1. Die Altersgrenze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit

Behandlung Jugendlicher in Polen Barbara Stando-Kawecka 1. Die Altersgrenze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Gemäß Art. 10 § 1 des StGB von 199...
Author: Jörn Beltz
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Behandlung Jugendlicher in Polen Barbara Stando-Kawecka 1. Die Altersgrenze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Gemäß Art. 10 § 1 des StGB von 1997 ist ein Täter nach den im StGB bestimmten Grundsätzen des Erwachsenenstrafrechts verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tatbegehung das 17. Lebensjahr vollendet hat. Die Vollendung des 17. Lebensjahres zur Zeit der Tatbegehung stellt seit dem StGB von 1932 die Untergrenze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit dar. Das StGB von 1969 führte aber Vorschriften ein, die eine flexible Bestimmung dieser Altersgrenze bezweckten. Gemäß Art. 9 § 2 des StGB von 1969 konnte ein jugendlicher Täter, der nach Vollendung des 16. Lebensjahres eine schwere Straftat begangen hatte, ausnahmsweise wie ein Erwachsener zur Verantwortung gezogen werden, wenn die Tatumstände, die Persönlichkeit des Jugendlichen und insbesondere die Erfolglosigkeit der bislang angewandten Erziehungs- und Besserungsmassnahmen hierfür sprachen. In den neunziger Jahren wurde in Polen die Frage der eventuellen Senkung der Untergrenze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit während der Arbeiten an einem neuen Strafgesetzbuch intensiv diskutiert. Der Gesetzgeber behielt letztendlich die bislang geltende grundlegende Altersgrenze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei, senkte allerdings die Altersgrenze von 16 auf 15 Jahre, nach deren Erreichung der jugendliche Täter in Ausnahmefällen nach den im StGB bestimmten Grundsätzen des Erwachsenenstrafrechts verantwortlich sein kann. Gemäß Art. 10 § 2 des geltenden StGB von 1997 kann ein Jugendlicher, der nach Vollendung des 15. Lebensjahres eine oder mehrere der in dieser Vorschrift limitativ genannten strafbaren Handlungen begangen hat, nach dem im StGB bestimmten Erwachsenenstrafrecht verantwortlich sein, wenn dies die Tatumstände, der Entwicklungsgrad des Täters, seine Eigenschaften und persönlichen Bedingungen und insbesondere die Erfolglosigkeit früher angeordneter Erziehungs- bzw.

Besserungsmassnahmen rechtfertigen. Das gemeinsame Merkmal der in Art. 10 § 2 StGB von 1997 genannten Delikte ist, dass es Vorsatztaten sind, für welche die Gewaltanwendung oder Herbeiführung der Gefährdung der Allgemeinheit kennzeichnend sind. Gleichzeitig wurde in Art. 10 § 3 des StGB von 1997 die dem vorherigen StGB unbekannte Herabsetzung des Strafrahmens auf zwei Drittel des gesetzlich vorgesehenen Höchstmaßes gegenüber einem Jugendlichen eingeführt, der ausnahmsweise nach dem Erwachsenenstrafrecht verantwortlich ist. Der Herabsetzung der Strafrahmenobergrenze lag die Überzeugung zugrunde, im Falle der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Jugendlicher sei die Schuld immer durch die mangelnde Reife des Täters vermindert. In der Praxis wird von der Möglichkeit, einen Jugendlichen nach dem Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen, nur selten Gebrauch gemacht. Die Zahl der Jugendlichen, die sich aufgrund des Art. 10 § 2 StGB von 1997 wie Erwachsene zu verantworten hatten und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, betrug im Jahre 1999 acht und vier im Jahre 2000 (Statistisches Jahrbuch 2002, Tabelle 19/93). Es soll bemerkt werden, dass das polnische Strafrecht eigentlich keinen besonderen Status der Heranwachsenden vorsieht. Laut Art. 115 § 10 des StGB von 1997 ist der Täter ein „junger Erwachsener“ (mlodociany), wenn er zur Zeit der Tatbegehung nicht das 21. und zur Zeit der Verurteilung in der ersten Instanz nicht das 24. Lebensjahr vollendet hat. Gegenüber jungen Erwachsenen werden die allgemeinen Vorschriften des StGB mit wenigen Besonderheiten angewandt. Gemäß Art. 10 § 4 des StGB wendet das Gericht gegenüber einem Täter, der nach der Vollendung des 17. und vor Vollendung des 18. Lebensjahres ein Vergehen begangen hat, anstelle der Strafe Erziehungs- oder Besserungsmassnahmen an, wenn die Anordnung solcher Maßnahmen durch die Tatumstände, den Entwicklungsgrad des Täters und seine persönlichen Umstände gerechtfertig ist. Die gegenwärtigen statistischen Daten zeigen jedoch, dass diese Vorschrift in der Praxis keine Rolle spielt; in den Jahren 1999-2000 wurden nämlich keine Erziehungs- oder Besserungsmassnahmen gegenüber den 17-jährigen jungen Erwachsenen angewandt (Statistisches Jahrbuch 2002, Tabelle 28/102),

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2. Die Grundsätze des polnischen Jugendrechts Wie bereits oben erwähnt wurde, kann ein jugendlicher Täter nur ausnahmsweise nach dem Erwachsenenstrafrecht zur Verantwortung gezogen werden. In der Regel werden gegenüber Jugendlichen die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Jugendsachen ( JVG ) von 1982 angewandt.1 Dieses Gesetz, das die materiellrechtlichen sowie die Prozess- und Vollzugsvorschriften umfasst, fällt weder in den Bereich des Strafrechts, noch in denjenigen des Familienrechts, sondern bildet ein besonderes Jugendrecht (Gaberle 2002, S. 303). Das polnische Jugendrecht beruht auf dem Wohlfahrtsmodell. Die Merkmale des Wohlfahrtmodells treten besonders sichtbar hervor, wenn es um die Grundlage für die Eröffnung des Verfahrens gegenüber Jugendlichen, um das für Jugendsachen zuständige Gericht und den Katalog der gegenüber Jugendlichen anzuwendenden Sanktionen geht. Laut dem JVG bilden ! nicht nur die Begehung einer strafbaren Handlung, ! sondern auch die Symptome der Demoralisierung die Grundlage für die Eröffnung des Jugenstrafverfahrens. Im Verfahren wegen strafbarer Handlungen handelt es sich um einen Jugendlichen, der nach Vollendung des 13. und vor Vollendung des 17. Lebensjahres eine Tat beging, die als Straftat, Finanzdelikt oder im JVG genannte Übertretung verboten ist. Es sei hervorgehoben, dass Jugendliche keine Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuches begehen, da ihnen keine Schuld zugerechnet werden kann, sondern lediglich „strafbare Handlungen“ (Stando-Kawecka und Dünkel 1999, S. 410). 1

Seit Inkrafttreten des JVG wurden viele Änderungsgesetze zu diesem Gesetz verabschiedet. Das neueste Änderungsgesetz vom 15. September 2000 trat am 29. Januar 2001 in Kraft. Die Änderungsgesetze zum JVG haben keine neuen fundamentalen Grundsätze des Verfahrensmodells in Sachen Jugendlicher eingeführt; sie enthalten lediglich einige Ergänzungen, insbesondere wenn es um die Anwendung des unmittelbaren Zwangs in Erziehungs- und Besserungsanstalten und die Rechte der in solchen Anstalten untergebrachten Jugendlichen geht. Aufgrund des Änderungsgesetzes vom 15. September 2000 wurde die Mediation ins Verfahren in Sachen Jugendlicher expressis verbis eingeführt.

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Der Zweck der gerichtlichen Reaktion gegenüber Jugendlichen besteht somit nicht in der Sanktionierung für das, was sie getan haben, sondern in der Vorbeugung der Straftatenbegehung im Erwachsenenalter. Das ist die Ursache dafür, dass nach dem JVG das Verhalten des Jugendlichen auch dann die Grundlage für das gerichtliche Verfahren bildet, wenn es zwar keine strafbare Handlung, aber doch ein Symptom der Demoralisierung darstellt (Gaberle 2002, S. 304). Im JVG wird die “Demoralisierung” nicht definiert. In Art. 4 § 1 dieses Gesetzes wurden nur einige Umstände genannt, die auf die Demoralisierung des Jugendlichen schließen lassen, wie das Schuleschwänzen, Rauschmittel- bzw. Alkoholkonsum, Prostitution, Leben ohne festen Wohnsitz, Zugehörigkeit zu Jugendbanden und Verletzung der Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Begehung eines Straftatbestandes oder einer Übertretung durch ein Kind unter 13 Jahren kann lediglich als ein Anzeichen der Demoralisierung angesehen werden. Im Bereich der Demoralisierungsvorbeugung und bekämpfung ist ein Jugendlicher eine Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Das JVG sieht keine Mindestaltersgrenzen vor, mit der die Eröffnung des Verfahrens gegen ein Kind wegen Demoralisierung ausgeschlossen sein könnte. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wurden in Polen die ersten Jugendgerichte geschaffen. Seit Ende der siebziger Jahre fungieren in Polen sog. Familiengerichte, bei denen es sich um Spezialabteilungen bei allen Kreisgerichten handelt. Familiengerichte sind nicht nur für die Sachen Jugendlicher wegen Demoralisierung und strafbarer Handlungen zuständig, sondern auch für verschiedene Verfahren zivilrechtlicher Art, welche die Familienproblematik betreffen. Das Verfahren in Sachen Jugendlicher stützt sich weitestgehend auf die Bestimmungen der Zivilprozessordnung. Jedoch sind die Sachen wegen strafbarer Handlungen, bei denen die Voraussetzungen für die Unterbringung des Jugendlichen in einer Besserungsanstalt vorliegen, im sog. Besserungsverfahren zu entscheiden, das sich grundsätzlich nach dem Strafprozessrecht richtet (Stando-Kawecka 1997, S. 424-425). Der Zuständigkeitsbereich des Familienrichters bzw. Familiengerichts umfasst alle Verfahrensetappen in Sachen Jugendlicher: das

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Aufklärungs2- Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren. Die Entscheidung des Familienrichters über die Eröffnung des Aufklärungsverfahrens stützt sich auf das Opportunitätsprinzip. Kommt er zur Einsicht, dass die Anordnung von Erziehungs- oder Besserungsmaßnahmen unzweckmäßig ist, sieht er von der Einleitung des Aufklärungsverfahrens ab. Aus demselben Grund kann das Familiengericht das bereits laufende Verfahren einstellen. Das für erwachsene Täter zuständige Strafgericht kann nur ausnahmsweise in Jugendsachen entscheiden, und zwar in den folgenden Fällen: ! der Jugendliche ist für die Begehung einer schweren Straftat nach Vollendung des 15. Lebensjahres aufgrund von Art. 10 § 2 StGB verantwortlich, ! der Jugendliche wirkte bei der Begehung einer strafbaren Handlung durch einen Erwachsenen mit und die Verbindung beider Verfahren erscheint erforderlich, ! gegen einen Jugendlichen, der eine strafbare Handlung begangen hat, wurde das Verfahren eröffnet, nachdem er das 18. Lebensjahr vollendet hat. Nach dem JVG werden in Jugendsachen grundsätzlich Erziehungsund Besserungsmaßnahmen angeordnet. Die im JVG vorgesehenen Erziehungsmaßnahmen können wie folgt eingeteilt werden: ! Maßnahmen, die keinen Wechsel des Erziehungsumfeldes nach sich ziehen: Ermahnung, die Entziehung der Fahrerlaubnis, der Verfall von Sachen, Aufsicht durch die Eltern, durch den Bewährungshelfer, eine Jugendorganisation oder eine Vertrauensperson, Auferlegung bestimmter Verhaltenspflichten wie z.B. Wiedergutmachung des zugefügten Schadens, Leistung gemeinnütziger Arbeit, Entschuldigung beim Geschädigten, Aufnahme der Berufsausbildung oder Berufstätigkeit, Teilnahme an erzieherischen oder therapeutischen Beschäftigungen, Meidung bestimmter Orte, Unterlassen des Rauschmittel- oder Alkoholkonsums, 2

Das sog. Aufklärungsverfahren entspricht dem Ermittlungsverfahren im Erwachsenenstrafverfahren, findet jedoch ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaftb statt.

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Maßnahmen, mit denen der Aufenthalt in einer durch das Gericht bestimmten Einrichtung während eines Teils des Tages verbunden ist, allerdings ohne dass der Jugendliche dabei seinen Wohnsitz wechseln muss: Einweisung in ein Bewährungshilfezentrum, in eine Sonderschule oder in eine psychologische Beratungsstelle, ! Maßnahmen, die den Wechsel des Erziehungsmilieus nach sich ziehen: Unterbringung in einer Pflegefamilie, in einem Schulerziehungszentrum für behinderte Jugendliche oder in einer Fürsorgeerziehungsstätte (in einem Kinderheim, Familienkinderheim3 oder einer Erziehungsanstalt). !

Die Unterbringung in einer Erziehungsanstalt, wie auch in einem Schulerziehungszentrum oder einem Kinderheim, sind stationäre Maßnahmen. In den Erziehungsanstalten werden nur sozial auffällige Jugendliche untergebracht, welche die sog. Demoralisierungsanzeichen aufweisen oder strafbare Handlungen begangen haben. Die Kinderheime und Schulerziehungszentren sind dagegen nicht nur für die sozialauffälligen Jugendlichen bestimmt, sondern auch für die Kinder, die keine erzieherischen Probleme bereiten, denen aber entsprechende elterliche Fürsorge fehlt. Diese stationären Maßnahmen werden für eine zeitlich unbestimmte Zeit angeordnet; ihr Vollzug endet spätestens mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. Neben den Erziehungsmaßnahmen sieht das JVG auch die sog. heilerzieherischen Maßnahmen vor, die Jugendlichen gegenüber verhängt werden können, bei denen geistige Entwicklungsstörungen, eine psychische Krankheit oder Rauschmittel- bzw. Alkoholkonsum festgestellt wurden. Zu den heilerzieherischen Maßnahmen gehört die Unterbringung des Jugendlichen: ! in einem psychiatrischen Krankenhaus, ! in einer anderen Heilanstalt, ! in einer Einrichtung der sozialen Fürsorge. Eine „andere Heilanstalt“ kann im Sinne des JVG eine Anstalt für Alkohol- oder Drogenabhängige sein. In einer Einrichtung der sozialen Fürsorge werden solche Jugendlichen untergebracht, die geistig schwer 3

In einem Familienkinderheim, das von einer Person oder einem Ehepaar geleitet wird, werden 4 bis 8 Kinder und/oder Jugendliche untergebracht.

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behindert sind. Diese Einrichtungen sind weniger auf die Ausbildung der Kinder gerichtet, als auf die Gewährung der notwendigen Fürsorge. Von diesen Möglichkeiten machen die Gerichte in der Praxis aber kaum Gebrauch. Als eine Besserungsmaßnahme ist die Unterbringung in einer Besserungsanstalt vorgesehen. Die Besserungsanstalt unterscheidet sich von den stationären Erziehungsmaßnahmen durch die Intensität der Kontrolle über den Jugendlichen und ein strengeres Erziehungsregime (Gaberle 2002, S. 306). Im Gegensatz zu den Fürsorgeerziehungsstätten, die durch die lokale Selbstverwaltung und private Organisationen eingerichtet und geführt werden, sind die Besserungsanstalten dem Justizministerium unterstellt. Die Unterbringung in einer Besserungsanstalt kann nur dann zur Anwendung gelangen, wenn der Jugendliche eine tatbestandsmäßige Straftat (nach dem StGB) oder ein Finanzdelikt nach der Vollendung des 13. Lebensjahres begangen hat. Diese Maßnahme wird auch für eine zeitlich unbestimmte Zeit angeordnet; ihr Vollzug endet spätestens mit der Vollendung des 21. Lebensjahres. Vor der Erreichung dieser Altersgrenze ist die bedingte vorzeitige Entlassung möglich. Die Vollstreckung der Unterbringung in einer Besserungsanstalt kann auch zur Bewährung ausgesetzt werden. 3. Jugendkriminalität in Polen Am Anfang der neunziger Jahre gab es in Polen einen erheblichen Anstieg der registrierten Kriminalität. Es ist aber schwer zu sagen, in welchem Umfang die verschiedenen Zahlen der registrierten Kriminalität die wirklichen Änderungen im Kriminalitätsniveau widerspiegeln und in welchem Umfang sie von einer geänderten Strafverfolgungspolitik verursacht wurden. Zweifellos hat sich im selben Zeitraum die Bereitschaft der Bürger, Straftaten bei der Polizei anzuzeigen, erheblich vergrößert (Blachut 1997, S. 46). Wenn es um die Jugendkriminalität geht, d.h. um die Straftaten, die von Jugendlichen nach der Vollendung des 13. aber vor der Vollendung des 17. Lebensjahres begangen wurden, sind die absoluten Zahlen dieser

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Straftaten von 60,525 im Jahre 1990 auf 82,551 im Jahre1995 gestiegen. Danach hat die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten Jugendlicher abgenommen und in den Jahren 2001/2002 hat sie sich auf dem Niveau von 65,000-70,000 Straftaten stabilisiert. Gleichzeitig ist der Anteil der Jugendkriminalität an der allgemeinen Kriminalität zurückgegangen; Mitte der neunziger Jahre betrug der Anteil der Jugendkriminalität 8,5 % aller registrierten Straftaten, in den Jahren 2001-2002 war er nur noch 4,5-5 %. Bemerkenswert ist dabei, dass der Anteil der schwersten Jugendstraftaten in den neunziger Jahren nach den polizeilichen Daten fast kontinuierlich gestiegen ist. Im Jahre 1990 machten Körperverletzungen 1,2 % aller Jugendstraftaten aus, im Jahre 2002 schon 4,5 % . Der Anteil der Beteiligung an einer Schlägerei nahm im selben Zeitraum von 0,3 % auf 2,7 % zu. Den relativ größten Anstieg kann man jedoch beim Raub und bei der Erpressung beobachten; 1990 machten Raub und Erpressung 2,4 % aller Jugendstraftaten aus, im Jahre 2000 war ihr Anteil auf 16,9 % angestiegen (Polizeiliche Kriminalstatistik, www.kgp.gov.pl). Die Zunahme der Gewaltdelikte Jugendlicher in den polizeilichen Statistiken ist wahrscheinlich nicht nur einer höheren Gewaltbereitschaft unter den jugendlichen Tätern, sondern auch einer veränderten Verfolgungspraxis gegenüber Jugendlichen zuzuschreiben. Leider gibt es in Polen keine ausführliche kriminologische Analyse in diesem Bereich. 4. Das Reaktionssystem in der Praxis Seit vielen Jahren geht es bei den meisten Jugendsachen vor den Familiengerichten um strafbare Handlungen; der Anteil der Fälle, denen Demoralisierungen zugrunde lagen, betrug während der letzten zehn Jahre etwa 16-20 %. Im Zeitraum 1993-1995 verzeichnete man einen starken Anstieg der Zahl der Verfahren gegen Jugendliche wegen Demoralisierung, aber auch aufgrund strafbarer Handlungen. Seit Mitte der neunziger Jahre ist eine Stabilisierung der Zahl der Verfahren gegen Jugendliche festzustellen. Das entspricht übrigens der Tendenz im Bereich der registrierten Jugendkriminalität.

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Wenn es um die Jugendlichen geht, die die Symptome der Demoralisierung aufweisen, können die Familiengerichte ihnen gegenüber nur Erziehungs – oder heilerzieherische Maßnahmen anwenden. Die gerichtlichen Reaktionsmöglichkeiten gegenüber Jugendlichen aufgrund strafbarer Handlungen umfassen Erziehungs – und heilerzieherische Maßnahmen, sowie auch Besserungsmaßnahmen und nur ausnahmsweise Strafen. Die Zahl der Jugendlichen, die aufgrund des StGB wie Erwachsene zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, betrug in den Jahren 1999-2000 acht beziehungsweise vier, die Freiheitsstrafe war also die absolute Ausnahme. Am häufigsten wurden gegenüber Jugendlichen, die strafbare Handlungen begangen hatten, „Erziehungsmaßnahmen“ angewandt. Die Struktur der wegen strafbarer Handlungen 1990, 1999 und 2000 angeordneten Erziehungsmaßnahmen ergibt sich aus dem Schaubild 1. Aus diesem Schaubild ist ersichtlich, dass die Struktur der verhängten Erziehungsmaßnahmen am Anfang und am Ende der neunziger Jahre fast unverändert geblieben ist. Die Aufsicht des Bewährungshelfers war die am häufigsten angewandte Erziehungsmaßnahme. In den letzten Jahren ist der Anteil der Jugendlichen, denen gegenüber lediglich eine Ermahnung ausgesprochen wurde, angestiegen. Die Familiengerichte verhängten häufig auch Erziehungsmaßnahmen, wie die Aufsicht durch die Eltern und die Auferlegung bestimmter Verhaltenspflichten. Die stationären Maßnahmen wurden im Verfahren bei strafbaren Handlungen relativ selten verhängt. Der Anteil der Besserungsmaßnahmen, d.h. der Unterbringung in einer Besserungsanstalt mit und ohne Bewährung, an allen wegen strafbarer Handlungen verhängten Maßnahmen betrug 10 % im Jahre 1990. Am Ende der neunziger Jahre machte jedoch die Unterbringung in einer Besserungsanstalt nur 5 % aller verhängten Maßnahmen aus. In den meisten Fällen ( jeweils ca. zwei Drittel der Unterbringungsanordnung ) wurde die Maßnahme der Besserungsanstalt zur Bewährung ausgesetzt. Aus diesen Daten ergibt sich, dass die Familiengerichte die Unterbringung in einer Besserungsanstalt immer mehr als Ultima ratio betrachten, obwohl die Zahl der jugendlichen Straftäter im beobachteten Zeitraum beträchtlich angestiegen ist.

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Schaubild 1: Die Struktur der Erziehungsmaßnahmen gegenüber Jugendlichen bei strafbaren Handlungen

Andere 30000

U nterbringung in einem anderen Fuersorgeerziehungsheim

25000

U nterbringung in einer Erziehungsanstalt 20000

Auferlegung bestim m ter Verhaltenspflichten 15000

Erm ahnung 10000

Aufsichtdurch die Eltern 5000

Aufsichtdurch den Bew aehrungshelfer 0 1990

1999

2000

Quelle: Rocznik Statystyczny Rzeczypospolitej Polskiej (Statistisches Jahrbuch der Republik Polen) 2002. Warszawa: Glowny Urzad Statystyczny, Tabelle 19(93).

5. Behandlung der Jugendlichen in Besserungsanstalten Wie schon erwähnt wurde, sind die Besserungsanstalten wie auch die Strafanstalten dem Justizministerium unterstellt. Laut der Verordnung des Justizministers aus dem Jahre 2001 (Gesetzblatt 124/2001, Pos. 1359) können die Besserungsanstalten in „übliche“ Resozialisierungsanstalten und Sonderanstalten eingeteilt werden. Die letzteren sind für die Jugendlichen bestimmt, die schwachsinnig, psychisch gestört, alkohol- und drogenabhängig oder HIV-positiv sind. Wenn es um die „üblichen“ Besserungsanstalten geht, können offene, halboffene, geschlossene und Anstalten mit besonders starker Erziehungsaufsicht es sein.

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Nach den Angaben des Justizministeriums gab es in Polen im März 2003 26 Besserungsanstalten, in denen 1,104 Jugendliche untergebracht waren. In derselben Zeit haben etwa 400 verurteilte Jugendliche auf die Unterbringung in einer Besserungsanstalt gewartet. Die meisten Besserungsanstalten (20) waren „übliche“ Resozialisierungsanstalten; außerdem gab es 4 Besserungsanstalten für schwachsinnige Jugendliche und 2 therapeutische Besserungsanstalten für Jugendliche mit psychischen Störungen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit oder HIV-Infektion. Die in den Besserungsanstalten untergebrachten Jugendlichen haben relativ viele Möglichkeiten an Schul- und Berufsausbildungen teilzunehmen. Im Schuljahr 2001/2002 gab es in 18 Besserungsanstalten Grundschulen. In jeder Besserungsanstalt konnten die Insassen ihre Ausbildung nach der Grundschule in einem sog. Gymnasium und in einer Berufsschule fortsetzen (Statistisches Jahrbuch 2002, Tabelle 23/97). Im Vergleich zu den Strafgefangenen, die ihre Freiheitsstrafe in den Strafanstalten verbüßen, ist die Lage der Jugendlichen in den Besserungsanstalten viel besser und zwar nicht nur im Bezug auf die Ausbildungsmöglichkeiten, sondern auch soweit es um die Lebensbedingungen und das Angebot therapeutischer, sportlicher und kultureller Veranstaltungen geht. Das ist die Ursache dafür, dass die durchschnittlichen Kosten pro Jugendlichem in der Besserungsanstalt etwa 66,000 PLN (15,000 €) pro Jahr betragen, während die entsprechenden Kosten pro Strafgefangenem (etwa 4,000 €) erheblich niedriger sind. Man kann natürlich über die Abschaffung der unbestimmten Aufenthaltsdauer, die Erweiterung des Angebots von Ausbildung – und Therapiemöglichkeiten und die bessere Unterstützung der aus den Besserungsanstalten entlassenen Jugendlichen diskutieren. Es soll jedoch bemerkt werden, dass die gegenwärtige Situation der Minderjährigen in den Untersuchungs- und Strafanstalten wegen großer Überbelegung und dem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten viel schlechter ist, als die Situation der Jugendlichen in den Besserungsanstalten und sie ist es, die in erster Linie geändert werden sollte.

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Unter den Minderjährigen in den Strafanstalten sind nur ausnahmsweise Jugendliche, d.h. Täter, die eine Straftat vor der Vollendung des 17. Lebensjahres begangen haben. Es gibt aber eine erhebliche Zahl junger Erwachsener, die ihre Straftaten nach der Vollendung des 17., aber vor der Vollendung des 18. Lebensjahres begangen haben und sich aufgrund der Vorschriften der StPO in Untersuchungshaft befinden oder nach dem StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Am Ende des Jahres 2001 gab es in den Untersuchungsanstalten nur 10 Jugendliche unter 17 Jahren und zwei verurteilte Jugendliche in den Strafanstalten. In derselben Zeit betrug jedoch die Zahl der 17-jährigen Gefangenen 1,764 in den Untersuchungs- und 651 in den Strafanstalten (Information über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Untersuchungshaft 2002, Tabelle 19).

Literatur Blachut J. 1997. Przestepczosc w Polsce w latach 1986-1995 w swietle danych statystyk policyjnych (Kriminalität in Polen in den Jahren 1986-1995 im Lichte der Daten von der Polizeistatistik). Panstwo i Prawo (Staat und Recht), H. 3, S. 43 – 52. Gaberle A. 2002. Polen. In: Albrecht H.-J., Kilchling M (Hrsg.). Jugendstrafrecht in Europa. Freiburg/Breisgau: Ed. Iuscrim, Max-PlanckInstitut für Ausländisches und Internationales Strafrecht, S. 303-316. Information über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Untersuchungshaft ( Informacja o wykonywaniu kary pozbawienia wolności i tymczasowego aresztowania). 2002. Warszawa: Ministerstwo Sprawiedliwości, Centralny Zarząd Służby Więziennej. Polizeiliche Kriminalstatistik (www.kgp.gov.pl ). Statistisches Jahrbuch der Republik Polen (Rocznik Statystyczny Rzeczypospolitej Polskiej). 2002. Warszawa: Glowny Urzad Statystyczny. Stando-Kawecka B. 1997. Polen. In: Dünkel F., van Kalmthout A. und Schüler-Springorum H. (Hrsg.). Entwicklungstendenzen und

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Reformstrategien im Jugendstrafrecht im europäischen Vergleich. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, S. 419-435. Stando-Kawecka B. und Dünkel F. 1999. Strafverantwortlichkeit Jugendlicher in Polen. DVJJ-Journal 4, S. 409-418.

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