüpft hier an die Überlegungen Wilhelm Pinders zur „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ an (Mannheim 1970: 517f.). 13

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„die Tendenz [zu], sich als natürliches Weltbild festzusetzen. Infolgedessen orientiert sich jede spätere Erfahrung an dieser Gruppe von Erlebnissen, mag sie als Bestätigung und Sättigung dieser ersten Erfahrungsschicht, oder aber als deren Negation und Antithese empfunden werden.“ (Mannheim 1970: 536)

Ein Generationszusammenhang entsteht allerdings erst dann, wenn es zu einer aktiven und realen Verbindung zwischen den sich in derselben Generationslagerung befindlichen Individuen kommt, indem sie sich an derselben historisch-aktuellen Problematik orientieren (ebd.: 543). Nicht aus jeder objektiven Generationslagerung erfolgt demnach auch das subjektive Empfinden der Kohortenmitglieder für diese soziale Kategorisierung.15 Im Rahmen eines solchen Generationszusammenhangs kann es nun mehrere Generationseinheiten geben, die sich hinsichtlich ihrer unterschiedlichen geschichtlichen Betroffenheit und ihrer Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten differenzieren lassen (vgl. Niethammer 2003a: 10f). Wilhelm Pinder spricht diesbezüglich von der „Generation als Problemeinheit und nicht Einheit der Lösungen“ (Pinder zitiert in Bude 2000a: 27). Der Mannheimsche Ansatz, der den Aspekt der gesellschaftlichen Erneuerung durch die Abfolge von (Jugend-)Generationen betont, erfuhr vielfache Kritik, aber auch Weiterentwicklung; an dieser Stelle sollen einige dieser Überlegungen, die im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung von Bedeutung sind, skizziert werden. Kritik wird vor allem an den engen Grenzen des Konzeptes bezüglich der auf die Adoleszenz beschränkten generationsspezifischen Prägungsphase geübt (vgl. Wierling 2003: 218). Untersuchungen legen nahe, dass Mannheims eng konzipierte „Jugendprägungsthese“ (Sackmann 1992: 211) nur vermittelt gedacht werden kann, indem man den Abbau oder die Erweiterung der in frühen Lebensphasen gewonnenen Erfahrungsschichten im Sinne eines lebenslangen Sozialisationsprozesses versteht.16 Joachim Matthes betrachtet in seinem Ansatz Generationen nicht mehr als einzelne historische Jugendgenerationen im Sinne spezifischer Gruppen, sondern zieht sie zur zeitlichen Strukturierung von Gesellschaften heran (vgl. Matthes 1985: 367). Der Autor betont die Relationen zwischen einzelnen Generationen und hebt die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ (Pinder zitiert in Matthes 1985: 368) bezüglich der jeweiligen Weltdeutungen derselben Gegenwart hervor, die unter den Generationen ausgehandelt werden. Dabei stellen divergierende Deutungsmuster das Ergebnis unterschiedlicher Erfahrungsaufschichtungen dar und

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Es gilt also in Anlehnung an Karl Marx zwischen einer Generation an sich und einer Generation für sich zu unterscheiden. 16 Kritisch betrachtet wird außerdem die Bedeutung, die Mannheim den männlichen bildungsbürgerlichen Schichten beimisst, die nicht nur besonders gesellschaftlich geprägt waren, sondern außerdem selbst prägend auf die Gesellschaft einwirken (vgl. Wierling 2003: 218).

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werden in ihrer Genese nicht ausschließlich auf die unterschiedlichen Prägungen in der Phase der Adoleszenz beschränkt (ebd.: 370). Die Frage nach den Generationsbeziehungen ist auch in den Überlegungen Heinz Budes (2000a) zentral, indem er die generationsspezifische Selbstvergewisserung über gemeinsame Motive und Ursprünge als einen Abgrenzungsprozess zu benachbarten Generationen darstellt: „Es ist das Ergebnis wechselseitiger Anverwandlungen, durch das sich Generationen als lebenszeitliche ‚Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft’ konstituieren“ (ebd.: 30).17 Dabei spielt das Bedürfnis des Einzelnen nach Orientierung im Geschichtsverlauf eine wichtige Rolle, denn er kann in der sozialen Konstruktion der Generation einen kollektiven „Bezugspunkt der Vergleichbarkeit und Zurechenbarkeit“ (ebd.: 19) finden. Mit seiner Definition der Generation als „Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft“ wirft der Autor die Frage nach dem Bestand einer Generationsgemeinschaft vor dem Hintergrund möglicher Revisionen lebensgeschichtlichen Wissens auf. Bude unterstreicht eine „lebensalterspezifische Umorganisierung“ der Erlebnisschichtung (ebd.: 28). Eine Generation verändert sich demnach mit dem Lebenslauf ihrer Angehörigen, was in generationsspezifischen Stilen des Alterns zum Ausdruck kommt (ebd.: 20). Zum Altern gehört auch das Hinterfragen des eigenen Lebens jenseits der Lebensmitte, das nach Bude zu einer Orientierung des Einzelnen an den Lebensläufen der ungefähr Gleichaltrigen und somit einem Heranziehen der eigenen Generation als „Vergleichshorizont“ führt (ebd.: 28). Auch Michael Corsten betont in der Auseinandersetzung mit dem Problem der „Revision biografischer Erfahrung“ (Corsten 2001: 44), dass das Umbewerten, Vergessen und Neufassen bisheriger biografischer Abläufe mit hoher Wahrscheinlichkeit von Übergängen im institutionalisierten Lebenslauf und von historischen Wandlungen beeinflusst wird, wenn man denn davon ausgeht, dass sich institutionalisierte Lebensphasen und historische Phasen auch auf der individuellen, alltagspraktischen Ebene realisieren: „Deshalb ist es plausibel anzunehmen, dass bestimmte Übergänge im Lebensverlauf bzw. historische Veränderungen auch alltägliche Anlässe für biographische Revisionen darstellen, und dass diese nicht nur individuell erratisch, sondern sich für bestimmte Gruppen von Geburtsjahrgängen (Ensembles aufeinander folgender Geburtsjahrgänge) zu bestimmten historischen Wendepunkten ergeben.“ (Corsten 2001: 44)

Dorothee Wierling hebt dementsprechend hervor, dass Gemeinsamkeiten im Aufbau von Erfahrungsaufschichtungen zu ähnlichen rückblickenden Deutungen des eigenen Lebens und zu

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Die Definition der Generation als „Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft“ stammt von M. Rainer Lepsius (zitiert in Bude 2000a: 30).

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ähnlichen Antworten auf die Herausforderungen der historisch-gesellschaftlichen Umwelt führen können (vgl. Wierling 2002: 555). Zusammenfassend kann also geschlossen werden, dass angesichts einer gemeinsamen Generationslagerung und einer daraus resultierenden ähnlichen Erlebnisaufschichtung nicht nur Ähnlichkeiten bezüglich der historisch-aktuellen Perspektive im Sinne Mannheims bestehen, sondern dass auch Übereinstimmungen hinsichtlich der rückblickenden Konstruktion des eigenen Lebens plausibel sind. In der vorliegenden Arbeit ziehe ich diese Ausführungen zum Generationskonzept heran um zu überprüfen, inwiefern die herausgearbeiteten Erfahrungs- und Deutungsmuster auf die Möglichkeit einer Generation von Akademikerinnen als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft verweisen. Ob sich über Ähnlichkeiten in den lebensgeschichtlichen Deutungsmustern hinaus auch ein bewusster Generationszusammenhang im Sinne Mannheims gebildet hat, muss im Anschluss an die Interpretation des Materials diskutiert werden.

2.3 Hintergründe generationsspezifischer Lebensdeutungen in Ostdeutschland Nun gilt es die systematischen Überlegungen zu Biografik und Generationalität für die Interpretation von Lebensgeschichten einer ostdeutschen Generationseinheit anwendbar zu machen. Dazu gehe ich zunächst auf die spezifische Herausforderung an ostdeutsche Lebensgeschichten ein, den gesellschaftlichen Kontinuitätsbruch des Systemwechsels von 1990 zu verarbeiten. Anschließend belege ich die Möglichkeit der altersspezifisch differenzierten biografischen Auseinandersetzung mit dem Kontinuitätsbruch und wende ich mich der Frage zu, welches analytisch gebildete Generationsmodell zu Ostdeutschland als Grundlage meiner Untersuchung sinnvoll erscheint.

2.3.1 Der Systemwechsel als lebensgeschichtliches Ereignis Dass der Systemwechsel von 1990 für den größten Teil der ostdeutschen Bevölkerung zu einem biografischen Kontinuitätsbruch führte, resultiert aus der Annahme einer engen Verknüpfung von Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte: So geht die biografische Strukturierung des Lebens immer auch mit der Erwartung einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur einher, in die eine Lebensgeschichte eingebettet und von der sie in ihrer zukünftigen Lebensplanung bedingt ist (vgl. Wensierski 1994: 19). Die umfassenden Veränderungen der politi12

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schen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen in Ostdeutschland führten auf der individuellen Ebene zu einem Spannungsverhältnis zwischen der lebensgeschichtlichen Vergangenheit in der DDR und der Gegenwart und angenommenen Zukunft im bundesdeutschen System, so dass eine routinemäßige Auslegung der bisherigen lebensgeschichtlichen Erfahrungen nicht ohne weiteres möglich war. Die bisherigen Konsistenz- und Kontinuitätsidealisierungen, die eine Verlässlichkeit der in der Vergangenheit erlernten Handlungsorientierungen und Selbst- und Weltdeutungen für die Gegenwart und angenommene Zukunft ermöglichen, wurden infrage gestellt (ebd.: 20).18 Die lebensgeschichtliche Diskontinuitätserfahrung resultierte zunächst aus den umfassenden Veränderungen der objektiven Lebensbedingungen und aus der lebensperspektivischen Unsicherheit bezüglich der Ergebnisoffenheit des Transformationsprozesses. Diese individuellen Auswirkungen der Systemtransformation wurden in zahlreichen Studien belegt und gestalten sich derartig vielschichtig, dass ich mich an dieser Stelle auf die exemplarische Benennung einiger wichtiger Arbeiten beschränke.19 So betrachtet die kohortenspezifische Untersuchung „Kollektiv und Eigensinn“ (Huinink et al. 1995) Lebensverläufe in der DDR und im gesellschaftlichen Umbruch seit 1989 im Hinblick auf ihre Prägung durch institutionelle und strukturelle Rahmenbedingungen und betont die gravierenden Veränderungen in den Erwerbs- und Berufsverläufen sowie den Familien- und Netzwerkbeziehungen durch den Systemwechsel (ebd.: 307). Peter A. Berger (2001) unterstreicht in seiner Analyse ostdeutscher Lebensläufe die biografischen Brüche im Zuge der Systemtransformation, die sich vor dem Hintergrund der in der DDR ausgeprägten biografischen „Stabilitäts- und Sicherheitserwartungen“ (ebd.: 249) als besonders tiefgreifend erweisen. Und die Berichtsgruppe „Individuelle Entwicklung, Sozialisation und Ausbildung“ im Rahmen der „Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern“ (Hormuth 2001: 271) beschäftigt sich mit der Frage der Auswirkung der Transformation nicht nur auf die Arbeitsverhältnisse, sondern auch auf Veränderungen in persönlichen Freundschaften, im Freizeitverhalten und in subjektiven Befindlichkeiten. Auch wenn die These der ostdeutschen Frauen als „Verliererinnen der deutschen Einheit“ in ihrer Eindeutigkeit nicht zutrifft, betonen zahlreiche Studien, so auch Huinink et al. (1995), 18

Gisela Trommsdorff (1995) definiert die individuellen Auswirkungen des gesellschaftlichen Strukturbruchs umfassender als Identitätskrise im Sinne eines Zusammenbruchs von Kontinuität in der Selbstbewertung und des Zusammenbruchs von relevanten Bezugssystemen und Identifikationsmodellen (ebd.: 138f.). Angesichts des an sich leeren und deshalb sehr detailliert zu operationalisierenden Begriffs der Identität (vgl. Niethammer 2003a: 1ff.) vermeide ich eine derartige Deutung der individuellen Folgen des Systemwandels. 19 Eine äußerst knappe Darstellung der Auswirkungen der Systemtransformation auf die individuellen Lebensbedingungen ist auch deshalb vertretbar, weil die in den individuellen Lebensgeschichten thematisierten Diskontinuitätserfahrungen in Kapitel 4.1 ausführlich dargestellt werden.

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die besonderen Auswirkungen des Transformationsprozesses auf weibliche Lebensläufe insbesondere der jüngeren und mittleren Generation (ebd.: 315ff.). So liegt den Lebensentwürfen ostdeutscher Frauen nach wie vor die Selbstverständlichkeit zugrunde, berufliche und familiäre Aufgaben vereinbaren zu können. Die sich im Zuge des Systemwechsels verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen führen jedoch zu einer „neuartigen Dimension gesellschaftlicher Benachteiligung von Frauen“ (ebd.: 316) und unterstützen eine Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse in Ostdeutschland (vgl. Klenner 2002). Vor dem Hintergrund des untersuchten Wandels der objektiven Lebenswelt kam es jedoch nicht nur zu Unsicherheiten bezüglich der Gegenwart und Zukunft in veränderten gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch zu einer Vielzahl von Legitimationsproblemen gegenüber der biografischen Vergangenheit, weil die umfassende Delegitimierung der DDR auch zu einer Infragestellung der bisherigen Lebensgeschichten in diesem System führte. Hinsichtlich der politisch-ideologischen Kollaboration mit der SED wurden zahlreiche Biografien durch institutionalisierte Evaluierungsverfahren wie die Veröffentlichung der Stasiakten durch die „Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BSTU)“, die Arbeit der „Stiftung der Aufarbeitung der SED-Diktatur“ oder der „Enquêtekommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ öffentlich hinterfragt (vgl. Faulenbach 1997). Im Zuge dieser institutionalisierten Verfahren trug auch der nach 1989 einsetzende öffentliche Diskurs zur Vergangenheit der DDR als „Diktatur kommunistischer Prägung“ (Kocka 1994: 547) dazu bei, sich in der Öffentlichkeit mit dem totalitären Charakter der „zweiten deutschen Diktatur“ (Jesse 1998: 141) und ihren Opfern und Tätern auseinander zu setzen. Allerdings beschränkt sich dieser „Experten-Diskurs“ (Ahbe 1999: 88) häufig auf Diskussionen in wissenschaftlichen Kreisen und tritt hinter der allgemeinen Auffassung einer vergleichsweise „kommoden DDR-Diktatur“ (Grass zitiert in Große 1998: 162) zurück.20 Doch nicht nur die politisch-ideologische Vergangenheit wurde hinterfragt. Im Zuge der Systemtransformation kam es außerdem zu einem Entwertungsprozess des in der vergangenen DDR erworbenen kulturellen Kapitals. Zahlreiche Bildungs- und Qualifikationsabschlüsse wurden nicht mehr anerkannt, tradierte kulturelle Muster erfuhren eine umfassende Entwertung und der kulturelle Habitus als ehemaliger DDR-Bürger respektive „Ossi“ wurde aus

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Thomas Ahbe (1999) beschreibt den kollektiven Ostalgie-Diskurs als Reaktion auf den professionellen intellektuellen Diskurs um die DDR, bei dem es um die Definition des moralisch, politisch und ästhetisch Tolerierbaren geht. Mit der Ostalgie als Laiendiskurs betonen die ostdeutschen Diskursteilnehmer ihre positiven Alltagserfahrungen in der DDR und wehren sich gegen die Entwertung ihrer Biografien (ebd.: 88). Fritze (1997) unterstreicht, dass das Interpretationskonstrukt „DDR-Nostalgie“ zwar teilweise mit Erfahrungen der früheren DDRBevölkerung korrespondiert, im Ganzen aber nicht deren Realität erfasst (ebd.: 113).

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westdeutscher Perspektive als „demokratieunfähig, autoritätsgläubig und ausländerfeindlich, kulturell als provinziell, spießig-piefig und unselbständig, und von den ästhetischen Präferenzen her als auf völlig rückständigem Niveau stehend“ (Ahbe 1999: 91) degradiert. Der gesellschaftliche Transformationsprozess in Ostdeutschland führte also zu einer deutlichen biografischen Diskontinuitätserfahrung, die die Betroffenen zum Zwecke der Handlungsorientierung in der veränderten Sozialwelt und zur Herstellung eines auch sozial anerkennungsfähigen Selbstbildes mittels „biografischer Arbeit“ (Fischer-Rosenthal 1995: 53) kompensieren mussten und müssen.

2.3.2 Ostdeutsche Generationen als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften Den Überlegungen zur Generation als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft folgend liegt die Annahme nahe, dass der biografische Kontinuitätsbruch durch die Systemtransformation generationsspezifisch differenziert verarbeitet wird.21 Entsprechend ihres Alters zum Zeitpunkt des Systemwechsels und ihrer biografischen Ressourcen bzw. lebensgeschichtlichen Erfahrungen gelebter Gesellschaftsgeschichte gehen die Betroffenen in ihren subjektiven Lebensdeutungen unterschiedlich mit dem Kontinuitätsbruch um (vgl. Fischer-Rosenthal 1995: 66), und entsprechend verschieden gestalten sich auch die Möglichkeiten biografischer Konsistenz- und Kontinuitätsherstellung. Die Generation als soziale Rahmung zur Analyse subjektiver Lebensdeutungen vor dem Hintergrund der Systemtransformation bietet sich also an. Die gängigen Generationsmodelle zu Ostdeutschland beziehen sich auf Darstellungen der politischen Verhältnisse und historischen Phasen der DDR-Geschichte und gehen somit von sich generationsspezifisch wandelnden Gesellschafts- und Systemerfahrungen aus.22 In der vorliegenden Arbeit orientiere ich mich an den Generationsmodellen von Hartmut Zwahr (1994) und Bernd Lindner (2003)23 und spezifiziere sie im Sinne einer Generationseinheit im Mannheimschen Sinne hinsichtlich ihrer Berufs- und Geschlechtszugehörigkeit. Die grundlegenden Ansätze von Zwahr und Lindner bieten sich an, da beide Autoren generationsspezifisch unterschiedliche DDR-Bindungen in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellen. Während

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Auch die unter 2.3.1 angeführten Studien machen deutlich, dass hinsichtlich der individuellen Bewältigungsmöglichkeiten des Wandels altersspezifische Unterschiede bestehen (vgl. Hormuth 2001: 272). 22 Für die Geschichte der DDR kann man von einer Periodisierung in Aufbauphase bis 1961, Reformphase bis 1971 und real existierenden Sozialismus bis 1989 ausgehen (Meuschel zitiert in Fischer-Rosenthal 1995: 67). 23 Weitere Generationsmodelle entwickelten beispielsweise Göschel (1999), der analog zu einer westdeutschen Generationseinteilung eine Strukturierung in Anlehnung an einen kulturellen Wertewandel in der DDR vornimmt, oder Land/ Possekel (1994), die in ihrer diskursanalytisch orientierten Studie zu Intellektuellen in der DDR die „überindividuelle Identität“ (ebd.: 15) einer Altersgruppe aus deren Erzählungen entnehmen.

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sich Lindner dabei in erster Linie auf die jugendliche Prägung beruft, begründet Zwahr in einem weniger eng gefassten Modell unterschiedliche DDR-Bindungen mit generationstypischen Erfahrungen und Lebensschicksalen und differenziert nicht nur hinsichtlich der Sozialisation, sondern auch in Bezug auf die Dauer der Berufstätigkeit in der DDR und das Alter zum Zeitpunkt des Systemwechsels. Allerdings weist der Ansatz deutliche Defizite auf, weil der Autor nach einer umfassenden qualitativen Bestimmung der 20er Jahre-Generation und der zwischen 1930 und 1939 Geborenen die Jahrgänge von 1940 bis 1950 kaum spezifiziert und die von 1950 bis 1988 Geborenen undifferenziert als „Kinder der Republik“ (Zwahr 1994: 451) zusammenfasst. Lindner unterscheidet zwischen drei Jugendgenerationen in der DDR: Bei der Aufbaugeneration der zwischen 1930 und 1940 Geborenen spielen das frühkindliche Erleben des zweiten Weltkriegs und das Hineinwachsen in die DDR-Gesellschaft eine wichtige Rolle. Ihre Angehörigen waren – wenn sie vor dem Mauerbau 1961 nicht in den Westen geflohen waren – größtenteils relativ stabil in der DDR-Gesellschaft verankert, was nicht zuletzt dadurch begründet ist, dass sie vom Elitenaustausch nach dem Nationalsozialismus profitierten und in dieser Gesellschaft sozial aufsteigen konnten (ebd.: 201ff.). Im Zuge des Systemwechsels, den die Angehörigen dieser Gruppe im Alter zwischen 50 und 59 Jahren erlebten, wurde ihre berufliche Existenz häufig durch Abdrängung in den Vorruhestand beendet. Innerhalb der von Lindner vorgeschlagenen Gruppe der Aufbaugeneration ließe sich die spezifische Generationengestalt der weiblichen „Aufbau-Intelligenz“ differenzieren. Erika M. Hoerning und Feiwel Kupferberg (1999) bestimmen als „Aufbau-Intelligenz“ die Jahrgänge 1930 bis 1938, zu der sie neben der ehemaligen Machtelite (der Parteielite als herrschende Klasse, der administrativen Dienstklasse sowie der operativen Dienstklasse) auch Künstler, Wissenschaftler und Angehörige akademischer Berufe zählen (ebd.: 28f.).24 Die Autoren unterstreichen die bis heute anhaltende politische Loyalität zur DDR bei den Mitgliedern dieser Gruppe, die „den Aufbau der DDR in den 1950er Jahren mit Überzeugung und Enthusiasmus betrieben und auch getragen haben“ (ebd.: 29). Doch nicht nur die berufliche Position in der DDR, sondern auch die spezifisch weiblichen Erfahrungen dieser Gruppe lassen Ähnlichkeiten in den lebensgeschichtlichen Deutungsmustern erwarten. So gehören die weiblichen Angehörigen der Aufbaugeneration trotz aller Ein-

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Schneider (1994) spricht auch von der Funktionselite, also „alle jene, deren Positionen die Chance in sich tragen, Entscheidungen von Bedeutung für die gesamte Gesellschaft regelmäßig mitzubestimmen.“ (Wientjes zitiert in Schneider 1994: 16), wozu er Wirtschaftsführer, politische Führungskräfte, Professoren, Lehrer und Schulleiter sowie höhere Beamte der Schulverwaltung, Kirchenfürsten (sic!), die Medien, Generäle und Admiräle, Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte zählt (Dahrendorf zitiert in Schneider 1994: 16).

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schränkungen zu den ersten Frauen, die – durch die Sozialpolitik der DDR unterstützt – berufliche Qualifikation und Integration realisieren konnten (Budde 2003: 400). Die zweite von Lindner herausgearbeitete DDR-Generation bezeichnet er als Integrierte Generation (Lindner 2003: 205ff.). Die zwischen 1945 und 1960 Geborenen wurden in einer Phase relativen Wohlstands in die bereits bestehende DDR hineingeboren und genossen deren Bildungssystem und die entsprechende ideologische Indoktrinierung. Trotz punktueller Zweifel zeichnet sich diese Generation durch ihre anhaltende Unterstützung des sozialistischen Staates aus (Lindner 2003: 188). Den Systemwechsel erlebten die Mitglieder der Integrierten Generation im Alter zwischen 30 und 40 Jahren – eine berufliche Neuorientierung war bei den meisten Angehörigen der hier als Vergleich interessierenden systemloyalen Intelligenz dieser Generation also unbedingt notwendig. Schließlich beschreibt Lindner in seinem Modell die Distanzierte Generation der zwischen 1961 und 1975 Geborenen, die in einer Zeit politischer Stagnation als erste Generation die Brüchigkeit des Systems erkennt und den dafür zu entrichtenden Preis politischer Anpassung hinterfragt (ebd.: 209ff.). Auf die Frage des generationsspezifischen Umgangs mit dem Systemwechsel geht keines der ostdeutschen Generationsmodelle explizit ein. Die vorangegangenen Überlegungen zur Generation als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften lassen einen derartigen Zusammenhang jedoch plausibel erscheinen. Ob aus den hier skizzierten analytischen Unterschieden der Generationen auch unterschiedliche Deutungsmuster des eigenen Lebens vor dem Hintergrund des Systemwechsels resultieren, untersuche ich in Kapitel 4.

3 Der methodische Zugang Die Darstellung des methodischen Zugangs dient der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der einzelnen Arbeitsschritte, die der Studie zugrunde liegen. Meinen Überlegungen stelle ich einen kurzen Überblick über die Grundcharakteristika der qualitativen Sozialforschung voran, in den auch eine Definition des Deutungsmuster-Konzeptes eingebettet ist. Anschließend sollen die Auswahlkriterien der hier untersuchten Lebensgeschichten dargelegt werden. Im Abschnitt 3.3 stelle ich das der Datenerhebung zugrunde liegende Konzept des narrativen Interviews im Sinne Fritz Schützes und des Leitfadeninterviews in der Oral History vor und skizziere außerdem kurz die Durchführung der Erhebung selbst. Im Abschnitt 3.4 erfolgt eine Erläuterung der Auswertungsmethode.

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Der methodische Zugang

3.1 Grundcharakteristika qualitativer Sozialforschung Die qualitative Sozialforschung geht von der Annahme aus, dass gesellschaftliche Wirklichkeit durch die Handlungen, das Wissen, das Sprechen, kurz die symbolisch vermittelten Interaktionen der Subjekte konstruiert wird. Die Aufgabe qualitativer Forschung besteht nun darin, die „Konstruktion der Wirklichkeit zu rekonstruieren, welche Akteure in und mit ihren Handlungen vollziehen“ (Meuser 2003: 140) und somit individuelle Deutungen der sozialen Welt herauszuarbeiten. Um die Relevanzstrukturen, die dem Handeln von Akteuren zugrunde liegen, verstehend nachvollziehen zu können, verwenden qualitative Methoden im Gegensatz zu quantitativen Ansätzen offene, nicht-standardisierte Erhebungsverfahren. Damit wird den Akteuren die Möglichkeit gegeben, in ihrer eigenen Sprache und gemäß ihrer eigenen Lebenswelt bzw. ihres Relevanzsystems ihr Handeln darzustellen und Sachverhalte zu erläutern. Die methodische Kontrolle ist durch die unterschiedlichen Relevanzsysteme von Forscher und Erforschtem gewährleistet (vgl. Bohnsack 2003: 20f). Im Gegensatz zu quantitativen Methoden dient die induktiv vorgehende qualitative Sozialforschung insbesondere der Generierung von Theorien und Hypothesen. Außerdem verfolgen rekonstruktive Ansätze mit ihren üblicherweise geringen Stichprobengrößen keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern setzen am konkreten Einzelfall an. Da aber davon ausgegangen wird, dass sich aus der Rekonstruktion einer spezifischen Fallstrukturen Homologien zu anderen Fällen nachweisen lassen (vgl. Wohlrab-Sahr 1996: 3), sind durchaus Generalisierungen möglich. Von der Interpretation eines Einzelfalls ausgehend richtet sich das Interesse qualitativer Ansätze insbesondere auf die Analyse von Deutungsmustern, die eine „kulturelle, kollektiv bzw. überindividuell (re-)produzierte Antwort auf objektive, Handlungsprobleme aufgebende gesellschaftliche Bedingungen“ (Lüders/Meuser 1997: 15) darstellen. Deutungsmuster gelten also für Angehörige bestimmter Gruppen – von einzelnen sozialen Gruppierungen bis hin zur Gesamtgesellschaft. Sie sind auf einer latenten, nur begrenzt reflexiv verfügbaren Ebene angesiedelt und verfügen über einen funktionalen Bezug zu den objektiven Handlungen der einzelnen Subjekte (ebd.: 19). Subjektive Wirklichkeitskonstruktionen sind in sozialstrukturellen Hintergründen verankert, so dass gefragt werden kann, in welcher Hinsicht spezifische Deutungsmuster generations-, milieu- oder geschlechtstypische Besonderheiten, also ähnliche Antworten auf gleichartige Lebenswelten, aufweisen. Die qualitative Sozialforschung verfolgt also das Ziel, „soziales Handeln als je individuellen Ausdruck überindividueller Zugehörigkeiten [...] und kollektiver Orientierungen verständlich zu machen“ (Meuser 2003: 142). 18

Der methodische Zugang

3.2 Auswahl der Interviews Nun soll erläutert werden, auf welchen Überlegungen die Auswahl der in dieser Arbeit untersuchten Lebensgeschichten basiert. Grundlage sind die Transkripte narrativer Interviews mit Angehörigen der weiblichen Aufbau-Intelligenz. Die drei in dieser Arbeit dargestellten autobiografischen Erzählungen aus den Jahren 2000 und 2001 habe ich aus der Gesamtmenge von 90 Interviews ausgewählt, die der Berliner Verein OWEN seit 1995 mit ostdeutschen Frauen der Geburtsjahrgänge 1920 bis 1960 geführt hat. Die Mitarbeiterinnen bemühten sich bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen um eine möglichst große Varianz: „The women interviewed so far come from different socio-cultural milieus – big cities, small towns, rural areas. Their education differs, as does their training and the occupations engaged in. They had different professional and social careers, belong to different religious denominations or are atheists, and have organized their private lives and family affairs in different ways.” (Beyer-Grasse 2001: 4)

Geleitet wurde meine Auswahl der lebensgeschichtlichen Interviews aus dieser Grundgesamtheit von der Hypothese, dass die Zugehörigkeit zu der in Kapitel 2.3 vorgestellten sozialen Gruppe der im System der DDR beruflich erfolgreichen weiblichen Aufbau-Intelligenz erwarten lässt, dass bei den Interviewpartnerinnen eine besondere Nähe zur DDR bestanden und dementsprechend der Systemwechsel ein besonders prekäres Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsentwürfen hervorgerufen hat, das biografisch verarbeitet werden muss. Wensierski betont bezüglich der verschiedenen Erfahrungen des Systemwechsels: „Als besondere Problemgruppe erweisen sich (wie zu erwarten) jene Biographien, in denen ein enger institutioneller oder auch wertorientierter Bezug zum SED-System bestand“ (Wensierski 1994: 181). Und Hoerning/Kupferberg (1999) belegen unter zusätzlicher Berücksichtigung des Lebensalters plausibel die anhaltende Systemloyalität der AufbauIntelligenz auch nach 1990. Demnach liegt die Annahme nahe, dass in dieser Generation weiterhin eine Nähe zur delegitimierten DDR besteht und sich eine Identifikation mit dem bundesdeutschen System nur begrenzt vollzogen hat. Die untersuchte Frauengeneration der zwischen 1930 und 1940 Geborenen war außerdem mit den besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, die der Systemwechsel für Frauen beinhaltete. Zwar waren sie durch ihren baldigen Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit weniger als jüngere Frauengenerationen von Umorientierungen auf dem Arbeitsmarkt oder den Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Karriere und Familie betroffen; dennoch erwarte ich ein eher negatives

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Der methodische Zugang

Bewusstsein für die Veränderungen der gesellschaftlichen Möglichkeiten von Frauen im Zuge der Systemtransformation.25 Die konkrete Auswahl der Interviews habe ich nach einer u.a. von Glaser und Strauss (2005: 62ff.) vorgeschlagenen Vorgehensweise getroffen, die dem Ziel einer maximalen Verschiedenheit im Sample folgt. Dazu werden zwar nur wenige, aber möglichst unterschiedliche Fälle einbezogen. Es erscheint also sinnvoll, Fälle auszuwählen, in denen die Biografinnen trotz der Ähnlichkeiten im Hinblick auf Alter, Geschlecht und Systemloyalität verschiedene Deutungsmuster ihres Lebens realisieren, um so die Unterschiedlichkeit des Feldes der Generationseinheit der weiblichen Aufbau-Intelligenz zu repräsentieren. Bohnsack (1999) folgend ist der „Kontrast in der Gemeinsamkeit [...] fundamentales Prinzip der Generierung einzelner Typiken und [...] zugleich die Klammer, die eine ganze Typologie zusammenhält“ (ebd.: 160). In meiner Untersuchung der typischen Deutungsmuster in den Lebensgeschichten der weiblichen Aufbau-Intelligenz müssen also Bezüge herausgearbeitet werden zwischen den spezifischen Orientierungen und dem Erlebnishintergrund, aus dem heraus diese Deutungsmuster entstehen. Um festzustellen, inwiefern die herausgearbeiteten Deutungsmuster der Interviewten typisch sind für die Generation der weiblichen Aufbau-Intelligenz, ziehe ich vergleichend die Lebensgeschichten von Akademikerinnen aus der unter 2.3 dargestellten Integrierten Generation heran, die sich im Hinblick auf ihre beruflichen Laufbahnen ebenfalls durch ihre Systemnähe auszeichnen. Diese Generation bietet sich für einen Vergleich an, weil sich ihr Erfahrungshintergrund nicht nur hinsichtlich des Lebens in der DDR deutlich von dem der AufbauIntelligenz unterscheidet. Den Systemwechsel erlebten die Mitglieder der Integrierten Generation im Alter zwischen 30 und 40 Jahren – eine berufliche Neuorientierung und ein daran gekoppeltes Hinterfragen der politischen Einstellungen war bei den meisten Angehörigen der systemloyalen Intelligenz dieser Generation unbedingt notwendig. Die rekonstruktive Interpretation der Lebensgeschichten in Kapitel 4 soll zeigen, ob aus den hier skizzierten Annahmen auch unterschiedliche lebensgeschichtliche Deutungsmuster resultieren. Da eine Datenbearbeitung, die den Maßstäben qualitativer Forschung in vollem Umfang genügt, den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, kann ein Generationenvergleich nicht mehr leisten, als erste Vermutungen bezüglich generationsspezifischer Deutungsmuster des eigenen Lebens vor dem Hintergrund eines Systemwechsels aufzustellen.26 25

Da mir keine vergleichbaren Interviews von männlichen Angehörigen der Aufbau-Intelligenz zur Verfügung stehen, kann ich in meiner Untersuchung genderspezifische Aspekte nur am Rande einbeziehen. 26 Ein Feld gilt als gesättigt, wenn sich keine neuen Typen entwickeln lassen (vgl. Glaser/ Strauss 2005: 68 ff.). So liegen der qualitativen Studie „Biographische Unsicherheit“ von Monika Wohlrab-Sahr (1993) 60 in einem Forschungsprojekt erhobene Interviews zugrunde, von denen sie sieben typische Fälle ausführlich darstellt.

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3.3 Datenerhebung Zur Erfassung der Lebensgeschichten wählten die Mitarbeiterinnen des Vereins OWEN die Erhebungstechnik des autobiografisch-narrativen Interviews nach Fritz Schütze aus, die sich in den letzten Jahren in der qualitativen Sozialforschung als die Technik zur Erfassung von Biografien als gelebtes Leben durchgesetzt hat (vgl. Bock 2000: 193). Ergänzt wurde das narrative Interview um ein Leitfadeninterview, bei dem sich die Interviewerinnen am Verfahren der Oral History orientierten (vgl. Beyer-Grasse 2001: 3). Im Folgenden sollen beide Erhebungsmethoden kurz vorgestellt werden.

3.3.1 Das autobiografisch-narrative Interview Im narrativen Interview als offenes, nicht-standardisiertes Erhebungsverfahren wird dem Biografen die Gelegenheit gegeben, anhand eines sehr allgemein formulierten Hauptthemas seine Lebensgeschichte zu erzählen, wobei er selbst darüber entscheiden kann, welche lebensgeschichtlichen Ereignisse für ihn besonders relevant erscheinen. Die erzählgenerierende Eingangsfrage soll den Interviewten zu einer längeren Haupterzählung motivieren, die durch den Interviewer möglichst nicht unterbrochen wird. Eine solche „Stegreiferzählung des selbsterfahrenen Lebensablaufs“ (Schütze 1984: 78) führt im Gegensatz zu konkreten Fragen dazu, dass der Erzähler sich dem Erzählstrom eigenerlebter Erfahrungen überlässt und der notwendige Raum zur Gestaltentwicklung des jeweiligen Relevanzsystems gewahrt bleibt. Nach Schütze kommt eine solche freie Erzählung in ihrer Struktur den Orientierungsmustern der Informanten sehr nahe. Dabei gilt: „[...] die Art und Weise, wie die einzelnen Informanten auf die vorgegebene Themenstellung reagieren, wie sie diese Themenstellung ausbuchstabieren, und in welche thematischen Felder sie die einzelnen Erfahrungen stellen, gibt Aufschluss über ihre subjektiven Deutungsstrukturen.“ (Rosenthal 1987:133)

Ist die autobiografische Stegreiferzählung erfolgreich, was der Fall ist, wenn die Eingangsfrage erzählstimulierend wirkt und die Erzählung spontan zustande kommt, werden nach Schütze „Zugzwänge des Erzählens“ (Schütze 1976: 224) wirksam. Der Erzähler muss erstens bei relevanten biografischen Ereignissen zum Zweck der Plausibilisierung detaillierter auf den Kontext der erzählten Ereignisse eingehen (Detaillierungszwang), er muss sich zweitens aufgrund der begrenzten Erzählzeit auf das Wesentliche beschränken und dennoch Gestalten erschließen (Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang) und er muss drittens – und dieser Aspekt ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung besonders wichtig – eine sinnvolle Totalität von Erfahrungszusammenhängen präsentieren (Gestalterschließungszwang) (ebd.: 21

Der methodische Zugang

224). Trotz der Verwicklung des Interviewten in diese Zugzwänge ist das Erzählen nie seiner Handlungskontrolle entzogen, sondern unterliegt der Bereitschaft erzählen zu wollen (Wensierski 1994: 109). Eine Verweigerung zeigt sich nach Schütze in der abnehmenden Narrativität der Darstellung und der Zunahme argumentativ überformter Passagen sowie sprachlicher und inhaltlicher Inkonsistenzen und bleibt für den Forscher nicht unbemerkt. Bei dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Interviewmaterial lautet die erzählgenerierende Eingangsfrage ungefähr: „Ich hatte Ihnen ja schon gesagt, uns interessiert das Leben von Frauen in der DDR, die in der DDR gelebt haben. Ich würde Sie einfach bitten, mir Ihr Leben zu erzählen. Ich würde auch erst mal nichts dazwischenfragen und ich habe vielleicht hinterher noch ein paar Nachfragen. Fangen Sie einfach von vorne an!“ (Anhang 2 Interview Uschi Naß: Z. 1-4.)

Dass dieser Erzählstimulus nicht explizit auf meine Fragestellung nach dem Erleben des Systemwechsels abzielt, halte ich keinesfalls für problematisch, weil es sich bei Lebensgeschichten – wie in Kapitel 2.1 betont – nicht um situationsabhängig produzierbare Darstellungen handelt. Denn auch wenn Interviewer ohne Themenvorgabe zur Erzählung des Lebens auffordern, wird der Biograf bestimmte Thematiken in das Zentrum seiner Erzählung rücken: „Eine Erzählaufforderung ohne Themeneinschränkung ist damit für eine biografisch-interpretative Analyse die konsequenteste“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 142). Die Tatsache, dass die Biografinnen den Systemwechsel ausnahmslos als relevantes lebensgeschichtliches Ereignis in ihren Einganserzählungen thematisieren, gibt dieser Überlegung Recht und macht das Material für meine Fragestellung anwendbar.

3.3.2 Das Leitfadeninterview in der Oral History Das ergänzende Leitfadeninterview, das im zweiten Teil der Interviews zum Tragen kommt, orientiert sich an den Anfang der 80er Jahre in den Geschichtswissenschaften etablierten Verfahren der Oral History. In der Oral History wird davon ausgegangen, dass biografische Verläufe und sozialgeschichtliche Ereignisse eng miteinander verflochten sind. Die Oral History als Erfahrungswissenschaft definiert sich als eine Erweiterung der Geschichtsschreibung um Teilbereiche, für die sonst keine Überlieferungen zugänglich sind (Niethammer 1985: 420), und versucht diese beispielsweise in subjektiven, biografisch angelegten Erinnerungsinterviews zu rekonstruieren (vgl. von Plato 1991). Der Erkenntniswert der Erinnerungsinterviews besteht dabei nicht nur darin, dass Vergangenheit unvermittelt abgebildet wird, sondern gerade auch in deren subjektiver Verarbeitung oder Vergangenheitskonstruktion (vgl. Wierling

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2002: 20). So stellt diese Methode eine sinnvolle Ergänzung zur Annäherung an meine Fragestellung dar. Nach Niethammer verfolgt die Methode der Oral History das Ziel, in der Interaktion des Interviews einen „Gedächtnisraum“ zu öffnen und durch Stimulierungen latente Informationen abzurufen (Niethammer 2003b: 35). Dies geschieht durch folgendes Vorgehen: Gesprächseingriffe des Interviewers sollen den Erzähler nach seinem ersten Selbstbericht dazu motivieren, die Erinnerungsspur zu wechseln und sich damit aus dem Rahmen des sozialen Gedächtnisses zu befreien. Außerdem wird das Gedächtnis durch offene Fragen nach symbolisch und emotional aufgeladenen Ereignissen der miterlebten Zeitgeschichte und der persönlichen Geschichte befragt. Schließlich sollen vorstrukturierte Informationsfragen zum Alltag und zur Verwandtschaft der Interviewten einerseits eine Kontrolle der Erfahrungsinterpretation gewährleisten und andererseits den Interviewten im sozialen Raum verorten (Niethammer 2003b: 35f). Das vorliegende Interviewmaterial orientiert sich insbesondere hinsichtlich der Erinnerungsstimulierung und der Lokalisierung der Interviewten im sozialen Raum an den Vorgaben der Oral History: So schließt an die Stegreiferzählung der Lebensgeschichte ein Leitfadeninterview an, das Fragen zur Erinnerung an historische Ereignisse sowie den sozialen, politischen und kulturellen Kontext – detaillierte Nachfragen zum familiärer Hintergrund und zum Herkunftsmilieu, zum persönlichen Erleben einzelner Lebensphasen sowie zum beruflichen und familiären Umfeld – formuliert. Durch das an der Oral History orientierte Leitfadeninterview eröffnet sich die Möglichkeit, wichtige Anhaltspunkte für die Herausbildung erfahrungsgeschichtlicher Typen zu gewinnen, die Informantinnen in ihrem lebensweltlichen Umfeld zu verorten und die Angaben aus der narrativen Stegreiferzählung zu vertiefen und zu kontrollieren. Die Kombination von Leitfaden- und narrativen Interviews bietet sich bei der Untersuchung des biografischen Umgangs mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen also durchaus an.

3.4 Auswertung „Es [ist] qualitativer Forschung besonders wichtig, nicht fertige Instrumente blindlings anzuwenden, sondern die Verfahrensweisen auf den konkreten Gegenstand passend zu entwickeln und anzuwenden. Ein allzu sklavisches Benutzen der [...] Verfahren läuft also Gefahr, den Gegenstand durch die Methode zu vereinheitlichen, zu verzerren. Denn eigentlich erfordert jeder Forschungsgegenstand seine eigene, spezifische Erkenntnismethode.“ (Mayring 1999: 123)

Für die Interpretation der narrativen und der Leitfadeninterviews habe ich eine Auswertungsmethode gewählt, die sich in erster Linie an der Weiterentwicklung der erzähl- und textanaly23

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tischen Verfahren Fritz Schützes durch Gabriele Rosenthal und Wolfram Fischer-Rosenthal orientiert, aber dennoch pragmatisch an mein Material und meine Fragestellung angepasst ist. Das allgemeine Ziel der Interpretation besteht keinesfalls in der Nacherzählung der Erlebnisse des Interviewten, sondern in der Rekonstruktion einer in der biografischen Erzählung impliziten Struktur.27 Dahinter steht die Annahme, dass hinter der Erzählung der Lebensgeschichte ein strukturierendes Prinzip wirkt, das vom Interpreten freigelegt wird. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geht es um die Analyse von Deutungsmustern des eigenen Lebenswegs vor dem Hintergrund einer Brucherfahrung. Beim Interpretieren wird die lebensgeschichtliche Erzählung einmal danach untersucht, was erzählt wird, und zum anderen, wie diese Inhalte mitgeteilt werden. Dem trägt die im Folgenden dargestellte konkrete Vorgehensweise Rechnung. Zunächst arbeite ich die „Fakten“ der Erzählung heraus. Dazu erstelle ich unter Berücksichtigung der Informationen aus dem Nachfrageteil einen tabellarischen Überblick über den Lebenslauf und bette anschließend die biografischen Daten in den lebensgeschichtlichen und historischen Kontext ein (Rosenthal 1986: 28). Für die Rekonstruktion des Lebenslaufs ist es nämlich entscheidend zu wissen, in welchem Lebensalter und zu welchem historischen Zeitpunkt eine bestimmte Erfahrung gemacht wurde. Durch dieses Verfahren entwickle ich eine Kontrastfolie für die anschließende Textanalyse (zum tabellarischen Überblick über den Lebenslauf siehe beispielhaft Anhang 6). Es folgt der Auswertungsschritt der Sequenzanalyse, der sich mit der Art der Darstellung befasst. Dazu wird das Interview sowohl anhand der Übergänge zwischen Erzählung, Beschreibung und Argumentation als auch anhand von Themenwechseln, identifizierbar durch formale „Rahmenschaltelemente“, in eine Abfolge von Erzählsegmenten untergliedert.28 Dieser Schritt dient der Unterteilung des Transkripts in thematische Abschnitte.29 Anschließend wird das Interviewgespräch der jeweiligen Sequenz verkürzt und mit Zitaten belegt wiedergegeben. 27

Rosenthal spricht in diesem Zusammenhang von der „biografischen Gesamtsicht“ (Rosenthal 1995: 13), Bude von den „Lebenskonstruktionen“ (Bude 2003: 109), Bernart/ Krapp vom „Kern des Selbstbildes“ (Bernart/ Krapp 2005: 50). Trotz ihrer Unterschiedlichkeit beschreiben all diese Konzepte die von Schütz in diesem Zusammenhang eingeführte Unterscheidung zwischen Wissenschaft als „Konstruktion zweiter Ordnung“ im Gegensatz zum Alltag als „Konstruktion erster Ordnung“ (vgl. Schütz 1991). 28 Der von Schütze eingeführte Begriff des „Rahmenschaltelements“ bezeichnet die natürliche Darstellungssegmentierung durch den Erzähler. Diese ist dadurch nachvollziehbar, dass „die segmentierten Erzähleinheiten in der Regel zumindest durch Ansätze einer Erzählankündigung des nunmehr Darzustellenden eingeleitet sowie durch eine ergebnissichernde Schlussbemerkung oder gar Zusammenfassung, dies häufig in Verbindung mit einer Bewertung und theoretischen Kommentierung des narrativ Dargestellten, ausgeleitet werden“ (Schütze 1987: 99). 29 Hierin unterscheidet sich meine Herangehensweise deutlich von Schütze, der insbesondere der Herausarbeitung der narrativen Passagen Bedeutung beimisst. Dem liegt seine grundsätzliche Annahme einer Homologie von Erzählung und Erfahrung zugrunde. Wie Schütze arbeite ich in der Sequenzanalyse die unterschiedlichen Darstellungsweisen heraus, messe diesen aber gleichberechtigte Bedeutung bei, da hinsichtlich meiner Fragestellung gerade auch die Herstellung von Konsistenz und Kontinuität über argumentative Passagen interessiert.

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Der methodische Zugang

Durch eine solche Gliederung schält sich eine innere Struktur des Interviews heraus (zur Sequenzanalyse siehe beispielhaft Anhang 6). Die darauf aufbauende Detailanalyse widmet sich dem Auffinden von thematischen Inkonsistenzen und dem Herausarbeiten typischer Argumentationsmuster. Dazu bietet sich eine Orientierung an folgenden von Fischer-Rosenthal und Rosenthal vorgeschlagenen Fragen an: Weshalb wird das Thema an dieser Stelle eingeführt? Weshalb wird dieses Thema in dieser Textart präsentiert? Weshalb wird dieses Thema in dieser Ausführlichkeit bzw. Kürze dargestellt? Was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema einfügt? Welche Themen (Lebensbereiche oder Lebensphasen) werden angesprochen und welche nicht? (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 153). Thematische Inkonsistenzen, also sich widersprechende Interviewstellen oder „Glättungen“ biografischer Brüche, verweisen auf tieferliegende Deutungsmuster. Durch deren Herausfiltern wird erkennbar, wie eine Biografin wichtige lebensgeschichtliche Ereignisse verarbeitet und wie sie diese in ihren Lebenslauf einfügt. Die Analyse von Argumentationsmustern, also Bewertungen oder Kausalzusammenhängen, ermöglicht es, festzustellen, wie eine Informantin die erlebten Gegebenheiten wahrnimmt. Das sich im Laufe einer Analyse herausbildende Deutungs- und Wahrnehmungsmuster verweist auf das Selbstbild der Informantin. Auch die Gewichtung der unterschiedlichen Themenbereiche verdeutlicht, was der Informantin gegenwärtig wichtig ist oder aktuell noch verarbeitet wird (vgl. Bernart/Krapp 2005: 47ff.). Zur Kontrolle der aus dem tabellarischen Überblick und der Sequenzierung gezogenen Hypothesen wurden die Eingangserzählungen der Interviews auch in einer Interpretationsgruppe analysiert, was die Gefahr minimiert, alternative Interpretationen zu übersehen. Außerdem habe ich bei allen Schritten den Nachfrageteil einbezogen, um die aus der Interpretation der Eingangserzählung gezogenen Schlüsse zu verifizieren und meine Fragestellung betreffende lebensgeschichtliche Ereignisse genauer zu beleuchten. Mit der Herausarbeitung der typischen Merkmale des jeweiligen Einzelfalls ist die rekonstruktive Einzelfallanalyse abgeschlossen. Da eine vollständige Darstellung der einzelnen Analyseschritte den Rahmen der Arbeit sprengen würde, präsentiere ich in Kapitel 4.1

die

zusammenfassenden

Ergebnisse

meiner

Interpretationsarbeit.30

In

der

Zusammenfassung stelle ich zunächst die drei Einzelfälle einander gegenüber, um in Abschnitt 4.2 in einem kontrastiven Generationenvergleich dennoch Gemeinsamkeiten der von mir untersuchten Gruppe der weiblichen Aufbau-Intelligenz herauszuarbeiten. 30

Zur Nachvollziehbarkeit des methodischen Vorgehens führe ich die einzelnen Interpretationsschritte an dem Einzelfall Rosemarie Senkel vor, dargestellt in Anhang 6 und 7.

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

4 Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz 4.1 Drei erzählte Lebensgeschichten in Einzelfallanalysen Die im Folgenden dargestellten Einzelfallanalysen beginnen jeweils mit einem biografischen Kurzporträt, das der Einordnung der jeweiligen Informantin in den lebensgeschichtlichen und historischen Rahmen gilt.31 Dem anschließenden Interpretationsteil ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse vorangestellt, die insbesondere die lebensgeschichtliche Deutung der biografischen Diskontinuitätserfahrung des Systemwechsels betont. Anschließend erfolgt die Darstellung der „Gegenwartsperspektive“, von der aus die Selektion der erzählten Lebensgeschichte organisiert ist.32 In der darauffolgenden „lebensgeschichtlichen Deutung“ zeichne ich nach, wie die jeweilige Informantin ihre biografische Erfahrungsaufschichtung präsentiert und nach welchen Mustern diese Darstellung vollzogen wird. Obwohl in den Biografien viele wichtige Erzählstränge auftauchen, beschränke ich mich dabei auf die Herausarbeitung der für meine Fragestellung relevanten Strukturen. Vor dem Hintergrund dieser lebensgeschichtlichen Deutungen wende ich mich anschließend den mit der Verarbeitung des Systemwechsels zusammenhängenden Argumentationsmustern zu. Die den Einzelfallanalysen zugrunde liegenden Transkripte der Interviews können in Anhang 1 bis 5 auf der beiliegenden CD-ROM eingesehen werden. Die aus den Interviews entnommenen Zitate kennzeichne ich nur mit Zeilenangaben; wenn der Biograf nicht klar ersichtlich ist, nenne ich zusätzlich das Interview entsprechend seiner Kennzeichnung im Anhang.

4.1.1 Die Richterin Rosemarie Senkel a) Biografisches Kurzporträt Rosemarie Senkel wird 1932 als zweite Tochter eines Lehrerehepaares in Westfalen geboren. Die Eltern sind aktiv in der SPD engagiert. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verliert der Vater seine Anstellung als Lehrer, denn er weigert sich in die NSDAP einzutreten. Nach einer längeren Phase der Arbeitslosigkeit arbeitet er als Handelsvertreter. In diese Zeit fällt auch Rosenmarie Senkels Einschulung im Jahr 1938. Als der Vater kriegsdienstver31

Alle persönlichen Daten der Informantinnen, die zur Interpretation der Lebensgeschichte nicht wesentlich sind, wurden bereits durch den Verein OWEN anonymisiert. 32 „[Die Gegenwartsperspektive] konstituiert den zentralen Fluchtpunkt der gesamten Erzählung, steuert Selektionen der ad hoc erinnerten Einzelelemente und Bewertungen vergangener Ereignisse und Erfahrungen“ (Fischer 1986: 360). Dabei umfasst die Gegenwartsperspektive eine ausgedehnte Gegenwart, die sich an häufig an einem Ereignis festmachen lässt, das die Gegenwart von der Vergangenheit trennt. Diese Trennungslinie bezeichnet Fischer-Rosenthal als „Gegenwartsschwelle“ (Fischer-Rosenthal 1995a: 53f.)

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

pflichtet wird, zieht die Familie 1939 nach Dortmund um. Zusammen mit ihrer drei Jahre älteren Schwester und der gesamten Schule wird Rosemarie Senkel 1942 wegen der zunehmenden Bombardierung des Ruhrgebiets nach Bayern evakuiert. Bis zu ihrer Rückkehr nach Dortmund im September 1945 hat Rosemarie Senkel kaum Kontakt zu ihren Eltern. Nach dem Krieg arbeitet der Vater zunächst wieder als Lehrer, wird jedoch bald aufgrund seines Engagements für die Vereinigung von SPD und KPD im Ruhrgebiet wieder entlassen und aus der SPD ausgeschlossen. Deshalb siedelt die Familie 1948 illegal nach Heiligenstadt/Thüringen in der SBZ über, wo der Vater eine Anstellung als Schulrat annimmt; die Eltern treten in die SED ein und auch Rosemarie Senkel entscheidet sich 1948 mit 16 Jahren für eine Mitgliedschaft. Seitdem engagiert sie sich in der SED: als Schülerin in der Thüringer Landesleitung, dann in der FDJ-Landesleitung und später in der Universitätsparteileitung. Im Anschluss an ihren Schulabschluss nach der 10. Klasse absolviert Rosemarie Senkel zunächst ein Praktikum in einem Kindergarten, um sich für ihr Berufsziel der Sozialarbeiterin vorzubereiten. Nach ihrer Tätigkeit als Redakteurin bei der „Jungen Welt“ holt Rosemarie Senkel auf Drängen der Partei 1954 das Abitur nach und beginnt in Jena ein Jurastudium, das sie ab 1955 in Berlin fortsetzt. Während ihres Studiums heiratet sie den Chemiker Hartmut Senkel und bekommt zwei Töchter. Ihr Sohn wird 1959 unmittelbar nach Beendigung des Studiums geboren. Rosemarie Senkel arbeitet von 1958 bis 1960 am Ministerium für Volksbildung und anschließend vier Jahre lang als Richterin in Berlin. Sie spezialisiert sich auf Familienrecht und verfasst ihre Dissertation auf diesem Gebiet. 1971 wird sie an das Ministerium für Justiz geholt und wechselt 1973 an das Oberste Gericht der DDR in den Senat für Familienrecht, wo sie auch als Kaderleiterin tätig ist. 1973 wird die Ehe von Rosemarie Senkel geschieden; für die drei heranwachsenden Kinder übernimmt im Wesentlichen sie allein die Erziehung. Von 1981 bis 1990 ist Rosemarie Senkel als Direktorin für Kader und Bildung an der Akademie der Wissenschaften tätig. Im Zuge des Systemwechsels gibt sie diese Tätigkeit auf und geht in den Vorruhestand. Sie arbeitet seitdem ehrenamtlich für die PDS und leitet eine Basisorganisation mit 13 Mitgliedern in ihrem Wohngebiet. Außerdem kümmert sie sich als Tagesmutter um Nachbarskinder und ihre eigenen Enkel. Diesen Engagements geht sie auch zum Zeitpunkt des Interviews im August 2000 noch nach. b) Interpretation Der Systemwechsel bedeutet für Rosemarie Senkel den Abbruch ihres beruflichen und politischen Karrieremusters, weil beide aufs engste mit der DDR verknüpft sind. Außerdem gehört Frau Senkel als ehemalige SED-Funktionärin im Kontext der nach 1989 einsetzenden offiziel-

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

len Auseinandersetzungen um die DDR-Vergangenheit als „SED-Diktatur“ zu den moralisch Beschuldigten. Trotz dieser umfassenden formalen und moralischen Entwertung ihrer Karriere gelingt es der ehemaligen Richterin, individuelle lebensgeschichtliche Brüche kaum zu thematisieren und weiterhin an ihren extrem gefestigten politischen Orientierungen und ihrem sozialistischen Weltbild festzuhalten. Folgerichtig setzt sie sich auch zehn Jahre nach der Systemtransformation mit ihren nunmehr bescheidenen Mitteln für die Durchsetzung sozialistischer Werte ein. Rosemarie Senkel gelingt eine lebensgeschichtliche Kontinuitätsherstellung dadurch, dass sie ihre Biografie im Sinne eines Lebensplans zum Aufbau des Sozialismus interpretiert. Ihre umfassende Identifikation mit der sozialistischen Weltanschauung führt dazu, dass sie trotz des persönlichen und gesellschaftlichen Bruchs an ihrer Überzeugung festhält und den Systemwechsel zwar als einen Rückschlag, nicht aber als das Scheitern ihres politischen Lebensweges darstellt. Dementsprechend sichert sich Frau Senkel nicht nur die Identifikation mit der eigenen Vergangenheit, sondern ermöglicht sich auch ein zukünftiges Festhalten an bisherigen Werten und Orientierungen. Gegenwartsperspektive Rosemarie Senkel stellt sich als einen Menschen dar, der sich nach einem Leben für den Aufbau des Sozialismus auch nach dem Zusammenbruch seiner institutionalisierten Machtstruktur mit bescheidenen Mitteln dafür engagiert, sozialistische Werte und Orientierungen durchzusetzen. Die gegenwärtige Perspektive, aus der heraus Rosemarie Senkel ihr Leben erzählt, ist bestimmt durch die Erfahrungen seit ihrem Vorruhestand im Zuge des Systemwechsels. Diese Ausführungen bleiben jedoch knapp, weil die Informantin den Schwerpunkt der biografischen Erzählung auf ihre berufliche Karriere in der DDR legt. Formal fällt allerdings auf, dass ihre Erzählweise bei der Darstellung ihres Lebens ab 1990 erstmals narrativ geprägt und nicht argumentativ überformt ist, was dadurch zu erklären ist, dass für die Gegenwartserzählung im Gegensatz zu der Darstellung der Lebensgeschichte bis 1989 kein vorgeprägter Rahmen zur Verfügung steht. Rosemarie Senkel definiert ihre Tätigkeiten als Rentnerin als gesellschaftlichen Einsatz: Sei es als Tagesmutter für Kinder aus ihrem persönlichen Umfeld – „Leute, die meine Hilfe brauchen, finden mich eben immer“ (299/300) – oder in ihrer politischen Funktion als Vorsitzende einer PDS-Basisorganisation mit 13 Mitgliedern – „Ich hatte ja schon gesagt, dass ich immer gesellschaftlich aktiv bin“ (300/301). Da Rosemarie Senkel die Begriffe „gesellschaftlich“ und „politisch“ im Sinne des Sozialismus synonym verwendet (vgl. auch 106, 376, 1527 und 28

Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

1533), lässt sich ihr aktuelles soziales und politisches Engagement im Sinne einer über den Systemwechsel hinaus bestehenden sozialistischen Orientierung interpretieren. Besonders deutlich wird dies, wenn Frau Senkel in einer späteren Passage ihr Engagement in der PDS als eine Fortsetzung ihres lebenslangen Einsatzes für die sozialistische Partei darstellt: „Aber als dann eben so viele aus der SED ausgetreten sind und auch nich in die PDS eingetreten sind, da bin ich drin geblieben [...]“ (1445/1446). Auch in ihrem Lebensmotto hebt die Interviewte ihr weiterhin bestehendes sozialistisches Weltbild hervor: „Und denn dieser Spruch von Ostrowski, der hat mir auch gut gefallen [...]: ‚Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben und er soll es nutzen, dass ihn zwecklos gelebte Jahre nicht reuen und dass er sterbend sagen kann, ich habe mein ganzes Leben, meine ganze Kraft für die Entwicklung der Menschheit, für die...’ – jetzt krieg ich den Schluss nich zusammen, na ja praktisch für den Sozialismus eingesetzt.“ (1590-1596)

Von diesem gegenwärtigen Standpunkt aus stellt sich die Lebensgeschichte der Rosemarie Senkel als eine Rechtfertigungsgeschichte des eigenen Lebens und der DDR dar. Lebensgeschichtliche Deutung Rosemarie Senkel als eine allen Widrigkeiten zum Trotz überzeugte Sozialistin konstruiert ihre Biografie als eine Art Lebensplan zum Aufbau des Sozialismus. Ihre erzählten Erinnerungen bis 1990 sind deutlich ideologisch überformt;33 als ehemalige Richterin orientiert sie sich in ihrer Erzählung an einer für SED-Kader typischen Form, die nicht nur der Legitimation der eigenen beruflichen und politischen Karriere dient, sondern auch das sozialistische System der DDR insgesamt rechtfertigen soll.34 Rosemarie Senkel leitet ihr Selbstbild als überzeugte Sozialistin aus zwei erfahrungsgeschichtlichen Momenten ab, die sie am Beginn ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung ausführlich darstellt: Aus der Sekundärerfahrung des väterlichen Widerstandes gegen den Faschismus

und

aus

der

selbsterlebten

traumatischen

Kriegserfahrung

der

„Kinderlandverschickung“. So beginnt Rosemarie Senkel ihre Lebensgeschichte nicht mit der eigenen Person, sondern mit der ausführlichen Skizzierung der politischen Lebensgeschichte ihres Vaters, die die In33

In der argumentativ überformten Lebensgeschichte wird Rosemarie Senkels Zugehörigkeit zu der stark strukturierten Gruppe der SED-Funktionäre deutlich, die ihre Geschichte zu Legitimationszwecken bereits häufig präsentiert haben. Ein narratives Interview nach Schütze ist im strengen Sinne nicht gelungen, weil die Interviewte in ihrer Erzählung kaum in einen Erzählfluss gerät (vgl. Schütze 1984: 78). Im Rahmen meiner Fragestellung nach der Konsistenz- und Kontinuitätsherstellung interessieren aber gerade auch die argumentativen Passagen (vgl. Fußnote 29). 34 Einige weitere durch den Verein OWEN erhobene autobiografisch-narrative Interviews von Teilnehmerinnen der Aufbau-Intelligenz weisen eine ganz ähnliche formale Form auf, so beispielsweise die Lebensgeschichte der Kulturfunktionärin Anita Seifert. Im Rahmen dieser Arbeit beschränke ich mich jedoch auf die Darstellung nur eines derartigen Erzähltyps.

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

terviewte als typische Widerstandsbiografie eines „Aktivisten der ersten Stunde“ darstellt (vgl. 31-78). Erst eine Übersiedlung in die SBZ ermöglicht ihm ein Leben, das seiner politischen Überzeugung und auch der seiner Familie entspricht.35 Rosemarie Senkel zeichnet eine Art sozialistisches Idealbild ihres Vaters, der in seinen Handlungen durch seine unbeugsame „Überzeugung“ für den Sozialismus und Antifaschismus bestimmt ist: „und hat eben immer Wert darauf gelegt, dass er eben aus wirklich innerster Überzeugung [...] eben seinen Weg eben auch in den späteren Jahren gegangen ist“ (74-76).36 Diese fremderlebte Widerstandsgeschichte des Vaters zieht Rosemarie Senkel als familiengeschichtliche Begründung für den eigenen Lebensweg heran, der in der Nachfolge des Vaters dem konsequenten und altruistischen Aufbau des Sozialismus gewidmet ist: „Also ich hab das deshalb gesagt, weil alles, weil meine Eltern einen sehr großen Einfluss auf mich gehabt haben, insbesondere mein Vater, der immer konsequent für seine Überzeugung eingetreten ist.“ (68-71)

Als zweites erfahrungsgeschichtliches Moment für ihr sozialistisches Engagement konstruiert Frau Senkel die eigene Leidensgeschichte der Evakuierung aufs Land im Rahmen der „Kinderlandverschickung“ im Alter von zehn bis dreizehn Jahren. Die Darstellung der Evakuierungsgeschichte erfolgt ohne bildliche Ausschmückungen.37 Die Leidenserfahrung in der Kindheit dient als Begründung ihrer antifaschistischen Grundhaltung: „Das war also für mich als Kind ’ne sehr schlimme Zeit und auch aus dieser Zeit rührt eben doch meine konsequente Haltung für, also gegen Kriege und gegen Gewalt und ich habe dann auch, ich hoffe jedenfalls, in meinem bisherigen Leben mich immer entsprechend verhalten und war also immer aktiv in gesellschaftlichen Organisationen und hab wirklich mit meiner ganzen Person auch versucht, zum Aufbau des Sozialismus in der DDR beizutragen.“ (102-108)

Diese ideologisch überformte Sinngebung ist exemplarisch dafür, wie Rosemarie Senkel ihre individuelle Lebensgeschichte zur Begründung ihres Einsatzes für eine politische Ideologie heranzieht.38 35

Rosemarie Senkel erzählt im Nachfrageteil über den Umzug in die SBZ als Sechzehnjährige: „Äh von den von den politischen Verhältnissen her gesehen, mh waren wir wirklich auch, also wir Kinder, glücklich, nu jetzt in in einer Zone zu sein, wo man eben seine Meinung sagen konnte und wo nach unserer Meinung eben doch die Grundlage für ein ganz anderes System geschaffen wurde, nich [...] wir haben uns also von Anfang an heimisch gefühlt, heimischer als zu Hause“ (906-912). 36 Den Begriff „Überzeugung“ verwendet Rosemarie Senkel in ihrer Erzählung der Lebensgeschichte ihres Vaters auffallend häufig (vgl. 61, 71, 73 und 75). 37 So berichtet sie lediglich über die Bombardierung Dortmunds, die Notwendigkeit der Evakuierung, den Verlauf der Westfront und die Arbeit auf dem Bauernhof, ohne jedoch konkrete Details zu erinnern oder jene Orte zu beschreiben, an denen sie drei Jahre lang lebte. 38 Teilweise erscheint Rosemarie Senkels Erzählung auch zurechtgebogen, beispielsweise wenn sie sich darum bemüht, die der politischen Aufrichtigkeit ihres Vaters geschuldete Benachteiligung ihrer Familie zu unterstreichen. Die Biografin betont beispielsweise die Besonderheit ihres Gymnasialbesuchs als Tochter eines Oppositionellen während des Nationalsozialismus, was aber kein Kriterium für einen Schulausschluss war: „Ich weiß auch nich, wie meine Eltern das fertig gekriegt haben, dass wir auf die Oberschule gehen konnten, aber vielleicht

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

Auf dieser sozialisatorischen Grundlage baut die Karriereerzählung von Rosemarie Senkel auf. Diese ist eng mit den Möglichkeiten und Grenzen verknüpft, die das System der DDR für ihre Generation der loyalen Aufbau-Intelligenz bereitstellte, und zeichnet sich durch den Versuch aus, trotz zahlreicher Konflikte mit beruflichen und politischen Vorgesetzten die DDR selbst nicht zu hinterfragen. Frau Senkels Ausbildungsweg muss vor dem Hintergrund des Elitenwechsels in der SBZ/DDR gedeutet werden. Die Informantin wuchs über ihre in der SED engagierten Eltern in die politische Arbeit hinein und wurde 1948 mit bereits 16 Jahren Mitglied der SED.39 Ihr Engagement für den Sozialismus erscheint unhinterfragt und beständig. Trotz der politischen Übereinstimmung mit Elternhaus und Partei durchläuft Rosemarie Senkel bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr eine Art adoleszente Rebellion, indem sie zunächst ihren eigenen, sehr praxisbezogenen Vorstellungen eines Engagements für den Sozialismus folgt. So widersetzt sich die junge Rosemarie Senkel sowohl ihren Eltern als auch der Partei, die das Ziel verfolgt, sie trotz mangelhafter Schulleistungen im Zuge der Heranbildung einer neuen Führungselite der DDR zu Abitur und Studium zu bewegen – schließlich gehört sie aufgrund der Loyalität ihrer Familie und ihrer selbst zur neuen Elite.40 Rosemarie Senkel aber engagiert sich nach der 10. Klasse in einem Kindergarten, in einem Textilbetrieb, in der FDJ-Landesleitung in Erfurt und der Redaktion der „Jungen Welt“ in Berlin – „man will ja erst was bewegen“ (143). Mit ihrer Entscheidung für eine Fortsetzung der schulischen Ausbildung an der Arbeiter- und Bauernfakultät in Jena greift die explizite Lenkung durch die Partei. Dem ging allerdings eine dreimonatige „Bewährung in der Produktion“ aufgrund mangelnden Klassenbewusstseins voraus – eine Infragestellung ihres bisherigen politischen Engagements, die Rosemarie Senkel unkommentiert und damit auch unkritisiert stehen lässt. Ihre steile berufliche und politische Karriere ist in Rosemarie Senkels Darstellung keinesfalls durch ein persönliches Erfolgsstreben motiviert, sondern stellt sich als ein durch äußere Anforderungen begründeter Aufstieg dar, bei dem sie im Dienste des Aufbaus eines sozialistischen Justizsystems mit immer neuen Aufgaben konfrontiert wird: „Nach zwei Jahren wurde ich gefragt, [...] ob ich doch in die Justiz will“ (185/186), „Und ähm nachdem ich ähm meine Arbeit geschrieben hatte, interessierte sich das Ministerium für Justiz für mich“ (221/222),

dadurch, dass wir mehrmals umgezogen sind, war vielleicht irgendwie keine, waren keine Unterlagen mehr da, ich weiß es nich, über die antifaschistische Tätigkeit meines Vaters“ (559-562). 39 Die Parteimitgliedschaft mit 16 Jahren stellt eine Ausnahme dar – eigentlich konnten Anträge auf eine Aufnahme in die SED erst mit 18 Jahren gestellt werden. 40 Mit der Durchsetzung des sozialistischen Systems in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren wurde auch die Ausbildung und Rekrutierung von neuen Führungspersonen verstärkt, die in den späten 50er Jahren Führungspositionen errangen – eine Entwicklung, von der auch Rosemarie Senkel profitierte (vgl. Bauerkämpfer 1999: 42 f.).

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

„der Kaderleiter beim Obersten Gericht wurde sehr krank und das Oberste Gericht suchte einen Nachfolger und da wurde ich gefragt, ob ich das machen würde“ (229/230). Die eher passive Darstellung ihres Karrierewegs täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass die selbstbewusste Rosemarie Senkel immer wieder in Meinungsverschiedenheiten mit Vorgesetzten gerät, aus denen sie aktive und deutliche Konsequenzen zieht. So wechselt sie nach einem Streit mit ihrer Professorin den Betreuer ihrer Promotion (204-211) oder verändert nach mehreren Konfrontationen mit der Leiterin des Senats für Familienrecht beim Obersten Gericht ihre berufliche Position. Auseinandersetzungen deutet die Biografin nie als politische Gegensätze, sondern als persönliche Differenzen, wodurch sie nicht in Verlegenheit gerät, ihr politisches Weltbild hinterfragen zu müssen. Dementsprechend interpretiert Rosemarie Senkel Konflikte, die aus der Einflussnahme des Zentralkomitees auf Urteile des Obersten Gerichts resultierten, als Meinungsverschiedenheiten zwischen der Kandidatin des Politbüros Inge Lange und ihr selbst: „so was gibt es ja auch, dass eben zwei nich gut miteinander auskommen“ (253/254). Als Frau Senkel diesen Machtkampf verliert – ihre ausdrückliche Beschwerde bei der zuständigen Kaderleitung hat keinen Erfolg – wechselt die ehemalige Richterin vom Obersten Gericht an die Akademie der Wissenschaften,41 wo sie bis 1990 nationale Auszeichnungen vorbereitet – ein erzwungener beruflicher Rückzug, den die Biografin nicht bewertet. Rosemarie Senkel akzeptiert erneut den politisch bestimmten Weg. Ihren beruflichen Ausstieg im Zuge des Systemwechsels thematisiert Rosemarie Senkel ähnlich unpolitisch, indem sie die Delegitimierung des von ihr mit aufgebauten sozialistischen Systems und ihrer eigenen Berufskarriere in ihre Darstellung nicht mit einbezieht: „Und im Zusammenhang mit der bevorstehenden Einheit Deutschlands wurde auch die Akademie sehr eingeschränkt, also die Mitarbeiter wurden erheblich reduziert und da ich damals 58 Jahre alt war, wurde mit mir gesprochen, ich sollte doch in Vorruhestand gehen, um jüngeren Mitarbeitern die Arbeitsstelle zu erhalten. Und das hab ich dann im September auch getan, bin also in’ Vorruhestand gegangen, ’s is mir nich leicht gefallen, weil ich immer mit Leib und Seele gearbeitet habe und außerdem 1973 geschieden, also alleine war und die Kinder aus dem Haus, also diese Entscheidung in den Vorruhestand zu gehen is mir sehr schwer gefallen.“ (272-280)

Trotz zahlreicher, auch politisch begründeter individueller Enttäuschungen, die sowohl mit ihrer beruflichen und politischen Karriere als auch mit dem Scheitern der DDR zusammenhängen, betont Rosemarie Senkel ihre lebenslange sozialistische Überzeugung und legitimiert mit ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung die im öffentlichen Diskurs infrage gestellte DDR sowie ihren eigenen Aufstieg in diesem System. Diese Legitimationsstrategie spiegelt sich

41

Die „Akademie der Wissenschaften der DDR“ war von 1972 bis 1990 das zentrale Wissenschafts- und Forschungsinstitution der DDR. Sämtliche ihrer 58 Forschungseinrichtungen wurden im Zuge des Einigungsvertrags bis 1991 abgewickelt (vgl. Scheler 2000: 9).

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

auch in den Argumentationen wider, die sich explizit mit der DDR, der eigenen Rolle in diesem System und dem Erleben des neuen Systems beschäftigen. Reflexion über die DDR und den Sozialismus Rosemarie Senkel verfolgt in ihrer Lebensgeschichte eine Argumentation der Rehabilitation der DDR und eine Rechtfertigung eigener fragwürdig gewordener Handlungen. Zwar geht sie an keiner Stelle explizit auf die offizielle Delegitimierung der „SED-Diktatur“ ein, jedoch erscheinen die öffentlich geäußerten Vorwürfe gegen die DDR und politische Funktionäre wie sie selbst implizit als Kontrastfolie für die Rechtfertigungsgeschichte der Biografin zu dienen. Die Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte und der Geschichte der DDR als erfolgreiche Entwicklungen gelingt der Interviewten allerdings nur durch eine sehr selektive Sichtweise und unter Hinnahme gewisser Inkonsistenzen bei der Darstellung eigener fragwürdig gewordener Handlungen. In ihrer Argumentation orientiert sich die ehemalige Richterin eng an Diskursen aus dem Umkreis aktueller sozialistisch orientierter politischer Gruppen42 und verfolgt dabei zwei Strategien: Einerseits lobt sie die Errungenschaften der sozialistischen DDR im Vergleich zur gegenwärtigen demokratischen Gesellschaftsordnung, andererseits bestreitet sie die Grundsätzlichkeit der im gesellschaftlichen Diskurs geäußerten Probleme der DDR. Beides belegt ihre These, dass die DDR als das bessere System heute noch bestehen könnte, wenn man deutlicher gegen die Mängel des Realsozialismus vorgegangen wäre. Anhand einiger exemplarischer Passagen möchte ich diese Argumentationsmuster verdeutlichen. Rosemarie Senkel kritisiert die Nachwende-Situation sehr heftig und bedient sich dabei der Argumente einer sozialistischen Kapitalismuskritik. So verurteilt sie nicht nur die Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt im „kapitalistischen Deutschland“ (1487), sondern greift die Rot-Grüne Bundesregierung direkt an, indem sie deren Beteiligung am Kosovo-Krieg sowie die innerdeutsche Zunahme von Gewalt und sozialer Ungleichheit scharf verurteilt. Auch die Form demokratischer Politik selbst hinterfragt die Interviewte: „die ganze Politik der Bundesrepublik, die so auf neue, auf neue Auseinandersetzungen oft zielt und die ungerecht ist und nur auf Profit ausgerichtet, also das ist für für mich was Schlimmes“ (1468-1471). In ihrer Argumentation verfolgt sie die Verurteilung der demokratischen Ordnung als rein kapitalistisch orientiert. Resümierend stellt Frau Senkel fest: „Also da is schon vieles, was an diesem 42

So lassen sich zahlreiche ihrer Argumente sinngemäß beispielsweise in der vom „Marxistischen Forum“ in der PDS herausgegebenen Broschüre „Über den Umgang mit der DDR“ von Harry Nick (1999) wiederfinden. Hierin grenzt sich der Autor vom „antikommunistischen Diktat des hier herrschenden Zeitgeistes“ ab und betont, dass es sich bei der DDR keinesfalls um eine Diktatur gehandelt habe, sondern um den Versuch eines „Gemeinwesens, das sich sozialistischen Idealen verpflichtet fühlte“ (ebd.: 6), der durch ein dem Marxismus immanentes zentralistisches Moment, keinesfalls aber durch falsches Verhalten bestimmter Akteure missriet (ebd.: 10f.).

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

Staat verändert werden muss. Vieles! Also mehr als ich in der DDR hätte aufzählen können, muss ich sagen“ (1478-1480). Grundsätzliche Kritik an dem System, das sie selbst entscheidend mitgetragen hat und auch heute favorisiert, versucht Frau Senkel zu entkräften, indem sie anhand mehrerer Beispiele die Möglichkeit der konstruktiven Kritik an „Mängeln“ (1423)43 des Systems betont – so auch im Zuge des Verbots des „Sputniks“44: „Ich hab eigentlich auch immer, also in den Dienststellen, wo ich war oder in den Parteigruppen gesagt, was ich zu einzelnen Dingen dachte und äh im Zusammenhang zum Beispiel mit dem Verbot des ‚Sputniks’ hat sich unsere Parteiorganisation sehr engagiert und hat auch ans ZK geschrieben und alles.“ (1409-1413)

Die im direkten Nachsatz folgende Einschränkung der Kritikfähigkeit des Systems hinsichtlich des Sputnik-Verbots („ich meine, dass dann das irgendwann korrigiert wurde, ist ja ne andere Geschichte“ (1413/1414)) lässt Rosemarie Senkel unkommentiert stehen. Ihr unerschütterlicher Glaube an die DDR spiegelt sich auch in ihrem Umgang mit der Kritik an der Beschränkung der Reisefreiheit wider. Rosemarie Senkel ist „heute der Meinung, dass man die DDR-Bürger hätte ins westliche Ausland fahren lassen sollen“ (1430/1431) – schließlich hätte ein Großteil der Menschen wie die selbst aus dem Ruhrgebiet stammende Informantin die Überlegenheit des sozialistischen gegenüber dem kapitalistischen System erkannt und „die wär’n, die Mehrzahl, bestimmt 90 Prozent wär’ wiedergekomm’“ (652/653). Durch diese zwar selektive, aber durch den kollektiven Diskurs einer politischen Interessensgemeinschaft „abgesicherte“ Sichtweise gelingt es der Biografin, eine positive Version der DDR-Vergangenheit zu schaffen, die für sie lebensgeschichtliche Konsistenz ermöglicht. In einer Passage gelingt Rosemarie Senkel die Rehabilitation der DDR und insbesondere der eigenen Handlungen in diesem System jedoch nicht. So erscheint die Deutung der Strafverfahren gegen Republikflüchtlinge im Zuge des Mauerbaus 1961, an denen sie als junge Richterin beteiligt war, ausgesprochen inkonsistent. Zwar stellt die Biografin weder die Strafverfahren noch den Mauerbau an sich infrage. Allerdings bringt sie das vorgegebene Strafmaß in ein persönliches moralisches Dilemma zwischen politischer Loyalität und dem eigenen Gewissen. Der krampfhafte Versuch, weder sich selbst noch die DDR infrage zu stellen, wird in ihrem argumentativen Balanceakt deutlich:

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Frau Senkel nennt explizit Ungerechtigkeiten bei der Wohnungsvergabe (1417), die Versorgung der Kaufhallen (1423) und die Verschmutzung von Wohngebieten (1424). 44 Im Zuge der Glasnost- und Perestroikapolitik nahm die kritische Berichterstattung der von der sowjetischen Nachrichtenagentur seit 1967 herausgegebenen Zeitschrift „Sputnik“ zu. Am 19. November 1988 unterband die Regierung der DDR die Postzustellung der Zeitschrift, was auf ein Verbot hinauslief.

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz „Also ich hab mhm wahrscheinlich mich im Wesentlichen daran gehalten, vielleicht auch überzeugender argumentiert, ich weiß es nich. Auf jeden Fall also, ich hab also kein, keine Nachteile damals gehabt, wenn ich mal da drunter geblieben bin, aber das war mh, das hat einen schon belastet, wenn es ein junger Mensch war, der eben na ja vielleicht auch unüberlegt oder so da in die Nähe gekommen is und dann gleich ein Jahr ins Gefängnis – also das war ne schwierige Situation, muss ich sagen.“ (13201327)

Trotz dieser resümierend als „belastend“ (1343) beschriebenen Phase bleibt eine kritische Auseinandersetzung mit der DDR und der eigenen Rolle darin aus. Wie bereits in der biografischen Erzählung wird auch in den hier dargestellten Argumentationen deutlich, dass Rosemarie Senkel zahlreiche Differenzen mit dem offiziellen Diskurs zur Vergangenheit der „SED-Diktatur“ in Kauf nimmt, um den Sozialismus, die DDR und ihren eigenen Lebensplan zum Aufbau des Sozialismus an keiner Stelle infrage zu stellen. Durch das kontinuierliche Festhalten an ihrem ideologischen Weltbild gelingt es ihr, die eigene Lebensgeschichte als einen sinnvollen Weg darzustellen.

4.1.2 Die Schulrätin Uschi Naß a) Biografisches Kurzporträt Uschi Naß wird 1939 in Meißen als Tochter eines Rechtsanwalts und einer Hausfrau geboren. Bis zum Jahr 1941 lebt sie mit den Eltern und ihrem jüngeren Bruder in Posen. 1944 kehrt die Mutter aufgrund der Kriegssituation mit den beiden Kindern in den elterlichen Haushalt nach Zwickau-Planitz zurück. Hier wird die Biografin 1945 eingeschult. 1952 zieht die Familie nach Chemnitz, wo Uschi Naß die Schule mit der 8. Klasse abschließt. Da ihr ein geisteswissenschaftliches Studium aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft und der NSDAPMitgliedschaft ihres Vaters verwehrt wird, beginnt sie 1953 mit 14 Jahren eine Ausbildung am Institut für Lehrerbildung in Leipzig.45 In diesen vier Jahren lebt sie getrennt von ihren Eltern in einem Internat. 1957 beginnt Frau Naß 18jährig ihre berufliche Laufbahn als Lehrerin an einer Schule in Gornau, Kreis Zschopau, und tritt nun auch in die SED ein. In Gornau ist Uschi Naß bis 1967 tätig und absolviert in dieser Zeit ein Zusatzstudium der Musikerziehung sowie ein Fernstudium in Deutscher Sprache und Literatur, das sie mit dem Lehrerdiplom abschließt. Außerdem engagiert sich Frau Naß in ihrer Freizeit in einem Volkskunstensemble.

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Die Institute für Lehrerbildung wurden nach 1950 zur Ausbildung von Unterstufenlehrern eingerichtet. Die Ausbildung konnte nach Abschluss der achtklassigen Grundschule begonnen werden und dauerte drei bzw. ab 1953 vier Jahre, jedoch wurde der größte Teil der Studenten dieser Institute wegen des Lehrermangels vorzeitig in den Schuldienst übernommen (vgl. Waterkamp 1987: 369).

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Als Uschi Naß mit 28 Jahren ihre uneheliche Tochter Hansi bekommt und eine eigene Wohnung und einen Krippenplatz für das Kind benötigt, ziehen die beiden 1967 nach Chemnitz um. Bis dahin hat Frau Naß noch mit ihrem Vater und ihrem Bruder – die Mutter ist gestorben, als Uschi 25 Jahre alt war – gemeinsam in einer Wohnung gelebt. In Chemnitz ist Uschi Naß bis 1971 als Lehrerin an einer Polytechnischen Oberschule (POS), anschließend bis 1975 an einer Erweiterten Oberschule (EOS) tätig, wo sie auch die Funktion eines hauptamtlichen FDJ-Sekretärs innehat. Bald nach ihrem Umzug nach Chemnitz lernt Uschi Naß den Transportpolizisten Siegfried Naß kennen, den sie 1969 heiratet. Er ist geschieden und Vater von vier Kindern aus erster Ehe. Uschi Naß setzt ihre Karriere im Schulsystem fort, indem sie ihrer Schule von 1975 bis 1979 als Direktorin vorsteht. Mit 40 Jahren wird Uschi Naß zur Stadtbezirksschulrätin befördert; sie wird allerdings aufgrund eines nicht näher erläuterten privaten „Fehltritts“ 1981 wieder zur Lehrerin herabgestuft. Nach ihrer relativ raschen Rehabilitation ist Frau Naß von 1981 bis 1990 als Leiterin der Schulinspektion tätig. Zwar kann Uschi Naß im Anschluss an den Systemwechsel bis Ende 1991 als Deutschlehrerin weiterarbeiten, wird dann aber im Zuge der Umgestaltung des Bildungssystems entsprechend des Einigungsvertrags entlassen. Einer Klage gegen ihre Entlassung wird nicht stattgegeben. Es folgt eine siebenjährige Phase der Arbeitslosigkeit, in der Frau Naß Weiterbildungen im allgemeinen Management für Führungskräfte absolviert und anschließend zwei Jahre lang in einer ABM Projekte mit langzeitarbeitslosen Frauen betreut sowie Kommunikationstraining für Ausländer anbietet. Zum Zeitpunkt des Interviews im Januar 2001 engagiert sich Uschi Naß in einem Chemnitzer Autorenverein, belegt Computer-, Englisch- und Gymnastikkurse und springt bei der Betreuung ihrer beiden Enkelkinder ein. b) Interpretation Uschi Naß erfährt den Systemwechsel als eine gravierende biografische Brucherfahrung: Sie erlebt auf der Ebene der berufsbiografischen Ressourcen den vollständigen Abbruch ihres Karrieremusters und ist im vereinigten Deutschland bis zu ihrer Rente arbeitslos. Auf der Ebene der leitenden Orientierungen muss Frau Naß als überzeugte Sozialistin die Infragestellung ihres politischen Weltbildes hinnehmen und sich mit der von ihr kritisierten demokratischen Ordnung arrangieren. Da Uschi Naß sich stark mit ihren beide Ebenen verbindenden beruflichen Tätigkeiten als Schulleiterin, Schulrätin und Schulinspektorin identifizierte, erlebte sie den Systemwechsel als eine extreme Diskontinuitätserfahrung. Eine Kontinuitätsherstellung und die Identität mit der Vergangenheit sind dadurch möglich, dass die Informantin ihre in der familiären Sozialisation erworbenen und gesellschaftlich nicht infrage gestellten kulturellen Orientierungen als ein lebensgeschichtliches Kontinuum betont. 36

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Die Auseinandersetzung mit dem infrage gestellten politischen Weltbild erfolgt ebenfalls im Rahmen ihres familiären Orientierungsmusters: Einerseits hinterfragt Uschi Naß durchaus selbstkritisch eigene Handlungen im Schulsystem der DDR, andererseits ordnet sie ihre politisch delegitimierte Berufsbiografie in eine familiäre Generationenabfolge ein und stellt sie somit in einen überindividuellen Kontext. Dadurch gelingt es ihr bedingt den biografischen Bruch des Systemwechsels zu glätten und gleichzeitig die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit offen zu halten. Gegenwartsperspektive In ihrem gegenwärtigen Selbstbild stellt sich Uschi Naß als eine kulturell interessierte und engagierte Frau dar, die die neuen Freiräume nach der Berufstätigkeit voll ausschöpft: „Und hab dann gemerkt, dass man die Zeit sehr für sich nutzen kann, endlich die Zeit und die Freiräume hat, das zu machen, was man schon immer wollte“ (261-263). Unter den zahlreichen Freizeitbeschäftigungen stellt besonders ihre literarische Tätigkeit einen entscheidenden Bezugspunkt dar; so betätigt sie sich in einem Autorenverein und liest ihre Texte vor Publikum. Außerdem engagiert sie sich in einem Freundeskreis mit künstlerischer Ausrichtung, was ihr die Erschließung einer „ganz neuen Welt“ (271) ermöglicht. Vor dem Hintergrund dieser gegenwärtigen Perspektive organisiert Uschi Naß die Darstellung ihrer erzählten Lebensgeschichte. Lebensgeschichtliche Deutung Für Uschi Naß stellt ihr familiär erworbenes kulturelles und politisches Kapital und dessen Weitergabe in der Generationenabfolge ein wichtiges lebensgeschichtliches Orientierungsmuster dar. Diese Orientierung zieht sich wie ein roter Faden durch die erzählte Lebensgeschichte und bezieht sich sowohl auf die Übernahme kultureller und politischer Werte aus ihrer Eltern- und Großelterngeneration als auch auf deren Weitergabe an die eigene Tochter. Explizit thematisiert Uschi Naß ihre in der Familie erworbene kulturelle Orientierung, die zu dem lebensgeschichtlichen Kontinuum wird. „Bin aufgewachsen in einer bürgerlichen Familie“ (5/6) beginnt die Informantin ihre Lebensgeschichte mit einer Milieubeschreibung ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft und skizziert dann das berufliche und alltägliche Umfeld der Eltern und Großeltern, um anschließend die besondere Wertschätzung ideeller Güter wie Literatur und Musik als familiäres kulturelles Kapital zu definieren: „Und diese ganze Welt, dass also in unserer Familie gelesen wurde, die wichtigsten Geschenke waren immer Bücher, wir haben nie irgendwie große materielle Dinge bekommen“ (12-14).

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Diese familiäre Herkunft deutet Frau Naß evaluierend als eine prägende Sozialisationserfahrung und als kulturelles Kapital, das es an die nachfolgende Generation weiterzugeben gilt: „Und das hat mich eigentlich sehr geprägt und hat mir auch viel mitgegeben dann später, was ich einbringen wollte in die eigene Familie und dann auch in Bezug auf meine Tochter“ (2426). Obwohl Uschi Naß ein Studium „in Richtung Deutsche Sprache, Literatur, Germanistik“ (27) zunächst verwehrt bleibt, baut sie ihre musischen und literarischen Kenntnisse in Zusatzstudien aus: „Ich hab dann ein fünfjähriges Fernstudium Deutsche Sprache, Literatur begonnen. [...] das war das, was ich sowieso ge- was ich mochte und liebte. Das war einfach schon durch das Lesen, durch die Bücher äh mir schon irgendwie anerzogen“ (113-118). Die Weitergabe der kulturellen Werte an ihre Tochter beschreibt Uschi Naß als einen durchaus gelungenen Prozess. Bereits der Kinderwunsch der Uschi Naß, die 28jährig ein geplantes uneheliches Kind bekommt, scheint zu einem gewissen Grad durch eine familiäre Tradition bestimmt: „Und es war immer bei uns so ’n – die Großmutter wurde wurde fünfzig, meine Mutter fünfundzwanzig, also es waren immer fünfundzwanzig Jahre. Und als die Großmutter fünfundsiebzig wurde, wäre meine Mutter fünfzig geworden, war se vorher gestorben, war ich fünfundzwanzig. Und da hatt’ ich eben noch kein Kind. Da sagte auch mein Opa: Willst du den Rhythmus nicht einhalten?“ (1098-1102)

Den Vater ihres Kindes wählte sie – wieder ganz im Sinne ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft – nach kulturellen und intellektuellen Kriterien aus: „Hatte mir eigentlich auch einen Partner gesucht, wo ich wusste, es wird ein kluges Kind, es wird ein gesundes Kind, es wird mathematisch und musikalisch begabt sein“ (65-67). Die Weitergabe der kulturellen Werte gelingt Frau Naß auch durch die Einbeziehung ihrer Tochter in ihre eigenen musikalischen Aktivitäten im Volkskunstensemble; und obwohl Uschi Naß ihr Engagement nicht fortführt, scheint die kulturelle Sozialisation geglückt: „Also es ist ein richtiges Ensemblekind geworden. Hat es dann sehr bedauert, als die Mutti sagte, ich schaff das – pack das nicht mehr. Und sie ist dann selbst in einem im Ensemble in Chemnitz [...] bis zur 10. Klasse dort auch selber wirksam gewesen“ (110-113). Ihr kulturelles Orientierungsmuster spielt eine wichtige und durchgehend positiv konnotierte Rolle in Uschi Naß’ erzählter Lebensgeschichte. Zu ihrer politischen Prägung scheint Frau Naß ein weitaus ambivalenteres Verhältnis zu haben. Dabei spielt das politische Engagement des Vaters eine wichtige Rolle, was die Informantin allerdings erst im Nachfrageteil explizit verdeutlicht: Das ehemalige Mitglied der NSDAP – „Er war sicher in der in der Nazizeit fanatisch“ (711) – engagierte sich kurz nach dem Krieg in der NDPD, einer bürgerlichen Blockpartei in der DDR – „Mein Vater war voll 38

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dann wieder – also der hat voll für den Staat DDR dann gelebt“ (573). Von den übrigen Familienmitgliedern wird Uschi Naß’ Vater für seine opportunistische politische Haltung kritisch beurteilt;46 Uschi Naß, die ihre emotionale Nähe zu ihrem Vater unterstreicht, bleibt in der Beurteilung seines Engagements allerdings unentschlossen: Einerseits betont sie seine politische Überzeugung: „Er hat alles, was er gemacht hat, ganz gemacht. Richtig. Also nie halb“ (713), bezweifelt diese Charakterisierung ihres Vaters aber an anderer Stelle: „ob das alles aus Überzeugung war, weiß ich nicht, kann ich ganz schwer beurteilen“ (573/574). Uschi Naß selbst erfährt – politisch sensibilisiert durch ihren Vater – im Rahmen ihrer Ausbildung am Institut für Lehrerbildung und im Internat in Leipzig, das sie von ihrem 14. Lebensjahr an besucht, eine sozialistische Sozialisation: „Und die Erziehung im Internat, also die vier Jahre Internatsleben, die Jahre im äh also überhaupt am IFL, haben mich dann also auch schon politisch geprägt“ (36/37).47 Ausschlaggebend dafür ist, wie Uschi Naß im Interview mehrmals betont, das Gruppengefühl: „irgendwie muss man dazugehören“ (40, vgl. auch 689/690). Uschi Naß wird in ihrer Familie, abgesehen von ihrem Vater, für ihre politische Haltung durchaus kritisiert;48 ihren Eintritt in die SED stellt sie denn auch als „Protest“ (577) gegen ihre Mutter dar. Ihre späteren beruflichen Tätigkeiten als Schulleiterin und Schulinspektorin bezeichnet Frau Naß aufgrund der Systemnähe als politische und sieht sich darin in einer Linie mit ihrem Vater und ihrer Tochter, die bis zur Wende als Hochschullehrerin für Philosophie an der KarlMarx-Universität in Leipzig angestellt war: „Aber wir haben uns alle irgendwie für politische Berufe entschieden und die Tochter eben damals auch wieder“ (659/660). Obwohl sie sich als überzeugte SED-Anhängerin darstellt – „also ich war ja wirklich irgendwie parteigläubig“ (1409/1410, vgl. auch 42-45) – hinterfragt Frau Naß an mehreren Stellen des Interviews die politische Seite ihres Berufs und betont im Gegenzug ihr fachliches Interesse: „Was das reine Bildungswesen betraf, das hat mir wahnsinnigen Spaß gemacht. Aber alles, diese andere Sache, die da mit dranhing, die hätte ich lieber von mir geschüttelt“ (1163-1165). Diese Bewertung steht im Zusammenhang mit einem schmerzhaften lebensgeschichtlichen Bruch, der in engem Zusammenhang mit der politischen Relevanz ihrer berufli46

So beschreibt Uschi Naß das Verhältnis ihrer Mutter zu ihrem Vater wie folgt: „Meiner Mutter war mein Vater einfach zu – ich sag mal, zu politisch, oder sie meinte, er sei naiv. Er würde alles – erst alles so und jetzt is wieder alles das richtig. Zu unkritisch. Er sei zu unkritisch“ (922-925); ganz ähnlich äußert sich nach Uschi Naß auch ihr Onkel über seinen Bruder: „Ich möchte wissen, wie dein Vater heute reagieren – ob das wieder hundertach – gleich begeistert mal angenommen für diese Demokratie oder – und so weiter“ (637-639). 47 Die Ausbildung an den Instituten für Lehrerbildung umfasste neben dem Studium in drei Fächern und einer erziehungswissenschaftlichen Ausbildung auch „politisch-pädagogische Tätigkeiten“ wie „eine Leitungstätigkeit in Jungpioniergruppen“ oder ein „Praktikum in der Sommerferiengestaltung“ (Waterkamp 1987: 383). 48 So unterstreicht Uschi Naß die kritische Einstellung ihres Bruders: „Während ich also das Land DDR geliebt habe und diesem Land auch nachgeweint habe, war er derjenige, der immer sagt, du rennst mit einer Brille rum und du siehst das nicht und begreifst nicht, was sich hier abspielt“ (42-45, vgl. auch 521-524 und 686/688).

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chen Position steht: Aufgrund eines privaten „Fehltritts“, auf dessen konkrete Umstände sie nicht näher eingeht, wird Uschi Naß, die als Schulrätin auch eine sozialistische Vorbildfunktion zu erfüllen hat, zur Lehrerin herabgestuft. Diese Degradierung erschüttert vorübergehend ihren Glauben an die SED (1408-1416). Dennoch bleibt sie als Leiterin der Schulinspektion bis zur Wende in einer systemnahen Position aktiv und hält trotz der individuellen Enttäuschung bezüglich der Partei am hohen moralischen und politischen Anspruch des Sozialismus fest. Die unehrenhafte Entlassung als Schulinspektorin und als Lehrerin im Zuge des Systemwechsels stellt den zweiten tiefen lebensgeschichtlichen Bruch dar. Uschi Naß hatte in ihrem Beruf als Lehrerin, Schulleiterin, Schulrätin und Leiterin der Schulinspektion in der DDR Erfüllung gefunden und einen schnellen Aufstieg realisieren können, weil es ihr gelungen war, ihre kulturelle und ihre politische Orientierung fruchtbar miteinander zu verbinden. So stellt sie ihre berufliche Tätigkeit im Schulsystem grundsätzlich als „sehr gute Zeit“ (132, vgl. auch 124 und 35) dar. Der Systemwechsel führt dazu, dass durch die Entlassung nicht nur das politische Orientierungsmuster infrage gestellt wird, sondern auch ihre fachliche Qualifikation, die eng mit ihren kulturellen Werten verbunden ist. Reflexionen über die DDR und den Sozialismus Uschi Naß’ rückblickender Umgang mit der DDR und ihrer eigenen Rolle in diesem System ist durch die Infragestellung sowohl ihrer kulturellen als auch ihrer politischen Orientierungen geprägt. Allerdings geht die Informantin mit der Erschütterung dieser beiden Orientierungen unterschiedlich um. Bezüglich der Infragestellung ihrer politischen Orientierung fallen Uschi Naß’ Empfindungen ambivalent aus. Bei der rückblickenden Bewertung ihres sozialistischen Weltbildes macht Uschi Naß deutlich, dass sich der Sozialismus im Vergleich zur Demokratie respektive dem Kapitalismus als das bessere System erweist: Während die ehemalige Schulinspektorin „unseren Antifaschismus“ (295/296), die Familienpolitik und die Begabtenförderung in der DDR lobt (296-298), verurteilt sie die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse als verlogen, egoistisch, korrupt und kriegerisch (298-305 und 1262-1285) und resümiert: „Ich glaub’ an die Demokratie nicht“ (1276). Am Beispiel des Reiseverbots demonstriert die Informantin eine Überlegenheit des Sozialismus gegenüber Demokratie und Kapitalismus: „Es – es waren Dinge, wo es wichtiger gewesen wär’, man hätte uns da doch Wahrheiten gesagt. – Es wär’ ja dann auch – das Land hätte ja keinen Schaden dran genommen. Und ich denke auch, wenn viele Menschen gemerkt hätten, dass der – dass diese Gesellschaftsordnung jetzt oder der Kapitalismus auch nur mit Wasser wäscht, mit Wasser kocht, und äh was das für ein Existenzkampf ist, die wären alle mal gefahren und wären dann wiedergekommen.“ (1211-1216)

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Die Gründe für das Scheitern der DDR sieht die Informantin also in der Unaufrichtigkeit der politischen Führung (s. auch 1176-1188) und keinesfalls in einer Unzulänglichkeit des sozialistischen Systems. Ihrer Beurteilung der beiden politischen Systeme legt Uschi Naß ihre bildungsbürgerliche Prägung zugrunde: „Da ich also nie so geprägt war auf das Materielle, machen mich viele Dinge, die so ins Ideelle gehen, machen mich sehr traurig und wütend“ (1260/1261). Dennoch formuliert Uschi Naß Zweifel sowohl am System der DDR als auch an ihren eigenen Handlungen in ihrem systemnahen Beruf: „Ich habe auch am Ende sehr gezweifelt an dem, was wir gemacht haben“ (173/174). Dabei betont sie zunächst nur ihre beruflich bedingte Mitwisserschaft über die Diskrepanz zwischen Realität und offizieller Darstellung der Verhältnisse in der DDR. Eine explizit selbstkritische Haltung nimmt Uschi Naß bezüglich der Ausgrenzung bestimmter Personengruppen in der DDR ein: „Äh sehr tolerant waren wir nicht. Also auch nicht ich als Funktionär“ (311). Frau Naß bedauert heute, bestimmte Schüler systematisch benachteiligt zu haben – „dass mer da manchmal denen Steine in den Weg gelegt haben“ (1175) – und betont die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit: „Das sind Dinge, die ich eigentlich bedauere. Und das sind auch Themen, die man irgendwie auch aufarbeiten sollte und kann“ (318-320). Ihre kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Handlungen in einer systemloyalen Position scheint auch dem Umstand geschuldet zu sein, dass diese nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch in der Familie der Uschi Naß deutlich infrage gestellt werden. Familiäre Auseinandersetzungen bezüglich ihrer systemloyalen Position deutet Uschi Naß in einer sehr inkonsistenten49 Passage an, in der sie sich als Opfer des System darzustellen versucht: „Ich hab darunter auch gelitten, dass man aus dem Land nich rauskonnte“ (178), um anschließend darzulegen, dass sie von ihrer Familie über die auch vor 1989 stattfindenden Besuche der Westverwandtschaft nicht informiert worden sei, was nach dem Systemwechsel zu vorwurfsvollen Begegnungen geführt hätte. Eine gewisse Entschuldigung der fragwürdigen politischen Haltung gelingt Frau Naß jedoch dadurch, dass sie sich wieder in eine familiäre Generationenabfolge stellt und sowohl ihre

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In der Argumentation besteht eine Diskrepanz zwischen der Übernahme der in öffentlichen Diskursen häufig geäußerten Kritik am Reiseverbot und der persönlichen Situation der Frau Naß, die diese Einschränkung eigentlich gut kompensiert zu haben scheint: „Und ähm dass eigentlich – Verwandtschaft und so etwas, eine Familie reich machen, das – ich hab da drunter et- eigentlich gelitten. Ich hab’s aber verdrängt [...] aber ich merke, jetzt wo wir die Chance haben – es ist nicht natürlich entstanden, die Beziehung. Ich brauche sie nicht. Ich muss sie nicht unbedingt haben – äh den anderen Teil der Familie“ (184-197).

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systemloyale Position als auch ihre anschließende Delegitimierung als eine Art „Familienschicksal“ deutet: „Mein Vater war Rechtsanwalt, Assessor, also ganz stark geprägt von der politischen Zeit. Mir is es ja genau so wieder gegangen, ne. Also ich war auch durch meine Tätigkeit als Schuldirektor, Schulinspektor, und auch dann wieder ein Um- und wieder äh – also das ist – haben sich Dinge wiederholt hier. Und das ist ganz wichtig och für die Nachfolge, für die Tochter. Denn sie fragt mich, wie konntest du oder? Das war immer aus ’ner Überzeugung heraus, ist das ja geschehen, dass man glaubt, das ist richtig, ne.“ (525-532)

Die Infragestellung ihrer fachlichen Kompetenz weist Frau Naß dagegen deutlich von sich; an mehreren Stellen veranschaulicht sie ihre Enttäuschung und Bitterkeit bezüglich ihrer Entlassung aus dem Schuldienst: „Es gab auch keinen Abschied oder Dank oder irgendwas“ (170/171), „Kann man eigentlich über unser Leben als Schulfunktionär, als Lehrer, in einem verpönten Land – kann man da überhaupt reden?“ (1018-1020, vgl. auch 132-138 oder 10141016). Weil sie ihre fachlichen Leistungen im Schulsystem der DDR jedoch nicht infrage stellt, kann Uschi Naß zu ihrer beruflichen Vergangenheit im delegitimierten System stehen. Uschi Naß gelingt eine biografische Kontinuitätsherstellung also dadurch, dass sie einerseits ihre auch in der heutigen Zeit anerkannte bürgerlich-kulturelle Sozialisation und ihre daran geknüpften erfolgreichen fachlichen Kompetenzen als lebensgeschichtliches Kontinuum unterstreicht und andererseits die Ambivalenz ihrer politischen Orientierung betont. So kann sich die Biografin mit ihrer DDR-Vergangenheit identifizieren und unterstreicht „Ich äh häng mein Leben nicht in’ Wind, ich hab nur eins“ (1024/1025).

4.1.3 Die Schulleiterin Brigitte Bräutigam a) Biografisches Kurzporträt Brigitte Bräutigam wird 1937 in Königsberg als zweites Kind einer Kaufmannsfamilie geboren und besucht dort ab 1943 die Grundschule. 1945 wird ihre Mutter aufgrund der Kriegssituation gezwungen, mit ihr und dem ein Jahr älteren Bruder mit einem der letzten Schiffe über die Ostsee nach Hamburg zu fliehen. Der Vater muss einem Befehl entsprechend in Königsberg bleiben, gerät in amerikanische Gefangenschaft und kehrt erst 1950 zu seiner Familie zurück. Nach mehreren Fluchtstationen landet die Familie im Juni 1945 schließlich in dem Ort Oschersleben in Mitteldeutschland, wo Brigitte die Schule mit der 3. Klasse wieder beginnt. In ihrer Schulzeit hat das Mädchen unter der Stigmatisierung als Flüchtlingskind zu leiden. Als Brigitte Bräutigam in der 8. Klasse ist, stirbt der gerade erst heimgekehrte Vater an den Folgen einer Lungenentzündung. Nach dem Abitur im Jahr 1956 bekommt sie auf42

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grund ihrer bürgerlichen Herkunft und ihres Studienwunsches Kunstgeschichte zunächst keinen Studienplatz und absolviert stattdessen eine zweijährige Ausbildung als Zuckerlaborantin in einer Fabrik. Anschließend beginnt sie ein Lehramtsstudium für Deutsch und Kunst am Pädagogischen Institut in Erfurt, das sie 1962 abschließt. In diesem Jahr heiratet Frau Bräutigam den Offizier Dieter Bräutigam, mit dem sie zum Zeitpunkt des Interviews im November 2000 noch verheiratet ist. Im September 1962 tritt die Biografin ihre erste Stelle als Lehrerin an einer EOS in Naumburg an, lässt sich aber im Januar 1963 nach Brandenburg versetzen, um mit ihrem Mann zusammenleben zu können. 1964 wird ihr Sohn Jörg geboren, 1970 dann die Tochter Uta. Mit 31 Jahren wird Brigitte Bräutigam 1968 stellvertretende Leiterin ihrer Schule; von 1974 bis 1992 steht sie ihr als Direktorin vor. Kurz vor dem Mauerfall 1989 begeht Jörg Republikflucht. Im Zuge des gesellschaftlichen Transformationsprozesses wird Frau Bräutigam 1992 von der Schulleiterin zur Realschullehrerin herabgestuft; in diese Zeit fällt auch die Klage der Eltern einer ehemaligen Schülerin, die ihr diskriminierende Handlungen im Rahmen des DDR-Schulsystems vorwerfen. Ihr Mann verliert nach dem Systemwechsel seine Arbeit als Offizier und ist eine Zeit lang arbeitslos. Obwohl Brigitte Bräutigam bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin weiterarbeiten könnte, nimmt sie 1993 die Möglichkeit des Vorruhestandes wahr und engagiert sich seitdem als ehrenamtliche Betreuerin von acht Behinderten und im Beamtenbund. Seit 1995 leitet sie außerdem den Seniorenbeirat der Stadt Brandenburg, gibt Unterricht in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg und leitet Projekte an einer Fachschule für Heilerziehung. b) Interpretation Brigitte Bräutigam erfährt im Zuge der Systemtransformation eine deutliche biografische Störung: Auf der berufsbiografischen Ebene wird sie von der erfolgreichen Schulleiterin zur Realschullehrerin herabgestuft. Zusätzlich greifen Eltern ehemaliger Schüler Frau Bräutigam wegen ihrer systemunterstützenden Funktion als Schulleiterin im SED-Regime an. Auch die durch den Systemwechsel hervorgerufene berufsbiografische Brucherfahrung ihres Ehemannes muss sie verarbeiten. Außerdem erfährt Brigitte Bräutigam mit der Wende eine Delegitimierung ihrer leitenden sozialistischen Werte und Orientierungen, die sie vor 1989 nicht infrage gestellt hat. Dass diese lebensgeschichtlichen Ereignisse dennoch zu keiner dramatischen Diskontinuitätserfahrung führen und Frau Bräutigam sowohl ihre Vergangenheit in der DDR als auch die Zeit nach dem freiwilligen Vorruhestand 1993 als erfolgreiche und erfüllende Lebensphasen beschreibt, liegt an dem ausgeprägten individuellen Erfolgsdenken, das bei Frau Bräutigam als kontinuitätsstiftendes Orientierungsmuster wirkt. Durch diese Orientierung gelingt es der 43

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Biografin, Konsistenz und Kontinuität in ihrer durch den Systemwechsel deutlich betroffenen Biografie herzustellen. Um ihr Ziel eines beruflich erfolgreichen Lebenswegs zu erreichen, arrangiert sie sich pragmatisch mit den Anforderungen des jeweiligen Systems und versucht Friktionen – sei es infolge des Strukturwandels oder aufgrund anderer negativer lebensgeschichtlicher Ereignisse – weitestgehend nicht zu thematisieren oder in ihrem Sinne umzudeuten. Auf diese Weise wird ihre biografische Darstellung ihrem erfolgsorientierten Selbstbild gerecht.50

Gegenwartsperspektive Brigitte Bräutigam stellt sich in ihrem aktuellen Selbstbild als einen Menschen dar, der nach einem erfolgreichen beruflichen Lebensweg auch heute noch in ehrenamtlichen Tätigkeiten Erfüllung findet und für seinen Erfolg gesellschaftliche Anerkennung bekommt. Sie präsentiert sich als reflektierte, erfolgreiche, engagierte und selbstbestimmte Frau und unterstreicht dieses Selbstbild durch den starken Gegenwartsbezug ihrer gesamten biografischen Selbstpräsentation.51 So hebt Frau Bräutigam bei der Darstellung ihrer zahlreichen ehrenamtlichen Engagements ihre persönlichen Leistungen besonders hervor: „Habe mich mächtig reingekniet“ (148) erzählt sie Bezug nehmend auf ihre Betreuungstätigkeit, „habe dann im Beamtenbund fleißig mitgearbeitet“ (150/151). Und auch im Hinblick auf den Seniorenbeirat unterstreicht die Biografin: „Habe dann, äh, diese Arbeit sehr intensiv fortgeführt“ (153/154). In ihren Formulierungen schwingt Stolz über ihre Leitungsfunktionen mit: „wurde natürlich dann auch Vorsitzende dieses Seniorenbeirats“ (152/153), „ganz tolle Leute [...], die sich um mich geschart haben.“ (154-157). Brigitte Bräutigam betont neben ihrem persönlichen Erfolg besonders ihre Kommunikations- und Diskussionsfreudigkeit: Sie beschreibt sich als einen engagierten „Multiplikator“ (188), der Kommunikation und Auseinandersetzungen mit anderen „liebt“, sich vielseitig beschäftigt, politisch sehr interessiert und auch kritisch ist und von sich auch eine aktiven Einsatz für ihre Überzeugungen verlangt: „da muss man auch mal einschreiten, muss den Menschen sagen, so ist das nicht“ (186/187).

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Im Sinne der Prozessstrukturen des Lebensablaufs nach Schütze vertritt Brigitte Bräutigam in ihrer Haltung gegenüber lebensgeschichtlichen Ereignissen ein „biografisches Handlungsschema“, in dem der Biografieträger versucht, eigene biografische Handlungspläne zu verwirklichen. Zu den Prozessstrukturen des Lebenslaufs vgl. Schütze 1984: 93ff. 51 Die Beschreibung des aktuellen Lebens nimmt bereits in der Eingangserzählung den wichtigsten Platz ein. In der Erzählung von Erinnerungen an vergangene Ereignisse stellt Frau Bräutigam immer wieder Bezüge zur Aktualität her, und generell zeichnen sich die der Gegenwart gewidmeten Passagen durch einen vergleichsweise hohen Detaillierungsgrad aus.

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Lebensgeschichtliche Deutung Von diesem Standpunkt als engagierte, selbstbestimmte und anerkannte Frau aus versucht Brigitte Bräutigam ihre Lebensgeschichte als eine erfolgreiche Karriereerzählung zu konstruieren. Insgesamt fällt auf, dass die biografische Erzählung einer sehr knappen, wenig ausgeschmückten Darstellungsweise folgt und sich nahezu ausschließlich auf die Berufskarriere beschränkt – Privates wird nur erwähnt, wenn es Einfluss auf die berufliche Entwicklung hat. Erst ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten seit 1993 behandelt Frau Bräutigam detailliert. Der grundlegenden Sinnstiftung für ihr ganzes Leben dient der Biografin ihre umfangreiche Erzählung über die „schwere Zeit“ (17, 23, vgl. auch 44) ihrer Kindheit und Jugend nach Kriegsende. Sowohl die Trauer der Mutter über den Verlust der Heimat Königsberg als auch die selbsterlebte Stigmatisierung als materiell benachteiligtes und vaterloses Flüchtlingskind bestimmen die Erinnerungen der Brigitte Bräutigam an diese Lebensphase, die von ihrem achten bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr reicht. Bezug nehmend auf die mütterliche Deutung des unverschuldeten Flüchtlingsschicksals gelingt Frau Bräutigam jedoch eine Sinngebung ihrer als „ständiger Kampf“ (32) erinnerten Kindheit: Sie interpretiert diese Zeit als Ursache für ihren Willen, sich gegen unverschuldet widrige Verhältnisse durchzusetzen und für den daraus resultierenden Ehrgeiz, aus ihrem Leben etwas zu machen: „[...] irgendwie ist in mir so eine innere, ich denke mir, so eine innere Hartnäckigkeit gewachsen, äh, zum ständigen Kämpfen und Durchringen und äh, ich will nicht sagen bis zur Rücksichtslosigkeit, aber so ein Stück weit auch, ähm, sich durchzusetzen. Einfach sich durchzusetzen, sagen, du kannst dir jetzt nicht noch mehr gefallen lassen, dafür kannst du ja nichts, das hat dir deine Mutter ja alles sehr ausführlich erklärt und das war auch, das gipfelte dann auch in einem sehr großen Ehrgeiz, also ich war unbedingt, na, obwohl ich schulisch ja sehr viel versäumt hatte, durch die Flucht und so weiter, war ich dann doch ähm, sehr ehrgeizig und wollte einfach aus dem Leben noch was machen.“ (49-57)

Das als traumatisch empfundene Motiv der materiellen Not führt in der Darstellung von Brigitte Bräutigam dazu, einen Karriereweg einzuschlagen, der zur persönlichen Erfüllung wird. Ihren beruflichen Aufstieg stellt Frau Bräutigam denn auch als eine durchweg erfolgreiche und sinnstiftende Entwicklung dar, beginnend mit der Phase der beruflichen Orientierung und Ausbildung. So hat ihr das Lehramtsstudium „sehr viel Spaß gemacht“ (75/76), auch der erste Job hat „von Anfang an unheimlich Spaß gemacht“ (108) und die Kontrolle durch eine strenge Mentorin „gut getan“ (99). Dass Brigitte Bräutigam alle Entscheidungen im Rahmen der Ausbildungskarriere aus einer Diskrepanz zwischen ihren individuellen Wünschen und der massiven Beeinflussung durch äußere Instanzen trifft – durchaus typisch für die Ausbildungsund Berufskarrieren dieser Generation in der DDR – schildert sie in ihrer Darstellung neutral als der damaligen Zeit geschuldet („weil es damals hieß“ (58/59), „da hat man mich [..] so ein bisschen breitgeklopft“ (69/70), „das war nicht so in dieser Zeit nicht so sehr beliebt“ 45

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(61)). Trotzdem stellt Frau Bräutigam die aus der extremen Lenkung resultierenden Kompromisse – zunächst kein Studium aufzunehmen, sondern eine Ausbildung in einer Zuckerfabrik zu absolvieren oder kein Studium der Kunstgeschichte zu beginnen, sondern sich für ein Lehramtsstudium zu entscheiden – als aktive und selbstbestimmte Entscheidungen dar („und habe auch nicht gleich einen Studienplatz angenommen, das heißt, ich habe gar keinen gekriegt“ (58), „Und dann habe ich mich dazu entschlossen“ (72/73), „nehmen sie die doch gleich und da habe ich das gleich getan“ (97/98)). Brigitte Bräutigam arrangiert sich auf ihrem Ausbildungs- und Karriereweg also pragmatisch mit den Anforderungen des Systems52 und deutet ihren Weg im Sinne ihres Lebensplans als einen erfolgreichen Aufstieg, der ihrem Ziel der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung gerecht wird. Die Darstellung ihrer Karriere im Schulsystem der DDR und der beruflichen Herabstufung 1992 zeigt deutlich das Bemühen von Brigitte Bräutigam, den durch den Systemwechsel erfolgten lebensgeschichtlichen Bruch zu glätten und dadurch das Bild einer Erfolgsgeschichte aufrecht zu halten. So handelt die Biografin die Lebensphase von ihrem 31. bis zu ihrem 55. Lebensjahr – eine Zeit, in der sie eine äußerst steile Karriere absolvierte und in der Funktion als Schulleiterin achtzehn Jahre lang erfolgreich arbeitete, um anschließend zur Realschullehrerin herabgestuft zu werden – in ihrer Eingangserzählung auf nur 20 Zeilen ab. Die sich streng an das Gerüst einer tabellarischen Karriereerzählung haltende Passage ist durch einen besonders geringen Detaillierungsgrad und eine ausgesprochen passive Selbstdarstellung der Erzählenden gekennzeichnet. Es fällt auf, dass Brigitte Bräutigam ein politisches Engagement, das vor dem Hintergrund ihrer Karriere im Schulsystem der DDR sehr wahrscheinlich ist, mit keinem Wort erwähnt.53 Mit der Aussage „Wie das so war, in der DDR“ deutet Brigitte Bräutigam ihren Aufstieg als einen DDR-typischen Selbstläufer. Dementsprechend erscheinen die einzelnen Karriereschritte als an die Biografin herangetragene Zufälle: „man machte irgendwann mal den Mund auf und meldete sich und sagte was, äh, und, äh, dann war man, äh, ganz schnell Gewerkschaftsobmann“ (109-111). Eine Bezugnahme auf aktives persönliches Engagement erfolgt auch bei der weiteren Beschreibung der Schulkarriere nicht, stattdessen werden sowohl die Position der Stellvertretenden Schulleiterin als auch der Schuldirektorin dargestellt, als seien sie durch 52

Bis in die 60er Jahre hinein wurde zur Ausbildung zum Lehrer motiviert, da es einen großen Lehrermangel zu beseitigen galt (Waterkamp 1987: 376). 53 Zwei mögliche Erklärungen dieser Auslassung erscheinen plausibel: Entweder erscheint der ehemaligen Schulleiterin ein parteipolitisches Engagement in ihrer Position so selbstverständlich, dass sie es gar nicht erst erwähnt, oder sie pflegte ein instrumentelles Verhältnis zu den politischen Strukturen und nutzte diese nur zur Realisierung ihres beruflichen Aufstiegs. Wäre Frau Bräutigam nicht parteipolitisch engagiert gewesen, hätte sie diese Besonderheit sicherlich erwähnt. Leider wird der Frage nach dem parteipolitischen Engagement auch im weiteren Verlauf des Interviews nicht nachgegangen.

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äußere Umstände bedingt (s. 112 und 119/120) an Frau Bräutigam herangetragen worden. Die entsprechenden Tätigkeiten werden entweder gar nicht oder nur wenig aussagekräftig dargestellt. So erzählt die Informantin, dass sie als stellvertretende Schulleiterin „Kollegen ein-, um- und was weiß ich, hinsetzen und bitten natürlich auch Vertretungen zu übernehmen“ (116/117) konnte. Das historische Ereignis des Systemwechsels, das für Brigitte Bräutigam weitreichende Konsequenzen hatte, bettet sie in einem nachträglichen Einschub in ihre Karriereerzählung ein: „Und, äh, habe die [Schule] auch geführt, bis 1992 und, äh, 1992 kam eine – das war ja dann nach der Wende – ich wurde also dann nach der Wende noch einmal gewählt, als Schulleiter von der Schulkonferenz [...].“ (120-123)

Durch diese Art der Darstellung unterstreicht die Erzählende ihre berufliche Kontinuität trotz des Systemwechsels. Der anschließend erzählten beruflichen Herabstufung von der Schulleiterin zur Realschullehrerin geht eine längere erklärende Passage voraus, in der Frau Bräutigam die das Schulsystem betreffenden Anordnungen des Einigungsvertrags erläutert und sich selbst in einer Schicksalsgemeinschaft mit den übrigen ehemaligen DDR-Schulleitern in Brandenburg darstellt. Eine Bewertung des beruflichen Absturzes erfolgt nicht. Erst die Entscheidung für den Vorruhestand weist wieder einen relativ hohen Detaillierungsgrad auf; auch stellt sich Brigitte Bräutigam erst an dieser Stelle wieder als aktiv Handelnde dar: „Und da habe ich, äh, mich entschlossen, du gehst in den Vorruhestand, mit 55, und suchst dir noch was.“ (126-137). Die Informantin macht deutlich, dass ihre Entscheidung keinesfalls politisch motiviert war und führt stattdessen alters- und berufsspezifische Gründe an. Erst an späterer Stelle im Interview wird deutlich, dass sie mit dem freiwilligen Ausstieg aus ihrem Beruf einem Karriereabsturz zuvorkommen wollte – ohne sich allerdings einzugestehen, dass ihr beruflicher Höhepunkt zu diesem Zeitpunkt bereits überschritten war: „ich halte es immer für wichtig, wenn ein Spitzensportler geht, wenn er auf der Höhe seiner Aufgaben ist und nicht, wenn er dann so weggetragen wird. Und ich wollte das auch nicht“ (1198-1200). Es liegt in der Logik des erfolgsorientierten Lebensplans der Brigitte Bräutigam, dass sie nach ihrem nicht ganz glatten Ausscheiden aus dem Berufsleben ihr Streben nach Anerkennung und Erfolg in den neuen beruflichen Engagements fortsetzt und durch die Betonung der gegenwärtigen Tätigkeiten auch biografische Inkonsistenzen zu minimieren sucht. Ein Innehalten oder Reflektieren scheint zu keinem Zeitpunkt einzusetzen – schließlich würde dadurch ihr biografisches Handlungsschema infrage gestellt.

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Reflexionen über die DDR und den Sozialismus Brigitte Bräutigam geht erst nach expliziten Nachfragen detaillierter auf ihre Karriere in der DDR sowie die anschließende berufliche Disqualifizierung ein, wobei sie ihre in der Eingangserzählung verfolgte Strategie des Glättens und Verschweigens der lebensgeschichtlichen Inkonsistenzen durch eine Argumentation ersetzt, die in erster Linie der Rechtfertigung ihrer eigenen DDR-Vergangenheit dient. So erfolgt an keiner Stelle eine wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in der DDR; stattdessen betont Frau Bräutigam ihren pragmatischen Umgang mit den politischen Anforderungen ihres Berufs, wodurch sie mögliche Schuldvorwürfe im Vorfeld entschärft. Brigitte Bräutigams Argumentation entspricht ihrem erfolgsorientiertem Lebensplan – ein umfassendes kritisches Hinterfragen der eigenen systemloyalen Handlungen und des Systems, dem sie ihren beruflichen Aufstieg verdankt, würde ihren Lebensweg nachträglich infrage stellen. Gleichzeitig betont sie im Sinne ihres aktuellen Selbstbildes als reflektierte und kritische Multiplikatorin ihren pragmatischen und keinesfalls dogmatischen Umgang mit dem sozialistischen System. Eine genauere Betrachtung ihrer Reflexionen über die eigene Rolle im Schulsystem der DDR und das Scheitern der DDR sollen diese These im Folgenden belegen. Brigitte Bräutigam stellt mehrmals ihren instrumentellen und kritischen Umgang mit den politischen Anforderungen ihrer Tätigkeit als Schulleiterin dar: So betont sie beispielsweise ihre Unterstützung einer Schülerin, die durch politisch unangepasstes Verhalten aufgefallen war – ihr nahezu als oppositioneller Akt dargestellter Beistand erweist sich allerdings als nachträgliche Konstruktion, denn weder half sie ihrer Schülerin aus der prekären Situation heraus, noch brachte sie sich selbst in eine wirklich angreifbare Position: „Zu mir kam mal eine Schülerin, die war in Schwierigkeiten geraten, die hatte so einen Aufnäher auf dem Anorak ‚Schwerter zu Pflugscharen’, war eine ausgesprochen gute Schülerin. Und der Vater war beim Rat des Kreises und die war einen Tag vorher am Nachmittag von einem Volkspolizisten aufgeschrieben worden. Nun hatte sie furchtbare Angst, dass das irgendwelche Folgen hat. Und da habe ich mir einfach den Anorak geben lassen und habe dann in meinem Zimmer diesen Aufkleber abgetrennt und habe ihn zu mir genommen und habe ihr dann nach Schulschluss den Anorak gegeben und gesagt, ich weiß gar nicht, wovon du die ganze Zeit geredet hast, es ist gar keiner da. Und damit war das Ding erledigt. Es kam auch Gott sei Dank nischt danach. Aber ich hätte auch dazu gestanden, dass ich da für die Schülerin die Hand in’s Feuer gelegt hätte.“ (911-921)

Auch an anderer Stelle betont die Informantin ihren kritisch-pragmatischen Umgang mit dem System: „Ich war wohl wirklich keine Widerständlerin, das kann ich überhaupt nicht sagen, aber so... man wollte ja auch Dinge geklärt haben und dieses ewige Eiapopeia brachte ja auch nichts“ (1413-1415). Grundsätzliche Kritik an ihrer eigenen Rolle im Schulsystem weist Brigitte Bräutigam deutlich von sich. So bestreitet die ehemalige Schulleiterin in ihrer Reaktion auf eine Kritik Chris48

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ta Wolfs54 am Schulsystem der DDR vehement jegliche negative Auswirkungen nicht nur ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit, sondern des DDR-Schulsystems insgesamt (s. 793-834): „Und irgendwo habe ich da nie ein schlechtes Gewissen. Ich habe, wir haben keine Schüler verbogen“ (793/794). Zur Widerlegung von Kritik und der Rechtfertigung der eigenen Handlungen bedient sich Frau Bräutigam häufig Scheinargumentationen: Sie macht vorgeblich einen Schritt auf die Kritiker des Schulsystems der DDR zu, indem sie selbstkritisch einige negative Aspekte des Schulunterrichts aufgreift. Allerdings betreffen die von ihr aufgenommenen Aspekte nebensächliche Details und können von Frau Bräutigam mit Leichtigkeit entkräftet werden. So widerlegt die ehemalige Schulleiterin den Vorwurf des unreflektierten Geschichtsunterrichts in der DDR mit folgendem Argument: „Also wenn wir alles nicht gemacht haben oder vielleicht manches versäumt haben, was Friedrich II. oder Karl den Großen betraf oder irgendwelche, was weiß ich, Maitressen von irgendwelchen Herrschern, die haben wir nicht so intensiv behandelt. Aber wenn wir eins behandelt haben, dann haben wir den Widerstand und den Faschismus, den haben wir behandelt.“ (810-815)

Mit dem Kern der Kritik, nämlich der Eindimensionalität der antifaschistischen Erziehung in der DDR, setzt sich die ehemalige Schulleiterin nicht auseinander – stattdessen verwandelt sie den Kritikpunkt sogar in ein Argument, das für das Schulsystem der DDR spricht. Dass sich Frau Bräutigam selbst von der Unangreifbarkeit ihrer beruflichen Tätigkeit überzeugt, indem sie auf geäußerte Vorwürfe nur scheinbar eingeht, spiegelt sich auch im Umgang mit der Kritik an ihrer Tätigkeit als Schulleiterin wider: „Natürlich gab’s viele Dinge, die uns geärgert haben“ (760). Wieder greift die Informantin einen eher nebensächlichen Gesichtspunkt der Kritik auf, in diesem Fall den umfassenden Verantwortungsbereich des Schulleiters – auf die durchaus umstrittenen Aufgaben selbst geht Frau Bräutigam nicht ein:55 „Weil so ’n Schulleiter damals, so ’n Direktor damals ja letzten Endes für alles verantwortlich war. Dafür dass die Kohlen im Keller waren, dafür dass genügend EOS-Kader da waren, dafür dass genügend BUBs und BOBs, also Berufsunteroffiziere und Berufsoffiziere da waren, möglichst, dass keiner sitzen blieb oder die Sitzenbleiber-Quote sehr gering war und viele, viele andere Dinge.“ (761-765)

Bezüglich ihrer eigenen Rolle in der DDR lässt Brigitte Bräutigam also keine Vorwürfe gelten. Eine Infragestellung des Systems der DDR findet dagegen zögerlich statt, was auch ihre Sicht des Scheiterns der DDR zeigt. Frau Bräutigam erzählt, dass sie bis zum Schluss auf eine Reformierung der DDR gehofft habe und macht wie so viele die unfähige politische Führung 54

Brigitte Bräutigam bezieht sich auf den Artikel „Das haben wir nicht gelernt“ von Christa Wolf, der in der Wochenpost 43 im November 1989 erschienen ist. 55 So stellten beispielsweise die schulischen Selektionen, die im Sinne ökonomischer Anforderungen und ideologischer Vorgaben zustande kamen und häufig nicht individuellen Wünschen entsprachen, entscheidende Weichenstellungen für Lebenswege dar.

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für den Zusammenbruch verantwortlich: „Aber diese etwas doch sehr sture Politik hat ja denn doch alles vereitelt, muss ich sagen“ (786/787). Systemkritik von Menschen in ihrem näheren Umfeld konnte die ehemalige Schulleiterin nicht nachvollziehen: Auf die Republikflucht einiger Kollegen (776-782) sowie ihres Sohnes im August 1989 reagiert Brigitte Bräutigam mit völligem Unverständnis: „Weil ich das verstehen konnte [...] es kann nicht jeder hier einfach losgehen und wir können nicht immerzu bloß diesen Staat hier ausnehmen und das sollen sie bezahlen und das sollen sie bezahlen und das sollen sie machen und dann nachher geht ihr da in die freie Marktwirtschaft und lasst euch da, was weiß ich, aufkaufen, und so.“ (1072-1076)

Trotz der als schmerzhaft empfundenen Trennung von ihrem Sohn,56 die ja aus dessen massiver Systemkritik resultiert, bleibt Brigitte Bräutigams Vertrauen in die DDR bis zum Systemwechsel unerschütterlich, und das Erleben der Wende selbst ist denn auch durch ein Gefühl des Alleingelassenseins durch die politisch Verantwortlichen bestimmt: „Habe gesagt, wo sind denn nun die Leute, die eigentlich sagen, es gibt diesen Staat noch, es hat sich überhaupt nichts mehr gerührt. Wir haben in der Schule nicht mehr gewusst, was wir machen sollten. Lange vor... der ganze September, Oktober verging und wir waren vollkommen allein gelassen.“ (11111114)

Obwohl Brigitte Bräutigam Korruption, Ungerechtigkeit (1428/1429) und Egoismus in der neuen Gesellschaftsordnung kritisiert und ihre DDR-Vergangenheit nicht grundsätzlich infrage stellt, kommt sie zehn Jahre nach dem Systemwechsel dennoch zu einer allgemeinen Kritik des Sozialismus und einer pragmatischen Anerkennung der Demokratie: „Ich habe aber auch für mich Fazit gezogen, dass es zu einer Demokratie sicher keine Alternative gibt. Dass das andere [der Sozialismus] einfach nicht funktioniert, weil die Menschen anders sind, als dieses System es sich vorgestellt hat“ (1420-1423, vgl. auch 926/927). Frau Bräutigam betont dabei auch ihre eigene Rolle im neuen System: „Ich bin [...] nach wie vor dafür sich einzubringen und sich einzumischen. [...] Denn Demokratie lebt nun mal vom Einmischen, Demokratie kann sonst gar nicht existieren“ (1439-1445). Weil bei Brigitte Bräutigam ihr individuelles Erfolgsdenken als lebensgeschichtliches Deutungsmuster wirkt, stellt sie einerseits ihren eigenen Umgang mit dem delegitimierten System als pragmatisch dar, wodurch sie auch ihrem aktuellen Selbstbild als kritischer und reflektierter Zeitgenosse gerecht wird. Andererseits widersetzt sich die Biografin einer umfassenden und kritischen Auseinandersetzung mit der DDR, um ihre Lebensgeschichte, die eng an dieses System gebunden ist, nicht hinterfragen zu müssen. Durch diese Argumentationsweise gelingt 56

Brigitte Bräutigam betont: „Für mich war das das Schlimmste, weil ich das überhaupt nicht verstehen konnte, dass er diesen Schritt gegangen ist und uns hier so [...] ich hab einfach daran gedacht, wann wirst du den wiedersehen“ (1094-1098).

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es der ehemaligen Schulleiterin, ihrem Ziel eines erfolgsorientierten Lebensweges gerecht zu werden und Kontinuität in ihrer biografischen Erzählung herzustellen.

4.1.4 Gegenüberstellung der Einzelfälle In der Generationseinheit der weiblichen Aufbau-Intelligenz konnte ich drei individuelle Muster des Umgangs mit der lebensgeschichtlichen Vergangenheit und der biografischen Sinn- und Kontinuitätsherstellung vor dem Hintergrund des biografischen Bruchs der ostdeutschen Systemtransformation identifizieren:57 Der Richterin im Justizsystem der DDR und heutigen PDS-Politikerin Rosemarie Senkel gelingt eine Verarbeitung der lebensgeschichtlichen Diskontinuitätserfahrung, indem sie auch nach dem Systemwechsel an ihrem sozialistischen Weltbild festhält und dieses lebenslange Deutungs- und Orientierungsmuster auf ihre Herkunft aus einem traditionellen linken Milieu zurückführt. So treten persönliche Enttäuschungen wie die Frühverrentung im Zuge des Systemwechsels oder die negativen Erfahrungen mit dem neuen demokratischen System hinter dem andauernden Engagement für den Sozialismus zurück. Rosemarie Senkel scheint ihre DDR-Vergangenheit in die Gegenwart hinein zu verlängern. Die sich in ihrem gegenwärtigen Selbstbild als kulturell interessierte und engagierte Pensionärin darstellende Uschi Naß dagegen findet ein sinnvolles lebensgeschichtliches Deutungsmuster in dem kulturellen und politischen Kapital ihrer bildungsbürgerlichen Herkunftsfamilie. Indem die ehemalige Schulrätin ihre gesellschaftlich nicht infrage gestellten kulturellen Kompetenzen als lebensgeschichtliches Kontinuum betont, gelingt es ihr zur fachlichen Dimension ihrer Laufbahn in der DDR zu stehen. Die politische Infragestellung ihrer Person glättet die Biografin durch die Deutung der biografischen Brucherfahrung als überindividuelles „Familienschicksal“. Dadurch klammert sie auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit ihrer politischen Vergangenheit nicht aus, was zu andauernden „Reibungen“ zwischen der Vergangenheit in der DDR und der Gegenwart in der Bundesrepublik führt. Die ehemalige Schulleiterin Brigitte Bräutigam, die sich in ihrem aktuellen Selbstbild als engagierte und anpackende „Multiplikatorin“ präsentiert, zieht ihr individuelles Erfolgsdenken als ein entscheidendes lebensgeschichtliches Deutungsmuster heran und beruft sich dabei auf ihre Herkunft als Flüchtling. Die Biografin betont ihre beruflichen Erfolge in beiden Systemen, wobei ihr eine selektive Vergegenwärtigung der eigenen Vergangenheit ein Aufrechterhalten ihres gegenwärtigen positiven Selbstbildes als durchweg erfolgreiche Frau ermöglicht. 57

Zwar habe ich mich um eine große Varianz der Fälle im Sample bemüht, allerdings ist aufgrund der kleinen Fallzahl nicht davon auszugehen, dass das gesamte Spektrum der möglichen Muster abgedeckt werden konnte.

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Die Herstellung von biografischer Konsistenz und Kontinuität gelingt also durch eine starke Identifikation mit der als positiv empfundenen Gegenwart und einer selektiven Vergegenwärtigung der Vergangenheit.

4.2 Kontrastierender Generationenvergleich „Die Arbeit des Interpreten besteht nun darin, unterhalb der Ebene sich widersprechender oder gar sich bekämpfender Auffassungen von verschiedenen Gruppierungen die Schicht des ihnen gleichwohl gemeinsamen Lebensgefühls freizulegen. Aus den diversen Selbstdeutungen einer Generation gilt es, die sich einigenden Deutungsbedürfnisse herauszulesen.“ (Bude 1987: 36f.)

Obwohl sich die lebensgeschichtlichen Erzählungen der drei Biografinnen deutlich voneinander unterscheiden, zeigen sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten sowohl hinsichtlich der Erfahrungsschichten als auch in Bezug auf die Selbst- und Weltdeutungen. Inwiefern derartige Gemeinsamkeiten aus einer ähnlichen Generationslagerung resultieren, soll die Kontrastierung mit einer weiteren Generationseinheit, der weiblichen Intelligenz der Integrierten Generation, zeigen.58 Allerdings soll an dieser Stelle nochmals unterstrichen werden, dass die untersuchten Fälle keinesfalls ausreichen, um eine umfassende Generationstypik zu entwerfen. Zur Kontrastierung bieten sich die in den Jahren 2001 und 2002 aufgezeichneten Lebensgeschichten von Nadja Glauber und Karin Klotz an, die wie die Biografinnen der AufbauIntelligenz in systemnahen Funktionen in der DDR einen beruflichen Aufstieg realisieren. Die 1954 in Berlin als Tochter einer Hausdame und eines Architekten geborene Nadja Glauber schlägt als Militärökonomin eine Karriere in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) ein und kann bis zu deren Abwicklung 1991 zu einer der wenigen weiblichen Bezirksvorsitzenden in dieser Institution aufsteigen.59 Karin Klotz, die 1956 als Tochter einer Kaderinstrukteurin und eines Lehrers für Staatswissenschaften in eine große Weimarer Familie „hineingeboren“ wurde, arbeitet im Anschluss an ihr Studium des Marxismus-Leninismus und der Geschichte der Arbeiterbewegung in der Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar, zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin und dann als Archivarin.60 Die Systemtransformation erleben beide Biografinnen als wichtigen lebensgeschichtlichen Einschnitt. Nadja Glauber erfährt 58

Der kontrastierende Vergleich dient dazu, die gemeinsamen Deutungsmuster der Generationseinheit der weiblichen Aufbau-Intelligenz zu schärfen. Die Integrierte Generation dient lediglich als Kontrastfolie und wird nicht umfassend dargestellt. 59 Bei der GST handelt es sich um eine paramilitärische Organisation zur Förderung der Wehrbereitschaft der Bevölkerung. Nadja Glauber spricht auch vom „Mülleimer für die bewaffneten Organe“ (1333). 60 In der Vergleichsgruppe der Integrierten Generation musste ich auf Biografinnen mit weniger steilen Berufskarrieren zurückgreifen, weil sich die beruflichen Karrieremuster der Aufbau-Intelligenz bei Angehörigen der Intelligenz der Integrierten Generation kaum noch nachweisen lassen. Dies liegt vermutlich daran, dass die zwischen 1950 und 1960 geborenen Biografinnen zum Zeitpunkt des Systemwechsels erst zwischen 30 und 40 Jahren alt waren und dass in den 70er und 80er Jahren die institutionellen Möglichkeiten einer steilen Karriere nicht mehr in demselben Maße bestanden.

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einen Abbruch ihrer bisherigen Berufskarriere: Nach der von ihr durchgeführten Abwicklung der Nachfolgeorganisation der GST, die auch die Entlassung von 150 Mitarbeitern umfasst, wird sie selbst arbeitslos. Sie beginnt eine von beruflicher Unsicherheit geprägte Lebensphase, in der sie nicht nur in einer Versicherung, sondern auch in verschiedenen Frauenprojekten tätig ist. Karin Klotz gelingt es zwar, ihren Arbeitsplatz über den Systemwechsel hinwegzuretten, allerdings muss sie als Mitarbeiterin einer politischen Institution, die von ihren Mitarbeitern eine loyale Haltung gegenüber der offiziellen Politik verlangt, dafür einen Wandel ihrer politischen Orientierung vollziehen.

Vergleich der Gegenwartsperspektiven Bereits hinsichtlich der Gegenwartsperspektive, aus der heraus die eigene Lebensgeschichte erzählt wird, lässt der kontrastierende Vergleich beider Generationseinheiten generationsspezifische Besonderheiten hervortreten. Karin Klotz beschreibt sich als „Familienmenschen“ (1308) und unterstreicht in ihrer Erzählung ihre Einbettung in eine große Weimarer Familie. Dennoch nimmt die Beschreibung ihrer beruflichen Arbeit in der Gedenkstätte den wichtigsten Platz in den der Gegenwart gewidmeten Passagen ein, wobei sie in erster Linie auf Veränderungen ihres Arbeitsalltags im Zuge des Systemwechsels eingeht.61 Auf die Frage nach einem Lebensmotto antwortet die Biografin: „Also ich würde ihnen sagen, sie sollen ihr Leben so leben, dass sie dass sie selber glücklich [...] sind“ (2431/2432). Ihr eigenes Glück findet die Mutter von zwei Töchtern in dem lebensweltlichen „Mikrokosmos“ ihrer Familie in Weimar und ihrer relativ gesicherten Arbeitsstelle „oben auf’m Ettersberg“ (404) bei Weimar – eine überschaubare Welt mit klaren Grenzen und Normalitätsvorstellungen, die einen Rahmen der Sicherheit und Geborgenheit bietet. Nadja Glauber hingegen stellt sich als selbstbestimmte und unkonforme Frau dar, die sich nicht unterordnet und ihre Meinung frei heraus äußert, beispielsweise wenn sie das Engagement des Vereins OWEN, in dem sie selbst und die Interviewerin arbeiten, als gesellschaftlich „verzichtbare Tätigkeit“ (2358) definiert und freimütig erklärt: „Dit macht mich natürlich nich grade beliebt in der Position, aber damit kann ick leben, also ick bin da ziemlich emotionslos und realistisch“ (2369/2370). Die Biografin managt ihr Leben zwischen ihrem unsicheren Job als Buchhalterin bei OWEN, ihrem 24-jährigen Sohn und ihrem Ehemann in Berlin sowie einem Geliebten in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Über ihre grundsätzliche Lebenseinstellung nachdenkend betont die Militärökonomin: 61

Damit kommt Frau Klotz, die das Interview in einem Konferenzraum der Gedenkstätte Buchenwald gibt, möglicherweise der implizit angenommenen Interviewererwartung entgegen.

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„Ick äh ordne mich unter, unter Dinge, die mich sozusagen überzeugen, aber ick bin nicht bereit, mich sozusagen einer Idee unterzuordnen, eem Logo, eim, irgendwat, wat vorjegeben is und alle ordnen sich unter, weil dit eben so is. Dazu bin ick nich bereit. Wenn ick dit als sozusagen etwas anerkenne, wo ick, mit dem ick mich identifizieren kann, keene Frage, aber sozusagen, nur weil it die Idee is, muss ick mich der beugen, dit hab ick mir jeschwor'n, dit machste nich, nein, nie wieder. Dit is, dit is für mich och die goldene äh Lebensregel. Ick meine, ick kann och nich sagen, dass ick immer so anjepasst war, so nich. Aber heute um so mehr. Äh, und ick, och nich rücksichtslos, also dass ick sozusagen nur mich verwirklichen will oder so, dit nich. Aber es muss schon irgendwo mit mir wat zu tun haben.“ (40874096)

Obwohl die gegenwärtigen Standpunkte der beiden Biografinnen der Integrierten Generation – die eine konform auf ihre überschaubare Lebenswelt bezogen, die andere selbstbestimmt ihrem Freiheitsdrang folgend – gegensätzlicher kaum sein könnten, verbindet beide der deutliche Bezug auf sich selbst und ihre private Lebenswelt, und darin unterscheiden sie sich deutlich von den ca. 20 Jahre früher geborenen Biografinnen aus der Aufbau-Intelligenz, deren Gegenwartsperspektive gerade durch die Betonung ihres aktiven gesellschaftlichen Engagements bestimmt ist. Bei den drei Angehörigen der Aufbau-Intelligenz ist die Gegenwartsschwelle eindeutig an die Systemtransformation geknüpft, weil dieser biografische Einschnitt mit dem Wechsel in die Lebensphase des Alters zusammenfällt. Nach dem mehr oder weniger freiwilligen Ausstieg aus dem Berufsleben bietet sich den drei Frauen die Möglichkeit durch ihre Rente finanziell abgesichert ihren persönlichen Interessen nachzugehen.62 Die drei Biografinnen füllen diese Freiräume durch aktives gesellschaftliches Engagement, welches sie als Fortsetzung ihres früheren beruflichen und politischen Engagements deuten. Rosemarie Senkel – „immer gesellschaftlich aktiv“ (301) – steht ihrer politischen Basisgruppe vor. Brigitte Bräutigam leitet „als Multiplikator“ (188) zahlreiche Projekte in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und unterstreicht: „Ich bin [...] nach wie vor dafür, sich einzubringen und sich einzumischen“ (1439/1440). Uschi Naß engagiert sich auf kultureller Ebene, indem sie sich erfolgreich an Literaturausschreibungen mit politisch-historischem Fokus beteiligt und ihre Geschichten auf Lesungen in gesellschaftlichen Begegnungsstätten – „Ich hab da ’n sozialen Touch, den hab ich immer noch ein bisschen“ (260/261) – präsentiert. Unter den Möglichkeiten, die ihnen das neue System und die Freiräume des Ruhestands im Anschluss an die Berufstätigkeit bieten, setzen die Biografinnen der Aufbau-Intelligenz ihr gesellschaftliches Engagement im politischen, sozialen oder kulturellen Bereich, teilweise wieder in leitenden Positionen, fort. Aus den Erfolgen ihrer gesellschaftlichen Betätigungen ziehen die drei Frauen

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So betont Uschi Naß: „Und hab dann gemerkt, dass man die Zeit sehr sehr für sich nutzen kann, endlich die Zeit und die Freiräume zu haben das zu machen, was man schon immer wollte“ (262/263).

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persönliche Befriedigung – so fällt denn auch die Beurteilung des gegenwärtigen persönlichen Lebens bei allen relativ positiv aus. Ausgehend von diesen generationsspezifisch differenten Gegenwartsperspektiven, die ein Mal den Selbstbezug und die private Lebenswelt, das andere Mal den Gesellschaftsbezug zur Erlangung individueller Zufriedenheit in den Mittelpunkt stellen, lassen sich Unterschiede in der Gestaltung der Lebensgeschichten feststellen, die auf die Möglichkeit der jeweiligen Generationszugehörigkeit verweisen.

Vergleich der lebensgeschichtlichen Deutungen Ein entscheidendes lebensgeschichtliches Deutungsmuster, das in den biografischen Erzählungen der Aufbau-Intelligenz zum Tragen kommt, ist ein – bei den einzelnen Biografinnen sehr unterschiedlich ausgeprägtes – gesellschaftsbezogenes Erfolgsdenken. Diese Orientierung ist besonders signifikant im Vergleich zu den Vertreterinnen der Intelligenz der Integrierten Generation, denen es in erster Linie um die Betonung ihrer individuellen Lebenswelt in einem als Normalität angenommenen System geht. Die generationsspezifisch differierenden Lebensdeutungen treten bereits in der Darstellung der Erlebnisse und Sozialisationserfahrungen in Kindheit und Jugend hervor. In den Kindheitserinnerungen der Integrierten Generation spielen die familiäre Lebenswelt und der kindliche Alltag in den Bildungsinstitutionen der DDR eine wichtige Rolle. Karin Klotz betont ihre harmonische Einbettung in die Weimarer Großfamilie mit drei weiteren Geschwistern: „Es war eigentlich die Familie meines Vaters, die hier also schon ewig ansässig war, alte Lehrersfamilie und also auch ’ne sehr bekannte Familie in der Stadt und wir also wirklich in diesem in diesem großen Schoß der Familie dann auch äh groß geworden sind.“ (38-41)

Die Biografin erzählt auch von ihren Erfahrungen in den Bildungsinstitutionen – Kindergarten, Einschulung und die jährlichen Ferienlager hat die Biografin „in guter Erinnerung“ (170171). Auch wenn die institutionelle Erziehung nahtlos an die familiäre Sozialisation anschließt – „ich war ja auch von zuhause schon so erzogen worden“ (565/566) – bleibt die Familie ihr Leben lang der entscheidende Bezugspunkt. Nadja Glauber hingegen zeichnet in ihrer detaillierten lebensgeschichtlichen Darstellung ein Bild ihrer kindlichen Lebenswelt, das bestimmt ist durch Konflikte mit der als ausgesprochen dominant wahrgenommenen Mutter: „Sie hat bis heute is ihr Lebensbild: ‚Ich habe alles für dich jetan’, und ich weiß, es war nicht für mich, es war für sie, ick hab es für sie jetan [...] also dit is och die Brutalität, die Mütter ausüben können jegenüber Kindern.“ (367-371)

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Diesem Konflikt zwischen Mutter und Tochter sind alle Erinnerungen an die Kindheit untergeordnet, auch der Schulalltag und die politischen Aktivitäten in den Jugendorganisationen. In den Kindheitserinnerungen von Karin Klotz und Nadja Glauber liegt der Schwerpunkt auf den Erinnerungen an die familiäre Lebenswelt – einmal harmonisch und mit positiver Orientierungsfunktion, einmal konfliktreich und als Abgrenzungsmotiv. Die Schilderung der politischen Organisation der Kindheit als zweites Thema erscheint demgegenüber marginal und wird möglicherweise gerade aufgrund der Wahrnehmung als Normalität kaum behandelt. Den Bezugsrahmen der lebensgeschichtlichen Kindheitserinnerungen der Aufbau-Intelligenz bilden im Gegensatz dazu gerade nicht die Normalität privater Lebenswelten, sondern Familien, die durch die Auswirkungen der zeitgeschichtlichen Ereignisse umfassend zerrüttet wurden. Die lebensgeschichtlichen Deutungen dieser Generationseinheit zeichnen sich dadurch aus, dass sie den kindlichen Leidenserfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit eine beträchtliche Bedeutung beimessen: Rosemarie Senkel berichtet eindringlich über ihre „schrecklichen Erinnerungen“ (672) und das Gefühl des „Ausgeliefertseins“ (662) angesichts eines Bombenangriffs und beschreibt die „Kinderlandverschickung“ als „schlimme Zeit“ (103). Brigitte Bräutigam erzählt ausführlich von ihrer Flucht aus Königsberg, noch umfassender aber von den Entbehrungen und Benachteiligungen, die sie in der „schweren Zeit“ (17) als Flüchtlingskind in der neuen Heimat erleiden muss. Die Biografin machte in ihrer Kindheit die Erfahrung, „dass das Leben so ganz schlimm sein kann, mit Frieren und Hungern und nichts anzuziehen haben und sich durchkämpfen“ (268/269). Uschi Naß schildert ebenfalls Flucht und die Bombardierung ihrer Heimatstadt als „furchtbar“ (808), allerdings scheinen sich diese Erfahrungen der erst 1939 Geborene weniger tief eingeprägt zu haben als den anderen beiden Biografinnen.63 Zu den schmerzhaften Erfahrungen dieser Zeit kommt außerdem die zeitweise Trennung von den Eltern bzw. einem Elternteil hinzu. Doch nicht nur das selbsterlebte Leid, auch die Wahrnehmung der eigenen Eltern als Opfer des Nationalsozialismus bzw. der Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse stellt für die AufbauIntelligenz eine wichtige Erinnerung dar: Der Vater von Rosemarie Senkel musste als „Verfolgter des Naziregimes“ (72) „sehr große Nachteile“ (71) hinnehmen und wurde obendrein nach 1945 aufgrund seines Einsatzes für das Zusammengehen der sozialistischen Parteien beruflich benachteiligt. Auch Brigitte Bräutigam stellt in ihrer Lebensgeschichte die elterli-

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Der Eindruck einer geringeren lebensgeschichtlichen Prägung durch die kindlichen Kriegserfahrungen entsteht durch die im Vergleich zu den anderen beiden Biografinnen weniger umfangreiche und weniger emotionale Darstellung derartiger Passagen (vgl. 745-781).

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chen Leidenserfahrungen dar und erzählt über ihre Mutter, die „nicht so’n Kämpfertyp“ (269/270) war: „Ich kann mich sehr gut an die großen Schwierigkeiten meiner Mutter erinnern, die ja nun ihre Heimat aufgeben musste, keinen Kontakt zu unserem Vater hatte, dort auch nicht sehr willkommen war, im Erzgebirge, so gleich nach dem Krieg.“ (18-21)

Uschi Naß beschreibt ihr Mitgefühl für die Ängste ihrer Mutter in den Bombennächten:64 „Also ich hab nur geschrieen, weil ich vor den Bom-Bombern Angst hatte, man hörte das ja dröhnen. Aber was meine Mutter dort durchgemacht hat, das hab ich erst, als ich selber ’n Kind hatte, begriffen.“ (774-776)

Die selbsterlebten traumatischen Kindheitserinnerungen und die übernommenen elterlichen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Krieg führten bei den drei Angehörigen der Aufbau-Intelligenz zu einer Orientierung an bestimmten Werten dieser Referenzgeneration. So leitet Rosemarie Senkel ihr lebenslanges Engagement für den Sozialismus explizit von der kindlichen Leidenserfahrung und der Widerstandserfahrung ihres Vaters ab. Brigitte Bräutigam begründet ihr Erfolgsdenken und ihren Durchsetzungswillen mit der „Beeinflussung“ (45) durch ihre Mutter und deren Aufforderung sich „nicht noch mehr gefallen [zu] lassen“ (52). Auch Uschi Naß beruft sich bezüglich ihres kulturellen und politischen Orientierungsmusters auf ihre Herkunftsfamilie bzw. ihren Vater (vgl. 525-527).65 Die Elterngeneration setzt hohe Erwartungen in ihre Töchter, denen diese mit der Anknüpfung ihrer lebensgeschichtlichen Ziele an die elterlichen Werte zu entsprechen versuchen – derartig hochgesteckte Ziele und Orientierungen ziehen die Biografinnen der Integrierten Generation an keiner Stelle aus ihren Kindheitserinnerungen. In ihren retrospektiven Lebensgeschichten verknüpfen die Biografinnen der AufbauIntelligenz ihre Erfahrungen aus der Kindheit mit den Zielen des jungen sozialistischen Staates, die ihnen während der beruflichen Ausbildung nahe gebracht werden oder eine Vertiefung erfahren. Die Angehörigen der Generationseinheit definieren diese Lebensphase als prägend hinsichtlich ihrer Bindung an die DDR, wobei die Identifikation mit dem neuen Staat und dem Sozialismus auch innerhalb der Aufbau-Intelligenz aus ganz unterschiedlichen Motiven erfolgt: Einerseits werden die kindlichen Leidenserfahrungen mit der kämpferischen Ansage eines sozialistischen und antifaschistischen Staates verknüpft, der als positives Gegenbild zu den Erfahrungen von Nationalsozialismus und Krieg steht. Aber auch ohne diese Erfahrungen

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Allerdings scheint auch die elterliche Opferwahrnehmung in den Erinnerungen der Uschi Naß weniger bedeutend als bei ihren Altersgenossinnen. 65 Bei Uschi Naß hängt dies allerdings weniger mit negativen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen zusammen als mit dem als harmonisch erinnerten bildungsbürgerlichen Milieu ihrer Kindheit.

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz

übt das Erleben sozialistischer Gemeinschaft eine starke Anziehungskraft aus. Anderseits wird weniger ideologisch von den sich bietenden enormen Bildungs- und Aufstiegschancen profitiert. In den Erzählungen der Aufbau-Intelligenz wird deutlich, dass sich die Bindung an die DDR und den Sozialismus – zwischen beiden Begriffen unterscheiden die drei Biografinnen nicht – in einem Wechselspiel aus den individuellen Ansprüchen an den Staat und den hohen staatlichen Erwartungen an die Individuen entwickelt. In der Phase ihrer Ausbildung in den 50er Jahren sind die Biografinnen der AufbauIntelligenz intensiver staatlicher Einflussnahme ausgesetzt, was bereits in den Erinnerungen an die Studien- und Berufswahl deutlich wird.66 Die drei Frauen thematisieren zwar die Diskrepanz zwischen eigenen Wünschen und teilweise massiven staatlichen Interventionen, problematisieren diese Beeinflussung aber nicht.67 Die Biografinnen schildern anschließend die in ihrer beruflichen Ausbildungsphase selbst erfahrene sozialistische Erziehung: Räumlich getrennt von ihren Eltern erlebt Uschi Naß, die mit 14 Jahren ihre Ausbildung am Institut für Lehrerbildung in Leipzig beginnt, eine politische Sozialisation durch die staatlichen Institutionen. Sie erzählt: „Und die Erziehung im Internat, also die vier Jahre Internatsleben, die Jahre im äh also überhaupt am IFL, haben mich dann also auch schon politisch geprägt“ (36/37). Die aus einem sozialistischen Milieu stammende Rosemarie Senkel, die mit 18 Jahren ihr Elternhaus verlässt und sich in der FDJ-Landesleitung in Erfurt und im darauffolgenden Jahr als Redakteurin der „Jungen Welt“ in Berlin engagiert, wird 1952 einer Parteiüberprüfung unterzogen mit dem Ergebnis: „ich hätte nich genug Klassenbewusstsein und ich müsste erst noch in die Produktion gehen“ (150/151). Auch bei Brigitte Bräutigam erscheint eine politische Sozialisation während ihrer Ausbildung in der Zuckerfabrik und ihrem Studium in Erfurt wahrscheinlich, wird aber nicht thematisiert. Diese umfassende Orientierung an gesellschaftlichen Vorgaben tritt besonders deutlich hervor, wenn man die Erzählungen über die Ausbildungsphase bei der Aufbau-Intelligenz mit den Darstellungen der Integrierten Generation vergleicht. Eine sozialistische Erziehung stellt für die beiden Biografinnen aus der Integrierten Generation, die in die bestehende sozialistische Gesellschaft hineingeboren werden, von Anfang an eine Selbstverständlichkeit dar. Dennoch – oder gerade deshalb – betonen Karin Klotz und Nadja Glauber in den Erinnerungen an 66

Die Ausbildungen fallen in die „zweite Phase“ der Geschichte der DDR von 1950 bis 1961, die der Installierung des politischen Systems nach sowjetischem Vorbild galt und in der auch umfassende Erziehungsbemühungen zu einer „sozialistischen“ Wertorientierung erfolgten (vgl. Huinink et al. 1995: 15). 67 Die Berufslenkung des Staates war einerseits durch wirtschaftliche Anforderungen, andererseits durch ideologische Vorgaben begründet. So konnten Uschi Naß und Brigitte Bräutigam ihre Berufswünsche aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft zunächst nicht verwirklichen und wurden aufgrund des derzeitigen Lehrermangels zu einer Ausbildung als Lehrerinnen motiviert, während die aus einer politisch anerkannten Familie stammende Rosemarie Senkel zum Studium geradezu gedrängt wurde, obwohl dies zunächst weder ihren schulischen Leistungen noch ihren eigenen Berufswünschen entsprach.

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ihre Berufswahl neben der immer noch stattfindenden staatlichen Berufslenkung insbesondere die Rolle der Eltern bei der Entscheidung. Karin Klotz entwickelt ihren Studienwunsch in Gesprächen mit ihrem Vater: „Da habe ich mich auch lange immer irgendwie mit meinem Vater unterhalten“ (270/271). Persönliche Interessen geben letztlich den Ausschlag für ein Geschichtsstudium: „Geschichte haste Dich ja eigentlich immer auch gerne interessiert“ (279/280). Weil dieses Studium nur alle zwei Jahre angeboten wurde, beginnt sie schließlich doch ein Studium des Marxismus-Leninismus und der Geschichte der Arbeiterbewegung, denn: „So dazwischen drin mal so auszuscheren, das kam mir irgendwie gar nicht in den Kopf“ (305-307). Nadja Glauber entscheidet sich nach konfliktreichen Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter (vgl. 677-739) für ein Studium der Wirtschaftsgeschichte, wobei auch sie sich durch ihre persönlichen Interessen leiten lässt: „Wirtschaftsjeschichte, also dit war ja die dit, wat der Kuczinsky äh, also wie er sozusagen wo man herleitet, wo eben weeß ick warum ebend von der Merkantilwirtschaft bis zur heutigen hoch äh spezialisierten ähm Wirtschaft äh wo dit eigentlich herkommt, wie die Ursprünge des Wirtschaftens in der Menschheit war, dacht ick, da dit is überhaupt interessant.“ (733-737)

Durch einen Irrtum bei der Immatrikulation findet sich die Biografin allerdings im Studiengang Militärfinanzen wieder: „Ich bin da sozusagen reinjeraten und hatte, hab mich entschlossen, eben da zubleiben, weil äh es war eben so, man kriegte zum Beispiel dann och ’n höheret Stipendium“ (842-844). Während also die Angehörigen der Integrierten Generation wichtige lebensgeschichtliche Entscheidungen im Hinblick auf ihre individuellen Interessen und unter Bezugnahme auf ihnen vertraute Personen aus ihrem alltäglichen Umfeld treffen und die staatlichen Vorgaben nur als – teilweise lästigen – Rahmen ansehen, stellen die staatlichen Anforderungen für die Angehörigen der Aufbau-Intelligenz die entscheidende Orientierungs- und Leitungsfunktion in der Berufsfindung dar, und diesen werden auch persönliche Vorstellungen untergeordnet. Die Normalität, die der Staatssozialismus für die Integrierte Generation von Anfang an darstellte, wird auch in den Schilderungen des Eintritts in die SED offensichtlich. Weder Karin Klotz noch Nadja Glauber thematisieren tiefere Reflexionen, die mit dem im Studium vollzogenen Parteieintritt verbunden sind. Nadja Glauber schiebt erst in ihrer Karriereerzählung eine kurze Passage zu ihrem Parteieintritt nach: „Ich war dann mittlerweile auch in der Partei, in die Partei einjetreten, im Studium, ja, weil dit eben einfach so der Druck war dann eben so und ick hatte prinzipiell, es gab keenen Grund zu sagen, ick trete nich in die Partei ein, also ick war keen Widerstandskämpfer sozusagen.“ (1267-1270)

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Und auch Karin Klotz geht auf ihre politische Karriere erst am Ende ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung ein: „Äh war denn natürlich auch in der in der FDJ gewesen und äh bin dann auch mit 19 ja 19 Jahren in der Leipziger Uni dann in die SED eingetreten. Mein Mann dann auch, also waren dann auch äh SEDMitglieder gewesen und dis war also mhm ja es war mhm.“ (568-571)

Ganz anders stellt sich die Hinwendung zur SED bei den Angehörigen der Aufbau-Intelligenz dar, die die Biografinnen als sehr bewussten und entscheidenden Schritt schildern.68 Auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die drei Biografinnen zu denjenigen gehören, die wie so viele Altersgenossen die DDR verlassen und einen Neuanfang im Westen hätten wagen können, kommt der Parteieintritt einem Bekenntnis für die DDR und dem Sozialismus gleich. Rosemarie Senkel erzählt: „Ich bin mit 16 Jahren Mitglied geworden [...] als ich dann sagte, ich möchte auch Mitglied werden, das gab ja damals die Möglichkeit mit 16 Mitglied zu werden, hat mein Vater gesagt, das is eine Entscheidung für’s Leben und überleg dir das und hat mir zunächst eben abgeraten, weil er glaubte, ich würde das noch nich so überblicken diese Entscheidung.“ (116-121)

Die Biografin tritt kurze Zeit später zeitgleich mit der Übernahme ihres ersten Parteiamtes in die SED ein. Auch Uschi Naß, bei der „die Entscheidung [...] sehr früh gereift“ (40/41) ist, stellt ihren Parteieintritt mit 18 Jahren als wichtiges Ereignis dar: „Es hat sehr sehr lange gedauert ähm, bis ich aufgenommen wurde. Bei mir wurde die Kandidatur sogar verdoppelt, weil wegen der Vergangenheit meines Vaters, weil man mir nicht getraut hat. Das das weiß ich noch. Und ich war dann ganz stolz und also ich hätte am liebsten ’s Parteiabzeichen och am Nachthemd getragen, so ungefähr, dass es jederzeit sichtbar war.“ (663-667)

Die Karriereerzählungen selbst nehmen in den lebensgeschichtlichen Erzählungen der Biografinnen beider Generationen einen wichtigen Platz ein.69 Die Darstellungen des beruflichen Aufstiegs erscheinen bei Nadja Glauber und Karin Klotz aus der Integrierten Generation zwar zunächst als unproblematisch und vorbestimmt – im Laufe der Erzählungen wird jedoch die Mitbestimmung der eigenen Karriere im Sinne persönlicher Lebensvorstellungen deutlich. „Ehrlich gesagt, ick hab mich och fast immer jar nich entschieden, ick wurde immer uff so ’ne Schiene jesetzt und bin denn da mitjeschwommen“ (902/903) berichtet Nadja Glauber über den Beginn ihrer Laufbahn in der GST. Spätestens mit der Beschwerde gegen die diskriminierende Verhinderung ihres weiteren Aufstiegs bei der GST (vgl. 1441-1487) wird allerdings ihre aktive Mitgestaltung ihres Karrierewegs offen68

Nur Brigitte Bräutigam äußert sich an keiner Stelle zu einer möglichen SED-Mitgliedschaft. Die Betonung der Karriereerzählung ist ein Hinweis auf die Bedeutung der lebenslangen qualifizierten Berufstätigkeit, die für Frauen in der DDR seit den 50er Jahren eine Selbstverständlichkeit darstellte (Merkel 1994: 360). 69

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sichtlich. Auch Karin Klotz, die zunächst arbeitet, „wo der Staat einen gebraucht hat“ (342), kündigt ihre erste Anstellung als Lehrerin für Marxismus-Leninismus an der Handelshochschule Leipzig wegen der als übermäßig empfundenen Kontrolle ihres Unterrichts – „da war ich nicht ganz so glücklich“ (344) – und um zu ihrer Familie nach Weimar zurückzukehren. Dort bemüht sich die Biografin eigenständig um eine Anstellung an der Gedenkstätte Buchenwald, wo sie nach ihrer baldigen Beförderung zur Archivarin keinen weiteren Aufstieg realisiert. Bei den Angehörigen der Aufbau-Intelligenz gestaltet sich der berufliche Aufstieg als eine im Gegensatz zur Integrierten Generation schnelle und sehr steile Karriere, die nur vage begründet wird und einer sehr passiven Darstellungsweise folgt. Uschi Naß begründet ihren Aufstieg mit der Aussage: „Man wurde so gefördert, äh wenn man irgendwo gut war. Und ich denke, ich war gut“ (1140). Rosemarie Senkel beschreibt ihre Karriere als eine Kette von an sie gerichteten Angeboten (vgl. 185/186, 221/222 und 229/230), und Brigitte Bräutigam spricht von einer Reihe zufälliger Möglichkeiten (vgl. 109-120).70 In den Karriereerzählungen der Integrierten Generation dominieren bei beiden Biografinnen die Beschreibungen des beruflichen Umfeldes. Nadja Glauber präsentiert in ihrer Erzählung durchaus unterhaltsame Geschichten über Konflikte und Liebschaften zwischen den Kollegen, um ihre berufliche Lebenswelt in der GST zu beschreiben (vgl. 1152-1490). Karin Klotz zeichnet ebenfalls ein detailliertes Bild ihres beruflichen Alltags in der Gedenkstätte, wobei sie insbesondere auf ihren Tagesablauf (vgl. 438-445), die Möglichkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie „im Betrieb“ (459) und das kollegiale Verhältnis zwischen den Kollegen (vgl. 462-485) eingeht. Im Gegensatz dazu beschreiben die Angehörigen der Aufbau-Intelligenz ihre alltägliche berufliche Lebenswelt kaum; stattdessen gehen die drei Biografinnen vor allem auf den Zusammenhang ihres Berufs mit den politischen Anforderungen des Systems ein. Ihre Darstellungen, die deutlich von der Erfahrung der beruflichen Delegitimierung im Zuge des Systemwechsels geprägt sind, erscheinen als Rechtfertigungen der beruflichen Karrieren. So bestimmen argumentative Passagen die Karriereerzählung von Uschi Naß: „Es war eigentlich eine sehr gute Zeit. Und als wir jetzt 25-Jahre Friedrich-Hähnel-Schule uns getroffen haben, äh gab es viele viele Worte, wo so durchschwang: Was wir gemacht haben, war gut, und danke, du warst eine gute Leiterin.“ (132-135)

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Ihre raschen beruflichen Aufstiege hängen nicht nur mit dem Elitentausch zusammen, sondern auch mit der hohen Abwanderung vornehmlich qualifizierter Menschen, die bis zum Mauerbau 1961 die DDR verließen (vgl. Huinink et al. 1995: 15).

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Rosemarie Senkels Karriereerzählung, die sich durch eine detaillierte Beschreibung ihrer Aufgaben auf unterschiedlichen beruflichen Positionen auszeichnet, gilt auch der Rehabilitierung des Justizsystems der DDR: „Also ich fand, wir hatten ein gutes Familienrecht“ (1382/1384). Brigitte Bräutigam geht zunächst kaum auf ihre berufliche Karriere ein, rechtfertigt dann aber nicht nur ihre eigene Arbeit, sondern das Schulsystem der DDR insgesamt – „Ich habe, wir haben keine Schüler verbogen“ (794) – und zieht wie ihre beiden Altersgenossinnen das Fazit: „Es war eine schöne Zeit“ (759). Bei allen Angehörigen wird eine starke Identifikation mit ihrer Karriere deutlich, die sich in ihrem Stolz auf den beruflichen Erfolg zeigt und durch die Delegitimierung im Rahmen des Systemwechsels, die insbesondere auf der beruflichen Ebene erfahren wurde, nur vorübergehend erschüttert werden konnte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die lebensgeschichtlichen Deutungsmuster der Aufbau-Intelligenz durch eine starke gesellschaftliche Orientierung geprägt sind, die sich durch hohe Erwartungen an das System und an sich selbst auszeichnen. Diese Orientierung resultiert auch aus den dargestellten lebensgeschichtlichen Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Darin unterscheidet sich die Generationseinheit der Aufbau-Intelligenz von der jüngeren Integrierten Generation, die das System mit seinen Vor- und Nachteilen als Normalität annahm und ihr persönliches Lebensglück in der privaten Lebenswelt zu realisieren versuchte.

Vergleich der Reflexionen über die DDR und den Sozialismus Vor diesem Hintergrund gilt es nun, die unterschiedliche retrospektive Auseinandersetzung sowohl mit der DDR und dem Sozialismus allgemein als auch mit der eigenen Rolle in diesem System zu betrachten. Die Biografinnen der Integrierten Generation zeichnen sich beide durch ein distanziertes Verhältnis zur DDR aus, das bei Karin Klotz aus einer rückblickenden Auseinandersetzung resultiert, bei Nadja Glauber dagegen aus kritischen Erfahrungen in der DDR. Frau Klotz lebte durchaus konform in der DDR, was ihre positiven Erinnerungen an das alltägliche Leben und die Abwesenheit von kritischen Erfahrungen mit dem System deutlich machen. Ihr umfassendes Hinterfragen sowohl der DDR-Geschichte als auch der eigenen Lebensgeschichte stellt in erster Linie eine Notwendigkeit zur Sicherung ihrer beruflichen Existenz in der vergangenheitspolitischen Institution der Gedenkstätte Buchenwald dar.71 Die ret-

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Der Prozess der kritischen Aufarbeitung der Geschichte der DDR und des Sozialismus im Sinne der offiziellen Geschichtspolitik der Bundesrepublik findet insbesondere im Rahmen der Neukonzeption einer Ausstellung im Jahr 1995 statt. Die Biografin betont hinsichtlich dieser „Evaluierung“ (1076): „Eigentlich jeder, der beteiligt gewesen ist, also der in der Museumsgruppe gewesen ist wusste, es ging, ja es ging um Gedeih und Verderb, es

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rospektive Kritik von Karin Klotz spiegelt sich zunächst in der Reflexion über ihre Rolle als Archivarin der Gedenkstätte vor 1989 wider. Die Biografin bezieht sich dabei beispielsweise auf ihre mangelnde Kritikfähigkeit bezüglich des Umgangs mit ihrem Wissen um das sowjetische Internierungslager, dessen Existenz in der DDR verschwiegen wurde (891-902). Ihre „Fehler“ (898) rechtfertigt sie mit ihrer DDR-Sozialisation, die Konformität und die uneingeschränkte Autorität der antifaschistischen politischen Häftlinge vermittelt habe. Die rückblickende kritische Haltung von Karin Klotz spiegelt sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit ihrer beruflichen Rolle wider, sondern auch im selbstkritischen Blick auf die eigene Lebensgeschichte. So unterstreicht die Biografin ihren Stolz über die Ernennung zur ThälmannPionierin, um sofort nachzuschieben: „Man hat sich ja auch nicht oder ich hab mir da ja auch nich weiter groß mhm Gedanken gemacht, ob das gut war oder schlecht war. Das ist dann eigentlich erst später dann die Fragen dann gestellt worden“ (203-205).72 Mit ihrer kritischen Einstellung gegenüber der Vergangenheit – „Also nicht, dass ich dem in irgendeiner Weise nachtrauer“ (410) – befindet sich Frau Klotz wieder in Übereinstimmung mit den aktuellen politischen Anforderungen. Nadja Glauber, der ihre berufliche Karriere in der GST einen intimen Einblick in die Führungsetagen des SED-Staates ermöglichte, vollzieht im Gegensatz zu ihrer Altersgenossin bereits vor dem Systemwechsel eine partielle Distanz zum politischen System der DDR. Während ihrer Arbeit bei der GST von 1977 bis 1989 wird sie ganz persönlich mit zahlreichen Unzulänglichkeiten des Systems konfrontiert.73 Nadja Glauber begehrt gegen die sie unmittelbar betreffenden Mängel auf, indem sie sich beispielsweise über ihre Vorgesetzten beim Vorsitzenden des Zentralvorstands der GST beschwert (vgl. 1441-1488). Ein tiefer Bruch ihrer Loyalität zum politischen System der DDR vollzieht sich als Reaktion auf eine durch ihren Chef initiierte Rufmordkampagne gegen ihren zukünftigen Ehemann, an deren Folgen er auch zum Zeitpunkt des Interviews noch psychisch leidet (vgl. 1714-1735).74 Nadja Glauber zieht sich nach dieser Erfahrung beruflich nicht zurück, doch ihre Zweifel an der DDR nehmen Ende der 80er Jahre weiter zu:

ging um die Arbeitsplätze. Also es ging och irgendwo um die persönliche Zukunft, nicht nur um die der Gedenkstätte, sondern auch wirklich um die persönliche Zukunft“ (1070-1074). 72 Auch bezüglich des als positiv empfundenen Gemeinschaftserlebens in ihrer Studentenzeit betont die Biografin: „Das heißt also, waren immer, so jetzt im Nachhinein, ja klar, waren immer so diesen Drang so zur Gemeinschaft gab“ (324/325). 73 Nadja Glauber ist als weibliche Führungskraft in der DDR mit Schwierigkeiten konfrontiert (vgl. 1441-1488), sie moniert den übermäßig aufgeblähten Verwaltungsapparat der GST (vgl. 1421-1427), moralische Verfehlungen ihrer Vorgesetzten desillusionieren sie (vgl. 1326-1352). 74 Weil ihrem Chef ihre geplante Hochzeit mit einem in der Hierarchie weit unter ihr stehenden Mitarbeiter der GST missfällt, hängt er diesem eine homosexuelle Affäre an – nach DDR-Recht eine Straftat, für die Nadja Glaubers zukünftiger Ehemann, ein Historiker, in die Produktion strafversetzt wurde.

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Lebensgeschichten der Aufbau-Intelligenz „Also irgendwie is mein, mein Bild von dieser DDR sozusagen immer mehr, dit war wie so je es bröckelte, irgendwie war dit allet, dachte ick, dit kann nich sein, dit kann ja allet nich sein, ne.“ (17851787)

Es entspricht Nadja Glaubers grundsätzlich unkonformer Haltung, dass sie auf die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit nach der Wende kritisch und spöttisch reagiert (21442168). Im Hinblick auf ihre systemkritische Haltung in der DDR erscheint der GSTFunktionärin eine konkrete Auseinandersetzung mit den eigenen Tätigkeiten in der GST nicht notwendig. Beide Biografinnen der Integrierten Generation entwickelten ein distanziertes Verhältnis zur DDR, die eine in der retrospektiven Auseinandersetzung, die andere durch ihre Erfahrungen in der DDR selbst. Gemeinsam ist beiden, dass sich die Beschäftigung in erster Linie über die Erinnerung an persönlich erlebte Auseinandersetzungen mit dem System – Ereignissen aus dem beruflichen und familiären Alltag – vollzieht. Dabei hinterfragen die beiden Angehörigen der Integrierten Generation undogmatisch auch die hohen moralischen Werte des Sozialismus und lösen sich insbesondere vom Antifaschismus und der moralischen Unantastbarkeit der Weimarer Gründergeneration. Trotz dieser Loslösung vom sozialistischen Anspruch der DDR betonen beide Biografinnen die Bedeutung des Landes, in das sie hineingeboren sind, als ihre Heimat. Karin Klotz lässt „diese Geborgenheit und dieses also jetzt nicht nur in der Familie auch in dem größeren Rahmen dieses Versorgtsein irgendwie“ (1698/1699) positiv an die DDR zurückdenken, und Nadja Glauber betont: „ick [habe] jetzt die DDR-Fahne immer noch bewahrt [...], aber dit hatte, hat mehr wat mit mit meiner Einstellung zur DDR oder zur Fahne zu tun, aber nich mit den wat da politisch äh äh passiert is sozusagen.“ (1826-1829)

Im Gegensatz zu diesen politisch distanzierten Argumentationen dominieren in der Generation der Aufbau-Intelligenz trotz durchaus kritischer persönlicher Erfahrungen mit dem System selektiv positive Vergegenwärtigungen sowohl der Vergangenheit der sozialistischen DDR als auch der eigenen Rolle darin. Die positive Bewertung der DDR bezieht sich – neben den auch von der Integrierten Generation gelobten sozialpolitischen Errungenschaften – insbesondere auf den ideellen sozialistischen Wertekanon. Dessen Wertschätzung entfalten die drei Biografinnen indirekt vor der Kontrastfolie der Bundesrepublik, die „nur auf Profit ausgerichtet“ (vgl. Interview 1: 1470) ist, in der neonazistische Gruppierungen, Intoleranz oder Kriegsbeteiligungen auf einen Verlust an „Ideellem“ (Interview 2: 1261) oder gar „Kulturlosigkeit“ verweisen und soziale Ungerechtigkeit gefördert wird (vgl. Interview 1: 1476/1477). Nur Rosemarie Senkel stellt den Staatssozialismus der DDR vollkommen kritiklos dar, aber auch Uschi Naß betont „unseren Antifaschismus“ (Interview 2: 295/296) und spricht sich explizit gegen 64

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die Demokratie aus (ebd.: 1276). Brigitte Bräutigam distanziert sich als einzige formal vom Sozialismus – in ihren retrospektiven Argumentationen erhält sie dessen ideellen Anspruch zumindest teilweise aufrecht, indem sie jegliche Kritik an der antifaschistischen Schulbildung zurückweist (vgl. Interview 3: 814/815). Dem hohen gesellschaftlichen Anspruch werden auch retrospektiv sowohl „Mängel“ der DDR als auch persönliche Konflikte mit dem System untergeordnet.75 Möglich wird eine derartige Argumentation eventuell durch eine emotionale Verbundenheit mit der sozialistischen DDR. Diese kommt insbesondere in den Erzählungen über das Ende der DDR zum Ausdruck: Uschi Naß spricht davon, dass sie „das Land DDR geliebt habe und diesem Land auch nachgeweint habe“ (43), Brigitte Bräutigam betont ihr Verantwortungsgefühl gegenüber der DDR, wenn sie ihrem ausreisewilligen Sohn gegenüber betont: „Wir können nicht immerzu bloß diesen Staat hier ausnehmen“ (1073/1074) und Rosemarie Senkel bekräftigt: „Äh für mich war es ne schlimme Sache. Weil ich nun wirklich mh von Kindheit an für den Sozialismus war, also für den Aufbau des Sozialismus, und äh vieles in den vergangenen Jahren, was mir vielleicht nicht gefallen hat, nie als etwas Prinzipielles angesehen hatte.“ (1403-1406).

Beide Generationen unterstreichen retrospektiv ihre Verbundenheit mit der DDR, doch während die Integrierte Generation insbesondere hinsichtlich der politischen Seite einen kritischdistanzierten Blick zurück wirft und ihre Bindung an die DDR mit „Heimatgefühlen“ und sozialstaatlichen Errungenschaften begründet, äußern die Angehörigen der Aufbau-Intelligenz emotional geprägte „Solidaritätsbekundungen“ zum politischen System der DDR, die sich insbesondere auf deren idealistischen Wertekanon, aber auch auf eine Art „Dankbarkeit“ bezüglich des staatlich realisierten Aufstiegs beziehen.

4.3 Ergebnis: Deutungsmuster der Aufbau-Intelligenz Der kontrastierende Vergleich lässt zahlreiche Ähnlichkeiten in den Gegenwartsperspektiven, den lebensgeschichtlichen Deutungsmustern und den politischen Reflexionen hervortreten, die auf die Möglichkeit einer Generationseinheit der Aufbau-Intelligenz verweisen. Diese Gemeinsamkeiten sollen an dieser Stelle kurz zusammengefasst werden. Die Gegenwartsperspektive zeichnet sich bei den Biografinnen der Aufbau-Intelligenz durch die Betonung ihres erfolgreichen gesellschaftlichen Engagements aus. Obwohl sie zu dem gegenwärtigen bundesdeutschen System keine Beziehung mehr aufbauen konnten, die ihrer 75

Die kritischen Erfahrungen von Rosemarie Senkel, die 1961 Republikflüchtlinge zu schweren Strafen verurteilte, von Uschi Naß, die aufgrund eines persönlichen Fehltritts von ihrer Position als Schulrätin degradiert wurde, und von Brigitte Bräutigam, deren Sohn die DDR verließ, wurden in den Einzelfallanalysen dargestellt.

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engen Bindung an die DDR gleicht, erscheint eine aktive und mitgestaltende Integration in die Gesellschaft als eine entscheidende Orientierung dieser Generationseinheit. Das Muster der Gesellschafts- und Erfolgsorientierung findet sich deutlich in den Erzählungen des eigenen Lebens wieder: Die Biografinnen verweisen zunächst auf die Bedeutung der selbst- und fremderlebten Leidenserfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend. Mit dem Aufbau des Sozialismus verbinden sie eine Revision dieser negativen Erfahrungen – sei es durch den ideologischen Anspruch der Realisierung eines besseren Gesellschaftssystems mit einer hohen Wertschätzung von Antifaschismus und Solidarität oder durch die mehr instrumentelle Erfahrung eines gesellschaftlichen Aufstiegs, der durch das sozialistische System gefördert wurde. Für die drei Biografinnen spielen diese Erfahrungen in unterschiedlichem Maße eine Rolle, führen aber bei allen zu einer relativ engen Bindung an die DDR und den Sozialismus und zu der Verpflichtung, für dessen erfolgreichen Aufbau mitverantwortlich zu sein. Diese Bindung wird besonders signifikant in den Erzählungen über die Berufskarrieren, auf deren Delegitimation durch den Systemwechsel die Biografinnen antworten, indem sie nicht nur ihre eigenen Tätigkeiten, sondern auch das jeweilige berufliche System in der DDR insgesamt rehabilitieren. Die Reflexionen der Aufbau-Intelligenz über die DDR und den Sozialismus verdeutlichen, dass aufgrund einer emotionalen Verbundenheit mit dem Staatssozialismus in der DDR eine Infragestellung von dessen Werten nicht in Erwägung gezogen wird. In Anlehnung an Dorothee Wierling, die die Gruppe der 1949 in der DDR Geborenen als eine Generation mit „Glücksauftrag“ (Wierling 2002: 558) bezeichnet, könnte man stark zugespitzt von der Generationseinheit der Aufbau-Intelligenz als einer „Generation mit Erfolgsauftrag“ sprechen, deren Leben der Einlösung von Verpflichtungen gegenüber den Erwartungen der Elterngeneration und des Staates gilt – ein Ziel, dessen Verwirklichung sie mit ihren erfolgreichen Karrieren in der DDR realisieren konnten, das aber durch den Systemwechsel wieder infrage gestellt wurde. Doch für alle drei Biografinnen gilt der von Uschi Naß zitierte Ausspruch: „Ich häng’ mein Leben nicht in den Wind, ich hab’ nur eins“ – Rosemarie Senkel, Uschi Naß und Brigitte Bräutigam widersetzen sich einer umfassenden rückblickenden Infragestellung ihres Lebens und stellen biografische Kontinuität und biografischen Sinn in Form der Erzählung eines erfolgreichen Lebens her. Die Feststellung gemeinsamer Erfahrungs- und Deutungsmuster, die grob auf die Jahrgänge von 1930 bis 1940 zutreffen, erlauben allerdings nicht die Stiftung einer Generation im emphatischen Sinne. Schließlich bezeichnen sich die Angehörigen der Aufbau-Intelligenz selbst an keiner Stelle als Zugehörige einer Generation, so dass es sich eher um eine Generationseinheit „an sich“ als „für sich“ handelt. 66

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die vorliegende Arbeit setzte sich mit der Frage auseinander, wie weibliche Angehörige der ostdeutschen Aufbau-Intelligenz in ihren erzählten Lebensgeschichten mit dem biografischen Kontinuitätsbruch des Systemwechsels umgehen. Diese Frage machte es erforderlich, sich zunächst den theoretischen Konzepten der Biografie und der Generation zu nähern. Es wurde dargelegt, dass erzählte Lebensgeschichten als „soziale Konstruktionen“ die Funktion erfüllen, ein aktuelles Selbstbild des Biografen herzustellen, das auch im Zeitverlauf Konsistenz und Kontinuität aufweist und der Orientierung in der Sozialwelt dient. Bei der Herstellung eines solchen sozial geprägten Selbstbildes bedarf der Biograf der Verankerung in kollektiven Erfahrungsbezügen, die beispielsweise durch die Einbettung in eine Generation gegeben sein können. Deshalb galt es anschließend das vielschichtige Konzept der Generation für die hier zugrunde liegende Fragestellung anwendbar zu machen. In Anbindung an Karl Mannheim (1970) und v.a. Heinz Bude (2000a) erschien eine Definition der Generation als „Erfahrungsund Erinnerungsgemeinschaft“ sinnvoll, denn eine derartige Auffassung des Gegenstandes integriert sowohl die ähnliche Erfahrungsaufschichtung als auch eine sich gleichende retrospektive Deutung des Erlebten bei den Angehörigen einer Generation. Anschließend mussten diese theoretischen Grundannahmen für die Interpretation von Lebensgeschichten einer ostdeutschen Generationseinheit anwendbar gemacht werden. Dazu habe ich zunächst das individuelle Erleben der Systemtransformation als lebensgeschichtliche Diskontinuitätserfahrung der Ostdeutschen definiert, um im Anschluss an die systematischen Überlegungen zum Generationskonzept die Möglichkeit zu belegen, dass die lebensgeschichtliche Diskontinuitätserfahrung des Systemwechsels in biografischen Erzählungen generationsspezifisch unterschiedlich „bearbeitet“ wird. Es galt nun ein ostdeutsches Generationsmodell heranzuziehen, das der zugrundeliegenden Fragestellung entspricht. Ich bezog mich insbesondere auf Hartmut Zwahr (1994) und Bernd Lindner (2003), die bei ihrer Einteilung die generationsspezifisch unterschiedliche DDR-Bindung und die Dauer der beruflichen Tätigkeit in der DDR in den Mittelpunkt stellen. Da Transparenz zu den Gütekriterien qualitativer Sozialforschung zählt, stellte ich den Interpretationen eine recht ausführliche Darstellung des methodischen Vorgehens voran. Der Hauptteil der Arbeit war der Analyse von drei erzählten Lebensgeschichten weiblicher Angehöriger der ostdeutschen Aufbau-Intelligenz gewidmet. Als Ergebnis der Einzelfallanalysen konnte ich zunächst Unterschiede hinsichtlich der lebensgeschichtlichen Verarbeitung des Systemwechsels und der retrospektiven Deutung des eigenen Lebens und der eigenen Karriere in einer systemnahen Position in einem heute delegitimierten System nachweisen. Während 67

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

die ehemalige Richterin Rosemarie Senkel nach dem Systemwechsel weiterhin an ihrem sozialistischen Weltbild festhält, wobei auch persönliche Enttäuschungen im Zuge des Transformationsprozesses hinter ihrem andauernden Engagement für den Sozialismus zurücktreten, findet die frühere Schulrätin Uschi Naß in ihrem kulturellen und – in durchaus ambivalenter Hinsicht – politischen Kapital ihrer bildungsbürgerlichen Herkunftsfamilie ein sinnvolles lebensgeschichtliches Deutungsmuster. Brigitte Bräutigam, die bis zum Systemwechsel als Schulleiterin tätig war, zieht ihr individuelles Erfolgsdenken, das eng mit ihrem sozialen Engagement verknüpft ist, als lebensgeschichtliches Deutungsmuster heran. Untersucht im Hinblick auf die jeweilige Gegenwartsperspektive, die lebensgeschichtliche Deutung mit einem besonderen Augenmerk auf die Kontinuitäts- und Konsistenzherstellung und die retrospektiven Argumentationen ließen sich also deutliche Unterschiede erkennen. Trotz zahlreicher Differenzen in den Lebensdeutungen und Argumentationen machte die Kontrastierung mit einer weiteren Generationseinheit, der Intelligenz der Integrierten Generation, deutlich, dass die lebensgeschichtlichen Deutungen durchaus generationsspezifische Ähnlichkeiten aufweisen, die möglicherweise auf die unterschiedliche Erfahrungsaufschichtung vor und nach dem Systemwechsel zurückführbar sind.76 So verwiesen die Angehörigen der Aufbau-Intelligenz in ihren lebensgeschichtlichen Deutungen in umfassender Weise auf selbst- und fremderlebte Leidenserfahrungen im Zusammenhang mit Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit und auf die Revision dieser negativen Erfahrungen durch die Realisierung eines sozialistischen Staates, mit dem sowohl ideologische als auch instrumentelle Erwartungen verknüpft waren. Diese Erfahrungen aus Kindheit und Jugend sowie der Ausbildungsphase führten bei allen drei Biografinnen zu einer recht engen und emotionalen Bindung an den Sozialismus und einen damit verbundenen Wertekanon, der sich insbesondere in den Reflexionen über die DDR und ihr Scheitern widerspiegelt. Die Generationseinheit der Aufbau-Intelligenz erschien als eine Generation mit „Erfolgsauftrag“, welchen sie im System der DDR realisieren konnte. Die daraus resultierende enge Bindung an die DDR wurde zwar durch die berufliche Delegitimierung im Zuge des Systemwechsels öffentlich infrage gestellt – dennoch stellten die Biografinnen in ihren Lebensgeschichten biografischen Sinn und Kontinuität durch die Erzählung eines sowohl in der Gegenwart im bundesdeutschen System als auch in der Vergangenheit in der DDR erfolgreichen Lebens her.

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Diese aus dem Vergleich von Lebensgeschichten von Angehörigen zweier Generationen gezogenen Schlüsse stimmen teilweise mit den Ergebnisse der ostdeutschen Generationenstudie von Albrecht Göschel (1999) überein, der signifikante Unterschiede mit einem sich auch in der DDR vollzogenen Wertewandel begründet.

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Diese Arbeit befasste sich mit der Frage nach individuellen Deutungen des eigenen Lebens und wies darauf aufbauend generationsspezifische Deutungsmuster nach. Implizit wurde jedoch deutlich, dass zahlreiche weitere strukturelle Unterschiede die erzählten Lebensgeschichten mitbestimmen. So ergab die Analyse der Einzelfälle, dass sich alle drei Biografinnen in ihrer lebensgeschichtlichen Konsistenz- und Kontinuitätsherstellung auf Werte und Orientierungen ihrer Herkunftsmilieus berufen – in der Gegenüberstellung in Kapitel 4.1.4 wurde dieser Aspekt bereits angedeutet.77 Der kontrastierende Vergleich mit den später geborenen Biografinnen unterstreicht die Bedeutung dieses Strukturmerkmals als wesentlichen Faktor für unterschiedliche Erfahrungsaufschichtungen und Lebensdeutungen. So verspräche beispielsweise eine nähere Untersuchung der Gemeinsamkeiten der beiden aus einem bildungsbürgerlichen Milieu stammenden Biografinnen Uschi Naß und Karin Klotz hinsichtlich ihrer Deutungsmuster interessante Parallelen, obwohl beide Biografinnen einen wichtigen Teil ihres Lebens in der DDR mit ihrem Anspruch einer „klassenlosen Gesellschaft“ verbrachten. Und schließlich scheint mir auch die Beobachtung erwähnenswert, dass sich bei den Biografinnen beider Generationen Ähnlichkeiten nachweisen lassen, die sich möglicherweise durch die Geschlechtszugehörigkeit, aber auch durch eine Angleichung von Lebensläufen von Funktionärinnen in der „durchherrschten Gesellschaft“ (Kocka 1994: 547) der DDR begründen lassen. So spielt die Betonung des beruflichen Arbeitsplatzes in den Erzählungen der fünf Biografinnen eine bedeutsame Rolle, es fallen aber auch die grundsätzlich vorhandene Anpassungsbereitschaft an die staatlichen und politischen Vorgaben und die zwar unterschiedlich begründete, aber dennoch ausgeprägte retrospektive Bindung aller Biografinnen an die DDR auf. Resümierend halte ich fest, dass die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit durchaus die Möglichkeit eines generationsspezifischen Zusammenhangs belegen, wenn es um die Frage der biografischen Verarbeitung eines gesellschaftlichen Bruchs geht. Dieses Fazit und die daran anschließenden Schlussfolgerungen hinsichtlich weiterer struktureller Merkmale, die lebensgeschichtliche Deutungen bestimmen, bieten Anregungen für eine umfassendere Beschäftigung mit der Frage des biografischen Umgangs mit der lebensgeschichtlichen Diskontinuitätserfahrung der Systemtransformation nach 1990.

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Die Herkunftsmilieus der drei Biografinnen finden sich auch in Dieter Geulens Analyse zur politischen Sozialisation in der DDR wieder. Er unterscheidet u.a. den Typ „bürgerliche Kontinuität“, den Typ „materielle Not und Neuanfang“ sowie den Typ „linksorientierte Eltern“ (vgl. Geulen 1998: 35ff.).

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Literaturverzeichnis

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Anhang 1 bis 7

Anhang 1 bis 7 Aufgrund ihres Umfangs befinden sich die Anhänge auf der beiliegenden CD-ROM. Anhang 1: Transkript des Interviews mit Rosemarie Senkel Anhang 2: Transkript des Interviews mit Uschi Naß Anhang 3: Transkript des Interviews mit Brigitte Bräutigam Anhang 4: Transkript des Interviews mit Karin Klotz Anhang 5: Transkript des Interviews mit Nadja Glauber Anhang 6: Tabellarischer Überblick des Lebenslaufs von Rosemarie Senkel Anhang 7: Sequenzierung der Eingangserzählung von Rosemarie Senkel

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Erklärung

Hannah Kabel Matrikelnummer 8733234

Erklärung

bezüglich meiner Magisterarbeit mit dem Thema:

„Ich häng’ mein Leben nicht in den Wind, ich hab’ nur eins“ – Lebensgeschichtliche Deutungsmuster der weiblichen Aufbau-Intelligenz in Ostdeutschland

Ich bin damit einverstanden, dass meine Magisterarbeit in der Bibliothek öffentlich eingesehen werden kann. Die Urheberrechte müssen gewahrt bleiben. Die Arbeit enthält keine personenbezogenen Daten.

Datum

Unterschrift

Hiermit versichere ich, dass ich die Arbeit in allen Teilen selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.

Datum

Unterschrift 78