05 ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (1)

Walter Schaupp GK-2 WS 04/05 ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (1) 1. DAS MENSCHLICHE LEBEN ALS FUNDAMENTALES GUT 1.1. Einfü...
Author: Samuel Frank
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Walter Schaupp

GK-2

WS 04/05

ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (1) 1. DAS MENSCHLICHE LEBEN ALS FUNDAMENTALES GUT 1.1. Einführung Begriff und Aktualität der modernen Biowissenschaften – Begriff der „Bioethik“ „Leben“ als neuer Schwerpunkt der lehramtlichen Verkündigung von Joh Paul II (Donum Vitae 1987; Evangelium Vitae 1995). 1.2. Was ist Leben? a. Phänomenale Eigenschaften: Mutabilität (Bewegg+Veränderung); Metabolismus (Stoffwechselaustausch; Reizbarkeit (Reaktion auf Außenreize); Reproduktion (Fortpflanzung) – ev. „inneres Erleben“ b. Leben als System: Leben als ein System, das fähig ist, aktiv und unter Verbrauch von Energie eine bestimmte Struktur aufrecht zu erhalten, die ein teleologisches/funktionales Ganzes darstellt. – Alle Lebewesen unterliegen einem Zeitablauf. c. Ursprung des Lebens: Aristoteles führt Leben auf das Wirken einer Seele als Formprinzip des Körpers zurück (Unterscheidung von pflanzlicher, tierischer und menschlicher Seele). – Die Bibel führt Leben auf den lebensspendenden Atem Gottes (nefes) zurück – die moderne Evolutionstheorie sieht Leben als ein Zufallsprodukt der Evolution an; als hochkomplex organisierte Materie. c. Menschliches Leben: Menschliches L steht zugleich in Kontinuität wie in Differenz zum vormenschlichen Leben (vgl. die Bedeutung der „anthropologischen Differenz“) – die Neuzeit neigte dazu, in vor- und außermenschlichem Leben nur „Sache“ (komplex organisierte Materie) zu sehen (Descartes, Kant). Beschreibungen des spezifisch Menschlichen: „Geistseele“ – „Personsein“ – „Subjektvität“ – Eigenschaft der „Würde“ (v.a. Kant) – konkret geht es um reflexes Selbstbewusstsein, Sprachfähigkeit, Vernunftfähigkeit, sittl. Subjektivität (Gewissensfähigkeit). 1.3. Leben in der Bibel a. Leben als unverfügbare Gabe Gottes Æ Leben ist ein intrinsisches Gut!! b. Herausragende Stellung des Menschen als Abbild und Ebenbild Gottes c. Leben als Relationsbegriff (wahres Leben gibt es nur in der Gemeinschaft mit Gott) d. Ganzheitlicher Lebensbegriff (im Geg. zum griechischen Dualismus) e. Eschatologischer Lebensbegriff v.a. im NT (Fülle des Lebens erst in der Gemeinschaft mit Gott) 1.4. Der Schutz des Lebens / Das Tötungsverbot in Bibel und Tradition 1.4.1. Bibel: Das Tötungsverbot in Gen 9,5c (Noach-Bund) u. das 5. Gebot des Dekalogs (Ex 20,13; Dtn 5,17) – Die Ausnahmen vom AT-Tötungsverbot (Krieg, Todesstrafe, Tötung von Tieren) – die prophetische Friedensvision – das jesuanische Ethos (Aufforderung zu Gewaltverzicht und Feindesliebe) 1.4.2. Das Tötungsverbot in der moraltheologischen Tradition: Grundformel = „Die direkte Tötung unschuldigen Lebens ist immer verboten“ Æ Ausnahmen: Notwehr – Verteidigungskrieg – Todesstrafe – polizeiliche Gewalt – Notwehr gegen ein Unrechtsregime. 1.4.3. Die klassische Begründung: Gott allein hat das alleinige Herrschafts- und Verfügungsrecht über das Leben – der Mensch besitzt als Verwalter nur ein Nutzungsrecht, nicht ein absolutes Verfügungsrecht. – Selbsttötung verstößt außerdem gegen die gebotene Selbstliebe. – Im Fall der Todesstrafe ist die gesellschaftliche Autorität in besonderer Weise von Gott dazu ermächtigt. – Außerdem verwirkt der Verbrecher durch sein Tun sein Recht auf Leben. 1.5. Das Grundrecht auf Leben auf dem Hintergrund der menschlichen Würde Problematik der traditionellen Begründung (Gott hat den Menschen zugleich frei erschaffen!!) Der heutige Ausgangspunkt ist die Idee der menschlichen Personwürde Æ Würde als Selbstzwecklichkeit des Menschen (Kant), die in der Fähigkeit des Menschen zu sittlicher Subjektivität gründet. Schreiben wir einem Lebewesen so etwas wie Würde zu, so hat dies bestimmte ethische Implikationen: a) Verbot der Verzweckung (Instrumentalisierungsverbot) – b) fundamentale Gleichheit aller Menschen aufgrund ihrer Würde – c) Recht auf Leben = das menschliche Leben ist unantastbar: Grund für diesen Zusammenhang von menschlicher Würde und Lebensrecht ist, dass das physische Leben erstens die erste und fundamentalste Voraussetzung (Möglichkeitsbedingung) für den subjektiven Selbstvollzug der Person ist; physisches Leben gehört damit zu den „Anfangsbedingungen von Menschsein“ (Otfried Höffe) Zweitens existiert die Person immer nur im Medium ihrer Leiblichkeit; im Körper des anderen „berühre“ ich immer die Person des anderen. Æ Physisches Leben ist nicht das höchste, jedoch das fundamentalste Gut – es kann um anderer, höherer Güter (personaler Güter) willen geopfert werden (Sterben für einen Freund; Martyrium usw.); es darf jedoch niemandem gegen seinen Willen genommen werden! Die menschliche Personwürde und die daraus erfließenden Rechte bilden die unverzichtbare ethische Basis jeder demokratischen Rechtsordnung! 1.6. Wem kommt Personwürde und Lebensrecht zu? Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Moraltheologie und Dogmatik Parkstraße 1/I, 8010 Graz Tel: 0316-380-6120 e-mail: [email protected] Copyright © W. Schaupp 2004

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ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (2) 2. DIE FRAGE NACH DME MORALISCHEN STATUS DES MENSCHLICHEN EMBRYOS 2.1. Die neuere Diskussion um den Beginn menschlichen Lebens Ethische Fragen um den Beginn menschlichen Lebens: Abtreibung – Status des Embryo – Klonen – Stammzellforschung – Eingriffe in die Keimbahn – Präimplantationsdiagnostik. Zum Problem des Schwangerschaftsabbruchs: Anerkennung eines existenziellen Konflikts – Rückzug des Strafrechts – keine unmittelbare Aussage über den Status des vorgeburtlichen Lebens!! Die neue Diskussion um den frühen Embryo: Im Gegensatz zur Abtreibungsdiskussion geht es a) um den frühen Embryo und b) um ein objektives Urteil über dessen Status / bzw. dessen allgemeine Freigabe für die wiss. Forschung. 2.2. Historische Aspekte Im Anschluss an Aristoteles: Homunculus-Theorie; Theorie der Sukzessivbeseelung 1827 Entdeckung der Eizelle (Ernst Baer)– Abkehr von der Sukzessivbeseelungstheorie 1953 Entdeckung der Entstehung und der Funktion des Genoms (Watson und Crick) 2.3. Eine Skizze der embryonalen Frühentwicklung Reifeteilung – Befruchtung – Polkörperchen – Morulastadium und Blastozystenstadium – Totipotenz und Pluripotenz der Embryonalzellen – Implantation (Einnistung) in die Gebärmutter – Ausbildung des Primitivstreifens – Problematik der Zwillingsbildung – Auftreten des Zentralen Nervensystems. 2.4. Die Position eines gestuften Lebensschutzes Idee eines schrittweise / stufenweise wachsenden Rechtes auf Leben / Schutzwürdigkeit Æ Differenzierung zw. biolog.-menschl. Leben (human life) und personal-menschl. Leben (human being). •

Verweis auf die bisherige Geschichte (z. B. römisches Recht) und auf die allgemeine Intuition (spontan halten wir geborenes/erwachsenes Leben als wertvoller)



Verweis auf verschiedene biologische Entwicklungsschritte, die es rechtfertigen, auf anthropologischer Ebene den personalen Status beginnen zu lassen.

• Verweis auf den Wertungswiderspruch zwischen Embryonenschutz und Abtreibungsgesetzgebung Die Position von Peter Singer: Nicht alle menschliche Wesen sind Personen – ein genuines/primäres Lebensrecht haben nur Wesen, die ein Wissen um die eigene Zukunft besitzen / Überlebensinteressen haben. – Die entsprechenden „Leistungen“ müssen empirisch feststellbar sein. – Vorwurf des Gattungsegoismus an die herkömmliche Lebensethik. 2.5. Das Anliegen eines umfassenden Lebensschutzes Kritik an Peter Singer Auflösung des klassischen Personverständnisses – Aufhebung der Idee einer fundamentalen Gleichheit zwischen den Menschen – Neue Diskriminierungen – Die Theorie führt in ethische Aporien (Umgang mit Bewusstlosen, Schlafenden, Neugeborenen usw.) Die Problematik eines gestuften Lebensschutzes •

Unteilbarkeit von Personalität und Würde (keine „Stufungen“ denkbar)



Es gibt keine alle anderen Entwicklungsschritte überragende Zäsur in der Embryonalentwicklung / jede Festlegung ist hier letztlich willkürlich und stellt eine Form von Definition des Menschen dar.

• Bei der Abtreibungsgesetzgebung geht es um individuelle Konfliktsituationen Ungeteiltes Menschsein und umfassender Schutz des Lebens •

Die christliche Motivation: Geschenkhaftigkeit des Lebens; Option für das schwache und ausgegrenzte Leben; Festhalten an der Einheit der Person



Potentialitätsargument, Kontinuitäts- u. Identitätsargument



Die Einheit des Lebens als biologisches System und als Person

• Unschärfen am Beginn und das tutioristische Argument 2.6. Zum praktischen Engagement der Kirche für das Leben Das Engagement muss kompromisslos gewaltlos sein – Der Einsatz für die Rechte des ungeborenen Lebens darf nicht andere Formen von Gewalt und Tötung ignorieren oder herunterspielen – Für die subjektive Beurteilung sind tatsächlich Aspekte wie Entwicklungsstand, subj. Einsicht usw. ausschlaggebend – In der konkreten gesellschaftlichen Umsetzung kann das Prinzip des minus malum angewandt werden.

Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Moraltheologie und Dogmatik Parkstraße 1/I, 8010 Graz Tel: 0316-380-6120 e-mail: [email protected] Copyright © W. Schaupp 2004

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ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (3) 3. ETHISCHE PROBLEME IM UMFELD DER MODERNEN REPRODUKTIONSMEDIZIN 3.1. Die klassische künstliche Befruchtung (IVF) 3.1.1. Medizinische Verfahren Klassische IVF (seit 1978) – ICSI (=intracytoplasmatische Spermieninjektion) – Homologe und heterologe IVF Hintergrund ist u. a. eine Zunahme von Fruchtbarkeitsproblemen in den westlichen Gesellschaften und ein immer höheres Alter der Frauen beim ersten Kind (ab dem ca. 35. LJ nimmt die Fruchtbarkeit der Frau rapide ab!) 3.1.2. Probleme der Methode •

Geringe Erfolgsquote (17-23% bei klass. Verfahren) angesichts hoher Belastung für die Frau (z.B. ovarielle Überstimulation) • Hohe psychische Belastung bei mehreren erfolglosen Zyklen • Menschliches Leben wird an seinem Beginn für den wissenschaftlichen Zugriff verfügbar (Æ Stautsfrage) • Problem der überzähligen Embryonen (Kryokonservierung – Absterbenlassen? – an Forschung weitergeben?) • Problem der Mehrlingsschwangerschaften mit anschließendem selektiven Fetozid • Problem der Samen- und Eizellspende / Leihmutterschaft Æ mögliche dreifache Aufspaltung der Mutterschaft (genetisch, biologisch, sozial) • Richtige Indikationsstellung (cave technische Antwort auf psychosomatische Probleme) • Stellt die moderne RM überhaupt die richtige Antwort auf das Problem zunehmender Kinderlosigkeit dar? • Dienen sie dem wahren Wohl der Frau (oder: neue Unterwerfung der Frau unter männlich dominierte Technik?) • IVF als Einfallstor für eine Fülle von Anschlusstechnologien, die tlw. Ethisch hoch problematisch sind (PID; Stammzellforschung usw.) Dagegen konnte der Verdacht, dass IVF zu kindlicher Schädigung führt, i. W. nicht bestätigt werden! 3.1.3. Das Dokument Donum Vitae (1987) Aussagen: 1) Schutz des Embryos von Beginn an - 2) Zurückweisung der IVF – 3) jedoch geringere ethische Negativität der homologen gegenüber der heterologen IVF – 4) einige „offenere“ Aussagen (z.B.: schädlich ist nur der „unkontrollierte“ Rückgriff auf IVF … Nachfolgender Konsens der Moraltheologie: Einige der Argumente des Dokuments überzeugen nicht wirklich - Die heterologe Befruchtung sprengt die Einheit der Ehe und ist vor allem im Interesse des Kindes nicht zulässig – Die homologe Befruchtung ist unter bestimmten Bedingungen (s. u.) ethische vertretbar. 3.1.4. Abschließende ethische Bewertung Ungewollte Kinderlosigkeit stellt tatsächlich in vielen Fällen ein schweres Leid dar! – Es gibt viele Fälle, wo Eltern ihr mittels IVF empfangendes Kind subjektiv trotzdem als „Geschenk“ auffassen! Auch ein über IVF gezeugtes Kind bleibt bei einer homologen Befruchtung in einen personalen Beziehungsraum eingebettet – die Technik muss hier allerdings von einer personalen Haltung und von Ehrfurcht gegenüber dem beginnenden Leben getragen und durchformt werden. Eine Technik, die sich verselbständigt, verstößt in diesem Bereich tatsächlich gegen die Würde des Menschen. Die meisten der oben genannten Probleme lassen sich umgehen, wenn man nur wirklich will: •

IVF muss in den Raum einer gelebten, stabilen Partnerschaft eingebettet sein.



Erfordernis einer sorgfältigen und aufrichtigen Aufklärung, die eine wahrhaft autonome Entscheidung vor allem der Frau ermöglicht



Es dürfen höchstens zwei Embryonen übertragen werden, um eine Mehrlingsbildung mit anschließendem selektiven Fetozid auszuschließen.



Das Entstehen von überzähligen Embryonen sollte mit allen Mitteln minimiert werden



Im IVF-Institut muss ein Klima des Respekts und der Achtung vor menschlichen Embryonen herrschen.

• Transparenz bezüglich der angewendeten Techniken! 3.2. Stammzellforschung Was sind Stammzellen? - Begriffe „Totipotenz“ und „Pluripotenz“ Arten von Stammzellen: a) Embryonale SZ [aus überzähligen Embryonen; aus Embryonen-Splitting; aus Klonen nach Dolly-Methode] – b) Fetale SZ – c) Adulte SZ [dazu gehören auch die SZ aus dem Nabelschnurblut Neugeborener] Die therapeutischen Ziele der Stammzellforschung: Probleme der Stammzellforschung/ -therapie: Forschung steckt noch in Anfängen – Problem der Abwehrreaktion bei fremden Stammzellen – Problem einer möglichen Tumorbildung. Ethische Bewertung: SZ-Forschung als solche unproblematisch – ethisch problematisch ist die Gewinnung der Embr.SZ durch Zerstörung von Embryonen Æ Forschung an adulten SZ muss mit allen Mitteln gefördert werden. Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Moraltheologie und Dogmatik Parkstraße 1/I, 8010 Graz Tel: 0316-380-6120 e-mail: [email protected] Copyright © W. Schaupp 2004

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ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (4) ETHISCHE PROBLEME IM UMFELD DER MODERNEN REPRODUKTIONSMEDIZIN 3.3. Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik 3.3.1. Die Pränataldiagnostik 3.3.1.1. Methoden und Möglichkeiten Unterscheidung von nicht-invasiven und invasiven Verfahren. – Einzelne Verfahren: Ultraschalluntersuchung (Sonographie) – Triple-Test – Fruchtwasseruntersuchung - Chorionzottenbiopsie 3.3.1.2. Ziele der PND Eine direkte Therapie kaum möglich!! (Schere zw. Diagnostik und Therapie). a) Senkung der perinatalen Morbidität und Mortalität – Psychische Entlastung der Frau (Angst vor behindertem Kind) – mögliche Rettung von Kindern bei allg. Verdacht auf Schädigung. b) In den meisten Fällen jedoch Ausschluss einer kindlichen Schädigung bzw. Zusammenhang mit nachfolgender Abtreibung bei positivem Befund. Konkret wird die PND heute angeboten/durchgeführt bei: erhöhtem Alter der Frau (Altersindikation) – Familiäre genet. Belastung – Erkrankungen der Mutter während Schwangerschaft – bei besonderer Angst der Frau vor behind. Kind (psychologische Indikation) - - oder als Screening-Method (Ultraschall). 3.3.1.3. Problematik der PND • • • • •

PND lässt sich nicht auf bestimmte Risikofälle eingrenzen – Tendenz zu Ausweitung Zu wenig kompetente Beratung im Zusammenhang mit PND PND verändert das Schwangerschaftserleben der Frau Neue juridische Probleme tauchen auf: Klagen gegen Ärzte wegen unterlassener PND bei Geburt eines behinderten Kindes. Zunehmender Druck auf Frauen, die PND in Anspruch zu nehmen und anschließend bei positivem Befund eine Abtreibung vornehmen zu lassen.

3.3.1.4. Ethische Bewertung Die Methode in sich ist ethisch neutral. – Allgemeine ethische Erfordernisse sind: Nutzen-Risiko-Abwägung, sorgfältige Aufklärung und Ermöglichung einer autonomen/freien Entscheidung. Gravierende ethische Probleme liegen: in der fast automatischen Kopplung mit anschließender Abtreibung – im bewussten Eingehen einer „Schwangerschaft auf Probe“ - Tendenz, immer geringfügigere kindl. Schädigungen für einen Abbruch zuzulassen - Missbrauch zur Geschlechterselektion in manchen Ländern (Indien). 3.3.2. Die Präimplantationsdiagnostik 3.3.2.1. Das Verfahren = Genetische Untersuchung von in-vitro gezeugten Embryonen vor dem Einbringen in die Gebärmutter. Verfahren der Embryobiopsie – Verfahren der Polkörperchendiagnostik 3.3.2.2. Anwendungsgebiete Verhinderung von Erbkrankheiten – Verbesserung der Erfolgsquote von IVF – Positive Selektion bestimmter erwünschter Eigenschaften – Geschlechtsbestimmung. 3.3.2.3. Ethische Analyse und Bewertung Argumente für PID Der hohe Leidensdruck von „Hochrisikopaaren“ – die PID stellt im Vergleich zur „Schwangerschaft auf Probe“ das geringere Übel dar (kindliches Leben noch kaum entfaltet – keine psychische Belastung für die Frau) – Rechtfertigung der PID als antizipierter Schwangerschaftskonflikt. Argumente gegen PID • Entnahme und Verbrauch von totipotenten embryonalen Zellen im Rahmen der Embryobiopsie – Dieses Problem ist allerdings bei der Polkörperchendiagnostik nicht gegeben! • Der Selektionscharakter der PID + Instrumentalisierung menschlichen Lebens (Zeugung unter Vorbehalt + anschließender Verwerfung) • Das Problem der wahrscheinlichen Ausweitung auf weniger schwerwiegende unerwünschte Merkmale …. Gefahr positiver Selektion. • Zum Problem des Leidens Zusammenfassung: Hoch problematische Methode, die vor allem dann abzulehnen ist, wenn man an der Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens von Beginn an festhält. - Schwierig zu beurteilen ist die Methode, wenn sie als das geringere Übel im Verhältnis zur einer Schwangerschaft auf Probe gesehen wird.

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ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (5)

5. ORGANTRANSPLANTATION 5.1. Die Transplantationsmedizin Zum Stand der medizinischen Möglichkeiten 5.1.1. Der Verlauf einer Nierentransplantation über das System von Eurotransplant 5.1.2. Das Problem des Organmangels und versuchte Strategien, ihn zu überwinden: Förderung der Lebendspende, Widerspruchslösung statt Zustimmungslösung, besonderes Training der beteiligten Ärzte und Pflegepersonen, Aufklärung der Bevölkerung, finanzielle Anreize. 5.2. Kirchliche Stellungnahmen •

Gemeinsame Erklärung der katholischen und der evangelischen Kirchen in Deutschland zur Organspende (1990) -- Katechismus der Kath. Kirche (1993) Artikel 2296 -- Enzyklika Evangelium Vitae (1995) Artikel 95



Prinzipielle Bejahung als Akt der Solidarität und der Liebe – Aufklärung und Nutzen/Risiko-Verhältnis werden eingefordert für die Lebendspende 5.3. Ethische Probleme der Transplantationsmedizin 5.3.1. Zustimmungs- oder Widerspruchslösung? •

Was ist eine „Zustimmungslösung“ / eine „Widerspruchslösung“ / eine „erweiterte Zustimmungslösung“?



Der Status des menschlichen Leichnams: kein absolutes Recht auf Integrität – primäres Verfügungsrecht des Menschen als Lebender über seinen Leichnam – der Symbolwert des Leichnams und die Pflichten der Pietät – das Interesse der Gesellschaft an Organen



Ethische Bewertung der Widerspruchslösung im Vergleich zur Zustimmungslösung – Bedingungen, unter denen eine Widerspruchslösung ethisch annehmbar ist – der christliche Aspekt von Organspende als Akt solidarischer Liebe.

• Praktische Hinweise zur Regelung in Österreich – das Widerspruchsregister 5.3.2. Das Gehirntodkriterium •

Die Definition des Gehirntodkriteriums durch die ad hoc Kommission von Harvard 1968 und die Gründe – die Akzeptanz des neuen Todeskonzepts in der Moraltheologie



Die Einwände gegen das Gehirntodkriterium: 1) Vorwurf einer interessengeleiteter Umdefinition des Todes – 2) Der Zustand eines Organs wird fälschlich mit dem Zustand des ganzen Organismus gleichgesetzt – 3) Dualistische Anthropologie im Hintergrund – 4) bestimmte „Lebensfunktionen“ bei Hirntoten – 5 ) Das Hirntodkonzept widersprich der spontanen phänomenalen Erfahrung. Æ These, dass der Gehirntod ein Teil des Sterbeprozesses ist (jedoch ein point of no return)



Der Gehirntod als Tod des Menschen Begriffliche Klärungen: Zum Verhältnis von Sterbeprozess und Tod – Tod als Funktionsverlust oder als biologischer Zerfall – biologischer Tod und Tod des Menschen (anthropologischer Tod) – Zelltod/Organtod/Tod des Organismus – Der Unterschied von Todesbegriff, Todeskriterium und Todesdiagnostik. Zur anthropologischen Bedeutung des irreversiblen Ausfalls des Gesamtgehirns: a) Gehirn als Sitz spezifisch personaler Leistungen – b) Gehirn als integrierendes Organ. Weiter“leben“ einzelner Organe und Partialfunktionen nach Ende der personalen Existenz.



Akzeptanz der Organentnahme bei Ablehnung des Hirntodkonzepts: Hirntod als Teil des Sterbeprozesses – Organentnahme möglich bei vorliegender Zustimmung



Die Diskussion um den Teilhirntod = eine unzulässige Ausweitung der Hirntodidee (schon mit dem Ausfall der Großhirnrinde ist der Mensch tot)



Die Stellungnahme der dt. Bischofskonferenz (1990) Æ Akzeptanz des Gehirntodkriteriums

• Zur Hirntoddiagnostik: 5.3.3. Organallokation •

Ethische Probleme im Rahmen der Organallokation:



Das Verteilungssystem bei Eurotransplant (s. Beiblatt)



Ethische Analyse und Beurteilung: Versuch einer bestmöglichen Balance zwischen medizinischer Dringlichkeit, größtmöglichem medizinischen Nutzen, Gerechtigkeit/fairer Zugang aller zu Organen



Das Clubmodell und das Solidarmodell

5.3.4. Lebendspende u. Anreize 5.3.5. Organhandel Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Moraltheologie und Dogmatik Parkstraße 1/I, 8010 Graz Tel: 0316-380-6120 e-mail: [email protected] Copyright © W. Schaupp 2004

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ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (5)

6. TODESSTRAFE (TS) 6.1. EINFÜHRUNG Die TS als kulturübergreifende Institution Derzeitige Situation: in 112 Ländern abgschafft – in 83 angewendet; 90% der derzeitigen Todesstrafen entfallen auf China – in den USA derzeit wieder mehr Todesstrafen und wachsende Zustimmung der Bevölkerung. Das katholische Lehramt wendet sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker gegen die Todesstrafe (vgl. KKK, Enz. Evang. Vitae) 6.2. RECHTFERTIGUNG UND INFRAGESTELLUNG DER TS IN DER GESCHICHTE 6.2.1. Biblisches Fundament Im AT wichtige Belegstellen für die Todesstrafe (z.B. Gen 9,6 u. Lev. 24,17) – Im NT wichtige Belegstelle pro Röm 13,4; im jesuanischen Ethos jedoch vielfältige Impulse gegen die Todesstrafe (z. B. Pflicht zu Vergebung usw.) 6.2.2. Alte Kirche Keine Verurteilung des Staates, der Todesstrafen verhängt, jedoch striktes Verbot, dass Christen sich an Tötungshandlungen beteiligen. Mit Augustinus / nach der konstantinischen Wende eine Änderung der Haltung: Aufgabe der Kirche ist es, den Staat zu Milde anzuhalten – später wird die weltliche Gewalt zunehmend in den Dienst der kirchlichen Interessen gestellt (Häretikerverfolgung). 6.2.3. Mittelalter • Die Vorbehalte gegen die Todesstrafe verschwinden nun fast ganz – 866 n.Ch. Nikolaus I: letztes Votum gegen die TS – 1210 Verurteilt Papst Innozenz die These der Waldenser, Todesstrafe sei eine Todsünde. • Thomas von Aquin rechtfertigt die TS mit verschiedenen, heute z. T. fragwürdigen Argumenten (die Gemeinschaft muss den Verbrecher abtrennen wie ein krankes Glied). 6.2.4. Neuzeit • Cesare Beccaria 1964 erstes bedeutendes Werk gegen die TS (Humanismus) Æ zunehmende Bewegung gegen die TS • Kant und Hegel befürworten wieder entschieden die TS • Im 20. Jh. neuerliche Bewegung gegen die TS – vgl. z. B. die Kampagne von Amnesty Intern. 6.3. SYSTEMATISCH-ETHISCHE BEURTEILUNG 6.3.1. TS als Vergeltung und Sühne Entweder als Idee der Retribution (Vergeltung) oder im Sinn der notwendigen Wiederherstellung einer gestörten sittlichen Ordnung durch die Strafe. – Unterscheidung von objektiver und subj. Sühne. – jedoch: Widerspruch zum christl. Liebesgebot / Verzeihungsgebot – Widerspruch zur Lehre, dass allein die Gnade Christi rechtfertigt. 6.3.2. Besondere Ermächtigung der gesellschaftlichen Autorität und Rechtverwirkungstheorie Nur der staatl. Gewalt ist von Gott das Recht übertragen, die Todesstrafe zu vollziehen – Der Täter verwirkt durch seine Tat sein Recht auf Leben Æ die Todesstrafe stellt daher keinen Verstoß gegen das Tötungsverbot dar. 6.3.3. Sekundäre Strafzwecke (utilitarian justification) 1) Allgemeine Abschreckung (= Generalprävention) 2) Schutz der Gemeinschaft vor Wiederholungstätern (Notwehr) 3) Besserungsfunktion der Strafe (= Spezialprävention) Alle drei Argumente sind fragwürdig: Die abschreckende Wirkung ist empirisch nicht belegbar – Unter heutigen Bedingungen kann die Gemeinschaft sich auch durch lebenslängliche Haft schützen - Worauf soll sich die „Besserung“ beziehen? 6.3.4. Pragmatische Argumente gegen die TS Ausschluss jeder positiven Strafwirkung auf den Täter Politischer Missbrauch der TS Einfluss rassistischer Vorurteile und von Klassenvorurteilen Nachgewiesener hoher Prozentsatz von Justizirrtümern – fehlende Möglichkeit einer Korrektur In den USA ist die Todesstrafe finanziell ungleich kostspieliger als Gefängnisverwahrung Die einzig prinzipiell mögliche Rechtfertigung heute ist das auf die Gemeinschaft bezogene Notwehrargument – Sie ist nur als ultima ratio einer in ihrem Bestand bedrohten Rechtsgemeinschaft denkbar, wenn keine anderen Mittel ausreichen. Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Moraltheologie und Dogmatik Parkstraße 1/I, 8010 Graz Tel: 0316-380-6120 e-mail: [email protected] Copyright © W. Schaupp 2004

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ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (6) 6. TEXTE ZUR TODESSTRAFE 6.2.1. Biblisches Fundament Gen 9,6: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen.“ Lev 24,17: „Wer einen Menschen erschlägt, wird mit dem Tod bestraft.“ Num 35,31: „Ihr sollt kein Sühnegeld annehmen für das Leben eines Mörders, der schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt ist; denn er muss mit dem Tod bestraft werden.“ Röm 13,4: „Sie steht im Dienst Gottes und verlangt, dass du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut.“ 6.2.2. Alte Kirche (Frühchristliche Kanones) Canones Hippolyti: „Wer die Gewalt über das Schwert hat, und der Stadtmagistrat, der den Purpur trägt (= die Strafgewalt) besitzt, gebe sein Amt auf oder soll (vom Taufunterricht) ausgeschlossen sein.“ Tertullian: „Was die Staatsgewalt betrifft, so darf ein Knecht Gottes keine Todesurteile fällen.“ (De idol.17) 6.2.3. Mittelalter Papst Nikolaus I. (866 im Brief an die neubekehrten Bulgaren): „Nicht nur die Unschuldigen, sondern auch die Verbrecher sollt ihr vor dem Tode retten, weil Christus uns vom Tod der Seele errettet hat.“ Papst Innozenz III. (1210 gegenüber Waldensern): „Was die weltliche Gewalt betrifft, so erklären wir, daß sie ohne Todsünde ein Bluturteil vollstrecken kann, solange sie zum Vollzug der Strafe nicht aufgrund von Haß, sondern aufgrund eines richterlichen Urteils, nicht unvorsichtig, sondern überlegt schreitet.“ (Denzinger; Hünermann, 795.) Thomas von Aquin (1224-1274): (1) Der Verbrecher verliert, indem er gegen seine (sittliche) Vernunft handelt („peccando ab ordine rationis recedit“), die doch das Wesen des Menschen ausmacht, seine menschliche Würde („decidit a dignitate humana“) und fällt gleichsam auf die Stufe des Tieres zurück („incidit quodammodo in servitutem bestiarum“). (2) Das Gemeinwohl rechtfertigt es, ein „schädliches Glied“ zu töten, wenn es keinen anderen Weg gibt, das Gemeinwohl („bonum commune“) zu schützen. Dieses Argument, welches letztlich auf eine Art Notwehr hinausläuft, steht bei Thomas in der entscheidenden Quaestio im Mittelpunkt: „Quaelibet autem persona singularis comparatur ad totam communitatem sicut pars ad totum. Et ideo si aliquis homo sit periculosus communitati et corruptivus ipsius propter aliquod peccatum, laudabiliter et salubriter occiditur, ut bonum commune conservetur.“ (S.Th.II.II.64.a.2.c.) Übers.: „Jede Einzelperson aber steht zur ganzen Gemeinschaft im Verhältnis des Teiles zum Ganzen. Wenn daher ein Mensch auf Grund eines Verbrechens der Gemeinschaft zur Gefahr und zum Verderben wird, ist es vernünftig und heilsam, ihn zu töten, damit das Gut insgesamt gerettet werde.“ (Albertus-MagnusAkademie (Hg.): Vollständige, ungekürzte dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica. Bd. 18, Walberberg/Köln 1953.) 6.2.4. Neuzeit Papst Pius XII. (1952 in Ansprache an die Histopathologen): „Selbst im Fall der Hinrichtung eines zum Tod verurteilten Verbrechers verfügt der Staat nicht über das Lebensrecht des Einzelmenschen. Es ist der öffentlichen Autorität indessen vorbehalten, den Verurteilten zur Sühne seines Verbrechens seines lebensgutes zu berauben, nachdem er sein Lebensrecht bereits durch das Verbrechen verwirkt hat.“ Evangelium Vitae – Über den Wert und die Unantastbarkeit des menschl. Lebens (März 1995) „In diesen Problemkreis gehört auch die Frage der Todesstrafe, wobei in der Kirche wie in der weltlichen Gesellschaft zunehmend eine Tendenz festzustellen ist, die eine sehr begrenzte Anwendung oder überhaupt die völlige Abschaffung der Todesstrafe fordert. Das Problem muß in die Optik einer Strafjustiz eingeordnet werden, die immer mehr der Würde des Menschen und somit letzten Endes Gottes Plan bezüglich des Menschen und der Gesellschaft entsprechen soll. Tatsächlich soll die von der Gesellschaft verhängte Strafe »in erster Linie die durch das Vergehen herbeigeführte Unordnung wiedergutmachen«. Die öffentliche Autorität muß die Verletzung der Rechte des einzelnen und der Gemeinschaft dadurch wiedergutmachen, daß sie dem Schuldigen als Vorbedingung für seine Wiederentlassung in die Freiheit eine angemessene Sühne für das Vergehen auferlegt. Auf diese Weise erreicht die Autorität auch das Ziel, die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Person zu verteidigen und zugleich dem Schuldigen selbst einen Ansporn und eine Hilfe zur Besserung und Heilung anzubieten.“ (EV 56)

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„Um alle diese Ziele zu erreichen, müssen Ausmaß und Art der Strafe sorgfältig abgeschätzt und festgelegt werden und dürfen außer in schwerwiegendsten Fällen, das heißt wenn der Schutz der Gesellschaft nicht anders möglich sein sollte, nicht bis zum Äußersten, nämlich der Verhängung der Todesstrafe gegen den Schuldigen, gehen. Solche Fälle sind jedoch heutzutage infolge der immer angepaßteren Organisation des Strafwesens schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben. Jedenfalls bleibt der vom neuen Katechismus der Katholischen Kirche angeführte Grundsatz gültig: »soweit unblutige Mittel hinreichen, um das Leben der Menschen gegen Angreifer zu verteidigen und die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Menschen zu schützen, hat sich die Autorität an diese Mittel zu halten, denn sie entsprechen besser den konkreten Bedingungen des Gemeinwohls und sind der Menschenwürde angemessener«.“ (EV 56) Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) “Der Einsatz des Staates gegen die Ausbreitung von Verhaltensweisen, welche die Rechte des Menschen und die Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens schädigen, entspricht einer Forderung des Schutzes des Gemeinwohls. Die gesetzmäßige öffentliche Gewalt hat das Recht und die Pflicht, der Schwere des Verbrechens angemessene Strafen zu verhängen. Die Strafe hat vor allem das Ziel, die durch das Vergehen herbeigeführte Unordnung wiedergutmachen. Wird sie vom Schuldigen willig angenommen, gewinnt sie sühnenden Wert. Schließlich hat die Strafe, über die Verteidigung der öffentlichen Ordnung und die Sicherheit der Personen hinaus, eine heilende Wirkung: sie soll möglichst dazu beitragen, daß sich der Schuldige bessert.“ (KKK 2266) “Unter der Voraussetzung, daß die Identität und die Verantwortung des Schuldigen mit ganzer Sicherheit feststeht, schließt die überlieferte Lehre der Kirche den Rückgriff auf die Todesstrafe nicht aus, wenn dies der einzig gangbare Weg wäre, um das Leben von Menschen wirksam gegen einen ungerechten Angreifer zu verteidigen. Wenn aber unblutige Mittel hinreichen, um die Sicherheit der Personen gegen den Angreifer zu verteidigen und zu schützen, hat sich die Autorität an diese Mittel zu halten, denn sie entsprechen besser den konkreten Bedingungen des Gemeinwohls und sind der Menschenwürde angemessener. Infolge der Möglichkeiten, über die der Staat verfügt, um das Verbrechen wirksam zu unterdrücken und den Täter unschädlich zu machen, ohne ihm endgültig die Möglichkeit der Besserung zu nehmen, sind jedoch heute die Fälle, in denen die Beseitigung des Schuldigen absolut notwendig ist, "schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben (EV 56).“ (KKK 2267) Statistik über Gründe für unrechtmäßige Verhängung der Todesstrafe 1999 (Barry Scheck/Peter Neufeld/Jim Dwyer: Actual Innocence. Five Days to Execution & Other Dispatches from the Wrongly Convicted) 62 Fälle rekonstruiert, in denen Unschuldige aus US-Todestrakten entlassen werden mussten. Unrechtmäßige Verurteilungen aufgrund: Fehlerhafte Zeugenaussagen 84% Informanten 21% Falsche Geständnisse 24% Unzureichende Verteidigung 27% Staatsanwaltl. Amtsmissbrauch 42% Polizeilicher Amtsmissbrauch 50% Manipulierte Laborergebnisse 33% Aktuelle Situation China „Nach einer Enthüllung im März 2004 von Chen Zhonglin, einem Abgeordneten des Volkskongresses und Direktor des Rechtsinstituts der Südwest-Universität in Chongqing, soll die offizielle Zahl der Hinrichtungen in China bei knapp 10.000 pro Jahr liegen. Da die Hinrichtungen in China innerhalb von einer Woche vollstreckt werden, ist anzunehmen, dass es viele Fehlurteile gibt, die somit nie aufgedeckt werden können. Dabei werden auch so genannte "Gerichtsbusse" eingesetzt, in denen direkt am Ort des Geschehens ein mutmaßlicher Täter verurteilt und mit der Giftspritze hingerichtet werden kann - ohne ordentliche Beweisaufnahme, Verteidigung und Hauptverhandlung. Todesurteile werden in China bei 68 Delikten ausgesprochen, darunter fällt auch das Fälschen von Mehrwertsteuerbelegen. Todesurteile werden in China traditionell vor Feiertagen vollstreckt, um ein Durchgreifen des Staates zu demonstrieren.“ (http://www.infomia.com/wiki,index,goto,Todesstrafe.html#China)

Karl-Franzens-Universität Graz - Institut für Moraltheologie und Dogmatik Parkstraße 1/I, 8010 Graz Tel: 0316-380-6120 e-mail: [email protected] Copyright © W. Schaupp 2004

Walter Schaupp

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ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT 7. SEXUALITÄT – HUMANWISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE 7.1. Evolutionsbiologische Grundlagen Fortpflanzung und Vermischung des Genpools als evolutive Funktionen der Sexualität – diese beiden Funktionen können prinzipiell auch getrennt auftreten (Pantoffeltierchen). Unterscheidung von Sexualität und Sexualdimorphismus – letzterer hat sich durch disruptive Evolution herausgebildet (Eine Aufgabe wird durch funktionale Spezialisierung gelöst). Quantitative und qualitative Fortpflanzungsstrategie Das Prinzip der parentalen Investition – bei höheren Säugetieren asymmetrisch Æ Herausbildung von geschlechtsspezifischen Verhaltensdispositionen. Aggressives Verhalten beim Männchen als wichtiges geschlechtsspezifisches Merkmal (assertive, instrumentelle und hostile Aggressivität). Evolutionsbiologisch gesehen stoßen wir beim Menschen auf einen Sexualdimorphismus, der jedoch eventuell in langsamer Rückbildung ist – Männer haben eine leichte Neigung zu Polygynie. 7.2. Biologie und Gehirnforschung Ebenen des biologischen Geschlechts: Chromosome, Gonaden, Phänotyp (sek. Geschl. Merkmale), hormonelle Ebene, Gehirn als Sexualorgan. Die Gehirnforschung weist auf ein komplexes Ineinander von organhaften, hormonellen, emotionalen und kognitivmentalen Ebenen/Systemen/Leistungen hin. Der Befund von Evolutionsbiologie und Gehirnforschung spricht gegen die These einer radikalen Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht (sex – gender) und eher für die These einer (moderaten) im Biologischen verankerten Geschlechterdifferenz, auf welcher kulturelle und soziale Prägungen aufbauen. 7.3. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse (empirische Sozialforschung) (Gunter. Schmidt; E. Beck-Gensheim) 1. Das „neue“ Ethos: •

Der „liberale Diskurs“ Æ Leitwert Emanzipation und Abbau normativer Grenzen und Schranken



Der „equal-rights Diskurs“ Æ Leitwerte Selbstbestimmung – Wechselseitige Anerkennung – Gewaltfreiheit Æ dzt. hohe Sensibilität gegenüber allen Formen sex. Gewaltausübung (sex. Übergriffe).



Neue „Verhandlungsmoral“: Wichtig ist nicht was man sexuell miteinander tut, sondern ob es konsensuell und frei getan wird. 2. Auflösung der klassischen Ehe - Pluralisierung der sex. Lebens- und Beziehungsformen – Typ der „reinen“ Beziehung a) Auflösung der klassischen Ehe – neue Beziehungsformen: Ehe ohne Trauschein - living apart together – serielle Monogamie usw.; früher als „pervers“ charakterisiertes Verhalten wird normal … b) Gründe: •

Entlastung der Beziehung von Aufgaben der Lebensbewältigung



Neue Rolle der Frau: Verschwinden der komplementären Aufgabenteilung – finanzielle Selbständigkeit – Frauen entwickeln aktiv eigene Lebenspläne.

• Steigendes Lebensalter c) Das neue Modell der „reinen Beziehung“ (Anthony Giddens): Beziehung um ihrer selbst willen – höherer Anspruch an emotionale Qualität – höhere Instabilität 3. Kontinuitäten und Gegenbewegungen •

Ungebrochene Beziehungsneigung



Bleibender hoher Stellenwert von sexueller Treue, solange die Beziehung dauert



These von einer radikalen Sexualisierung ist ein Mythos: meist geringe Zahl an Sexualpartnern – abnehmende Frequenz von sexuellen Begegnungen innerhalb stabiler Beziehungen – trotzdem höhere Zufriedenheit mit der eigenen Sexualität – Sexualität wird als Medium menschlicher Intimität / Geborgenheit erlebt.



Der „Preis“ mancher neuer Entwicklungen: erhöhte emotionale und kommunikative Arbeit – Notwendigkeit sich eine „gemeinsame Welt“ schaffen zu müssen; Schwierigkeit, immer wieder einen neuen Partner finden zu müssen; Leid im Zusammenhang mit dem Zerbrechen von Beziehungen.

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ETHIK DES LEBENS UND DER MENSCHLICHEN GESCHLECHTLICHKEIT (8) Geschichte der christlichen Sexualmoral 8.1. BIBLISCHE ASPEKTE Altes Testament: Egalitäre Motive im Schöpfungsbericht – Entdivinisierung der Sexualität – Patriarchale Entfremdung und „Scham“ als Folge der Sünde – Unbefangene Bejahung erotischer Liebe (Hld) – Zentraler Wert der Nachkommenschaft / daneben gegenseitige Hilfe als Motiv – Sexualität macht kultisch unrein. Neues Testament: Sexualität spielt wenig Rolle im jesuanischen Ethos (außer indirekt beim Problem der Ehescheidung) – Paulinische Akzente, welche die Tradition prägen (das „Gesetz des Fleisches“ und der „Sünde in Röm 7 – paulinische Weisungen zu Ehe und Ehelosigkeit in 1 Kor 7 – Ehe als Abbild des Verhältnisses Christi zur Kirche in Eph 5) 8.2. SEXUALPESSIMISMUS DER FRÜHEN KIRCHE Die Wurzeln •

Neuplatonischer Dualismus



Stoisches Ideal (vernunftgeleitetes Leben – Tugend der ataraxia / apatheia)



Asketisches Ideal der Mönchsbewegung

• Biographie des Augustinus Die Motive •

Sexuelles Begehren / sexuelles Empfinden als Folge der Erbsünde



Ehegüter als „Entschuldigung“ für Sexualität in der Ehe



Ehe als „remedium concupiscentiae“ (1 Kor 7,9)

• Das Leben nach den evangelischen Räten als das „vollkommenere“ Leben (Zwei-Stände-Lehre) 8.3. THOMAS VON AQUIN – ETHIK DER MENSCHLICHEN NATUR •

Gegen Augustinus Betonung, dass Sexualität Teil der gottgewollten menschlichen Natur und somit in sich gut ist.



Sexualität besitzt einen ihr von Gott eingeschriebenen Zweck (finis) und zwar die Ausrichtung auf Fortpflanzung



Sexualität ist dann nicht sündhaft, wenn sie „vernunftgeleitet“ gelebt wird („recta ratio“)



Gebrauch der Geschlechtlichkeit außerhalb der natürlichen Zweckbestimmung ist sündhaft.



Reste des antiken Sexualpessimissmus (das Wesen der „luxuria“ besteht darin, dass die Vernunft „aufgesaugt“ oder „aufgelöst“ wird [absorbere / solvere])



Trotzdem muss Ehelosigkeit eigens gerechtfertigt werden!

8.4. DIE KLASSISCHE SEXUALLHERE (VOR DEM VATIKANUM II) •

Zwei hierarchisch gestufte „Ehezwecke“: Fortpflanzung und wechselseitige Liebe und Hilfe (finis primarius und finis secundarius)



Christliche Ehe als einziger Ort, wo Sexualität legitim gelebt werden kann



Jeder einzelne eheliche Akt muss auf Fortpflanzung hin offen sein – Sexualität an der Fruchtbarkeit vorbei ist Sünde (Homosexualität, Masturbation, Empfängnisverhütung)



Ehe als juridischer „Vertrag“ mit Übertragung von wechselseitigen Rechten auf den Körper des anderen und entsprechenden Pflichten



Im Fall der Josephsehe, bei Unfruchtbarkeit im Alter oder wegen Krankheit rechtfertigt der zweite Ehezweck den Gebrauch der Sexualität.

8.5. SEXUALITÄT UND EHE IN DER SICHT DES VATIKANUM II •

Personale Sichtweise – Liebe im Zentrum



> Ehe als Bundeswirklichkeit



> Keine hierarchischen „Ehezwecke“ mehr, sondern „Sinngehalte“



> Personale Begründung der ehelichen Treue



> Ausrichtung der personalen Gemeinschaft auf Fortpflanzung



Verantwortete Elternschaft



Sakramentalität der Ehe



Das christliche Ethos der Sexualität als Ethos eines „vollen Sinngehalts“



Das „Gesetz der Gradualität“ (Familiaris Consortio 9; 34)

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