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verbreitet mit Unterstützung der

www.oeh.ac.at

Mag. S. Dudek

iG 3.2, "Grundprobleme der journalistischen Vermittlung: Printmedien" (UE) Wintersemester 2000/01 Katharina Posch (Matr.Nr. 9909765) Klaus Vogelauer (Matr.Nr. 9806081)

Bad news are good news. Are good news bad news? – Eine Gegenüberstellung der Berichterstattung von "Standard"und "Kurier" vor dem Hintergrund der Nachrichtenwerttheorie

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INHALTSVERZEICHNIS 1 Einleitung * 2 Nachrichten als verzerrte Realität * 3 Die Entwicklung der Nachrichtenwerttheorie * 3.1 Walter Lippmann * 3.2 Einar Östgaard * 3.3 J. Galtung / M. H. Ruge * 3.4 Winfried Schulz * 3.5 Neuere Untersuchungen: J. F. Staab und Christiane Eilders * 4 "Good News" in der österreichischen Presse * 4.1 News im "Kurier" * 4.1.1 Auftreten der Valenz-Kriterien * 4.1.2 Wertigkeit der Nachrichten * 4.1.3 Plazierung der untersuchten Artikel: "Good News" als "Rand-erscheinungen"? * 4.1.4 Gesamteindruck "Kurier" * 4.2 News im "Standard" * 4.2.1 Auftreten der Valenz-Kriterien * 4.2.2 Wertigkeit der Nachrichten * 4.2.3 Plazierung der untersuchten Artikel * 4.2.4 Gesamteindruck "Standard" * 4.3 Vergleich * 5 Resümee * Literaturverzeichnis *

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1. Einleitung Journalisten haben es nicht leicht: Sie sollen schnell und effizient arbeiten, sie sollen immer auf dem neuesten Stand sein und obendrein auch noch dem "Kunden", dem Rezipienten, ein exquisites Menü an korrekt recherchierten und gut zu lesenden/zu hörenden/zu sehenden Artikeln/Beiträgen servieren. Um all diese Ansprüche der Rezipienten erfüllen zu können, legt sich jeder Journalist im Kopf einen Plan für seine Informationsauswahl zurecht; schließlich kann nicht jede Information an den Seher/Hörer/Leser weitergeleitet werden. In der Kommunikationswissenschaft wurden theoretische Konzepte entwickelt, die den Informationsauswahl-Prozeß von Journalisten zu ergründen und zu strukturieren versuchen. Eines dieser theoretischen Konzepte, das sich bereits sehr auf die "produzierte", durch den erwähnten Prozeß entstandene Information konzentriert, ist die sogenannte "Nachrichtenwerttheorie". "Bad news are good news" lautet eine der bekanntesten journalistischen Maximen, die sich auch auf einzelne Stränge der Nachrichtenwerttheorie stützt. Unserer Meinung nach wäre es interessant und relevant, zu überprüfen, inwieweit diese Maxime Gültigkeit besitzt, wenn man sie einmal von der anderen Seite betrachtet. Weiters ist es für uns von Bedeutung, zu erkunden, ob Journalisten gute Neuigkeiten bei der Nachrichtenauswahl tatsächlich benachteiligen. Die forschungsleitenden Fragen der vorliegenden Arbeit lauten: • • •

Inwieweit werden positive Ereignisse an den Rand gedrängt? Oder können sie doch auch größere Schlagzeilen für sich beanspruchen? Sind gute Nachrichten weniger "berichtenswert" als schlechte Nachrichten oder umgekehrt? Ergeben sich Unterschiede in der Aufbereitung der Nachrichten bei gehobener Qualitätspresse ("Standard") und "boulevardesker" Qualitätspresse ("Kurier"), und wenn ja, welche?

Um die Forschungsfragen zu beantworten, haben wir uns auf das Medium Zeitung beschränkt. Stellvertretend für die österreichischen Qualitätszeitungen haben wir den "Standard" untersucht. Das "Zwischending", das Mid-Market-Paper "Kurier", soll für "gehobenen Boulevard", also in gewissem Sinne für einen Gegenpol innerhalb der Gruppe der Qualitätszeitungen stehen. Die untersuchten Einheiten waren jeweils die ersten Bücher der genannten Zeitungen, der Untersuchungszeitraum wurde auf die Woche von 4.11.12.2000 beschränkt. Zum Aufbau der vorliegenden Arbeit: Als Einstieg in das Thema soll in Kapitel 2 die Idee der "Realitätskonstruktion" durch Journalisten dargelegt werden, um im Anschluß daran ein Konzept dieser Wirklichkeitskonstruktion, die Nachrichtenwerttheorie, und ihre geschichtliche Entwicklung zu skizzieren (Kapitel 3). Die Darstellung des Nachrichtenfaktoren-Schemas von Schulz leitet dann über nach Kapitel 4, in dem wir versuchen werden, anhand dieses Schemas die "Good News"-Bad News"-Komponente der beiden erwähnten österreichischen Tageszeitungen in zwei Stufen zu untersuchen und die Ergebnisse zu vergleichen. In Kapitel 5, das den Abschluß der Arbeit bildet, werden wir unter Rückbezug auf die Forschungsfragen die vorliegenden Resultate interpretieren.

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Wir sind uns dessen bewußt, daß diese Arbeit keine repräsentativen Aussagen liefern kann; dennoch wollen wir versuchen, im kleinen Rahmen Überlegungen und Vermutungen zu dem vorliegenden Problem anzustellen,

2 Nachrichten als verzerrte Realität Tagtäglich werden die Rezipienten von allen möglichen Medien mit Informationen "zugeschüttet". Zahlen, Daten, Fakten, Bilder, Töne,....all das strömt auf den Mediennutzer ein, meist in so rascher Folge, daß es gar nicht mehr richtig wahrgenommen geschweige denn angemessen reflektiert werden kann. Aus Rezipientensicht werden dadurch zwangsläufig Fragen aufgeworfen: Ist jede Information, die man bekommt, aus unserer/meiner Sicht auch wirklich so zu betrachten? Ist jedes berichtete Ereignis auch genauso passiert? Liefern uns Journalisten ein Bild der Wirklichkeit? Erfahren wir über die Medien wirklich, was "da draußen" in der Welt vor sich geht? Begeben wir uns einmal auf die unterste Ebene der Kommunikation: Immer wenn Menschen interpersonal kommunizieren, geben sie den von ihnen vermittelten Informationen eine Art persönliche Note. Jeder Mensch interpretiert Ereignisse, und teilt sie anderen aus seiner Sicht mit. Dabei spielen sich unbewußt Auswahlprozesse in seinem Gehirn ab, d.h. er gibt nur jene Ereignisse an seinen Kommunikationspartner weiter, die er für relevant hält, und er gibt diese Ereignisse in seiner eigenen Interpretation weiter. Ähnlich verhält es sich mit den Journalisten. Auch sie müssen Auswahlentscheidungen treffen ("Was leite ich an den Rezipienten weiter?"). Auch sie interpretieren Informationen und geben sie somit nicht mehr mit größtmöglicher Objektivität weiter. Deshalb – und damit wären wir wieder bei der anfangs gestellten Frage – bilden Medien im Regelfall nicht die Wirklichkeit ab, sondern konstruieren sie: "Als Resümee der Forschungsliteratur kommt er [Rüdiger Schulz, d.Verf.] zu dem Schluß, daß die Massenmedien in der Regel die Wirklichkeit nicht repräsentieren: ‘Die Berichte der Medien sind oft ungenau und verzerrt, sie bieten manchmal eine ausgesprochen tendenziöse und ideologisch eingefärbte Weltsicht. Die in den Medien dargebotene Wirklichkeit repräsentiert in erster Linie Stereotype und Vorurteile der Journalisten, ihre professionellen Regeln und politischen Einstellungen, die Zwänge der Nachrichtenproduktion und die Erfordernisse medialer Darstellung. Sie läßt nur bedingt Rückschlüsse auf die physikalischen Eigenschaften der Welt, die Strukturen der Gesellschaft, den Ablauf von Ereignissen, die Verteilung der öffentlichen Meinung‘ (S c h u l z 1989, S.139)." Für die Ergründung dieser Problematik der Journalisten-Praxis kennt die Kommunikationswissenschaft drei Ansätze: Die sogenannte "Gatekeeper-

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Forschung", das "News Bias"-Konzept und die Nachrichtenwerttheorie. Die Unterschiede zwischen diesen drei Forschungssträngen formuliert Eilders treffend: " ... Während sich die ‘Gatekeeper‘-Forschung vornehmlich für die selektionsrelevanten Eigenschaften der Journalisten und der jeweiligen Medienorganisationen interessiert, die Berichterstattung selbst aber kaum untersucht, beschäftigt sich die ‘News Bias‘-Forschung sowohl mit der Berichterstattung als auch mit den Eigenschaften der Kommunikatoren. Die Perspektive ist hier stark auf die politischen Einstellungen der Journalisten und die daraus resultierenden Tendenzen der Berichterstattung eingeengt. Die Nachrichtenwertforschung setzt nicht bei den Merkmalen der Kommunikatoren an, sondern untersucht die Berichterstattung als Resultat der Auswahlentscheidungen: Anhand der Berichterstattung wird auf die Selektionskriterien geschlossen." Im nun folgenden dritten Kapitel möchten wir auf die historische Entwicklung der eben genannten Nachrichtwerttheorie eingehen.

3. Die Entwicklung der Nachrichtenwerttheorie 3.1 Walter Lippmann Die Grundlage für die Nachrichtenwerttheorie bildet Walter Lippmanns Buch ,,Public Opinion". Lippmann geht davon aus, daß die Wirklichkeit zu komplex ist, um von dem Menschen vollständig erfasst werden zu können. Deshalb wird die Realität grundsätzlich auf Stereotypen reduziert wahrgenommen. Das gleiche gilt für die Medien: ,,Nachrichten spiegeln nicht die Realität, sondern sind das Ergebnis von Selektionsentscheidungen, die nicht auf objektiven Regeln, sondern Konventionen beruhen, und können daher nur eine Reihe spezifischer und stereotypisierter Realitätsausschnitte vermitteln." Dabei sei jede Auswahltätigkeit auch eine Interpretation: Selbst der Augenzeuge bringe "kein unvoreingenommenens Bild vom Schauplatz des Vorgangs mit. Die Erfahrung scheint zu zeigen, dass er bereits etwas zum Schauplatz mitnimmt, was er später wieder von dort zurückbringt. Was er für einen Bericht von einem Ereignis hält, ist zumeist in Wirklichkeit diese Umwandlung" (Lippmann 1990, S. 61) Nach Lippmann ist bei der journalistischen Auswahl der Nachrichtenwert (news value) ausschlaggebend, d.h. wieviel Publikationswürdigkeit einem Ereignis anhaftet. Der Nachrichtenwert ergibt sich aus der Kombination von verschiedenen Ereignisaspekten, ,,die das Interesse und die Emotionen der Rezipienten wecken sollen". Anhand von Einzelbeispielen nennt er z.B. Prominenz, lokale Nähe und Relevanz.

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3.2 Einar Östgaard Einar Östgaard vom Friedensforschungsinstitut Oslo gilt als Begründer der Nachrichtenwerttheorie in Europa. Er stellt eine Verzerrung im Nachrichtenfluss fest, für die er neben externen Faktoren, wie direkte und indirekte Einflussnahme durch Regierungen, Agenturen und Medieneigentümer, auch interne, nachrichteninhärente Faktoren verantwortlich macht. ,,Als interne Nachrichtenfaktoren bezeichnet er einzelne Aspekte von Nachrichten, die diese für die Rezipienten interessant und beachtenswert machen." Östgaard fasst sie zu drei Faktorenkomplexen zusammen: Simplifikation: Beschreibt die Tendenz der Medien, einfache Sachverhalte komplexen Sachverhalten vorzuziehen und komplexe Vorgänge vereinfacht darzustellen. Identifikation: Die Medien versuchen, die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu erlangen, indem sie über bereits bekannte Ereignisse und Themen berichten. Dazu gehören z.B. räumliche, kulturelle und zeitliche Nähe, Prominenz und jede Form der Personifizierung. Sensationalismus: Die Medien versuchen, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen, indem sie über sehr dramatische Sachverhalte berichten. So z.B. über Kriminalität, Krieg und Krisen. Diese Faktoren beeinflussen laut Östgaard die Selektion: ,,Die Chancen einer Meldung, von den Massenmedien berichtet zu werden, sei um so größer, je einfacher die Meldung strukturiert sei, je mehr Identifikationsmöglichkeiten sie den Rezipienten biete und je sensationalistischere Momente sie enthalte." Als weitere, die Selektion beeinflussenden Faktoren nennt Östgaard noch die Ereignisdauer und die Etablierung des Themas

3.3 J. Galtung / M. H. Ruge Die ersten, die in Zusammenhang mit Nachrichtenwerten und der Nachrichtenwert-Theorie den Begriff "Nachrichtenfaktoren" verwendeten, waren Johan Galtung und Marie Holomboe Ruge. Die beiden Forscher, so wie Östgaard am Friedensforschungsinstitut Oslo beschäftigt, entwickelten 1965 einen Katalog von zwölf für die journalistische Nachrichtenauswahl relevanten Faktoren (, wobei sie die letzten vier als sogenannte "kulturabhängige Selektionsmechanismen" bezeichneten): • • • • • • •

Frequency (Ereignisentwicklung) Threhold (Außergewöhnlichkeit) Unambiguity (Eindeutigkeit) Meaningfullness (Bezug, Interesse) Consonance (Erwartungstreue) Unexpectedness (Überraschung) Continuity (Themenkarriere)

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• • • • •

Composition (relative Themenvarianz) Reference to elite-nations (Bezug zu Elitenationen) Reference to elite-people (Bezug auf Elite-Personen) Reference to persons (Personenbezug, Personalisierung) Reference to something negative (Negativität, Negativismus)

Zu den Beziehungen zwischen diesen Nachrichtenfaktoren bildeten Galtung/Ruge insgesamt fünf Hypothesen., deren weitergehende Ausführung den Rahmen dieser Arbeit weitgehend sprengen würde.

3.4 Winfried Schulz Während der Negativismus-Aspekt bei Galtung/Ruge nur einer von zwölf verschiedenen Faktoren ist, findet er bei Winfried Schulz 1976 in dessen Kritik und Weiterentwicklung des Modells der beiden norwegischen Wissenschafter größere Berücksichtigung. Schulz faßt nämlich insgesamt bereits 18 in sechs Dimensionen zusammen, wobei eine dieser Dimensionen (die "Valenz") den Gegensatz negativ/positiv behandelt. Die Faktorendimensionen bei Schulz stellen sich folgendermaßen dar: Zeit: • •

Dauer/zeitliche Ausdehnung = punktuelle Ereignisse haben einen hohen, Ereignisse über einen langen Zeitraum einen niedrigen Wert. Thematisierung = Ein "neues" Thema hat einen niedrigen, ein bereits eingeführtes Thema einen hohen Nachrichtenwert.

Nähe: • • • •

Räumliche Nähe = Strecke zwischen Ereignis und Redaktion. Politische Nähe = Stärke der wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen dem Land des Redaktionssitzes und dem Land, in dem das Ereignis stattfindet. Kulturelle Nähe = Stärke der kulturellen Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern. Relevanz = Grad der Betroffenheit.

Status: • • • •

Regionale Zentralität = bei nationalen Nachrichten: Bedeutung der angesprochenen Region innerhalb des "Redaktionslandes". Nationale Zentralität = bei internationalen Nachrichten; Bedeutung im weltpolitischen Kontext. Persönlicher Einfluß = Grad der politischen Macht der beteiligten Personen. Prominenz = Grad der Bekanntheit von beteiligten Personen.

Dynamik:

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• •

Überraschung = Grad der Vorhersehbarkeit von Zeitpunkt, Verlauf und Resultat eines Ereignisses. Struktur = Komplexität des Ereignisses.

Valenz: • • • •

Konflikt = Grad der Aggressivität von Ereignissen. Kriminalität = Grad der Rechtswidrigkeit vorkommender Handlungen. Schaden = Mißerfolge, aber auch Schäden im eigentlichen Sinn. Erfolg = Fortschritt, den ein Ereignis bewirkt.

Identifikation • •

Personalisierung = Stärke des Personenbezugs eines Ereignisses. Ethnozentrismus = Grad der Betroffenheit der Bevölkerung des "Redaktionslandes".

Wir werden uns im Verlauf der praktischen Untersuchung in Kapitel 4 vorwiegend auf dieses Schulz‘sche Faktoren-Schema stützen, da bei diesem die Negativ-PositivKomponente ("Valenz") weiter gefaßt ist als beispielsweise bei Galtung/Ruge oder bei den neueren Untersuchungen (siehe das nachfolgende Kapitel 3.5).

3.5 Neuere Untersuchungen: J. F. Staab und Christiane Eilders Zwei aktuellere Untersuchungen aus den 90er Jahren sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Erstens wäre hier die Arbeit von Joachim Friedrich Staab, der 1990 sogar 22 (!) Faktoren für die journalistische Nachrichtenauswahl definierte, zu nennen. Zweitens möchten wir auf eine wesentlich komplexere Untersuchung zur NachrichtenwertTheorie hinweisen, nämlich jene, die 1997 von Christiane Eilders durchgeführt wurde. Eilders untersuchte nicht nur den Auswahlprozeß der Journalisten mittels Inhaltsanalysen, sondern sie versuchte auch, herauszufinden, inwieweit die Rezipienten Nachrichten auswählen sowie sich an diese erinnern.

4."Good News" in der österreichischen Presse Der Stehsatz "Bad News Are Good News" gilt auch heute noch als Weg zum Erfolg, ja gar als Berufsmaxime für viele Journalisten, gerade im Bereich der Printmedien. Doch immer wieder wird Kritik an dieser Einstellung laut. So schrieb etwa 1998 der renommierte österreichische Publizist Hubert Feichtlbauer über das Konzept der "Bad News": "Also bitte, hier noch einmal die These: Meinungsbildende Journalisten (und die arbeiten in jedem Ressort!) müssen auch positiv denken und handeln! Es gehört zu den großen Mißverständnissen der Öffentlichkeit (und auch der

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Medienzunft!), zu glauben, nur das Negative stoße auf Leser-, Hörer-, Seherinteresse. "Only bad news are good news": Quatsch, wenn auch tausendfach schon wiederholt! Die wirkliche Regel lautet: Nur das Unerwartete, das Regelwidrige, das aus der Norm fallende interessiert, nicht die Regel, die Routine, der Alltag. Aber in einer Zeit, in der die meisten nur noch Tatarennachrichten erwarten und hinter jeder Epochenecke die Apokalypse lauert, wären Meldungen vom Gelingen menschlicher Schicksale die wahre Sensation: In Sarajevo funktioniert die multikulturelle Verwaltung! (Wenn’s wahr ist) In Afrika ist ein entwicklungspolitisches Projekt voll aufgegangen! (...) " Für Feichtlbauer ist die Bevorzugung des Negativen also äußerst kritikwürdig; dennoch stellen auch für ihn "Good News" als Gegenteil der schlechten Nachrichten nicht automatisch etwas Besseres und "Berichtenswerteres" dar Wir werden in diesem Kapitel nun versuchen, unsere in Kapitel 1 formulierten Forschungsfragen zu beantworten. Dazu werden wir zwei der im Untersuchungszeitraum dominierenden Politik-Themen, nämlich "Europapolitik" und "Israel", in zwei Stufen untersuchen: 1. Wir werden zunächst überprüfen, wieviele Faktoren der Dimension "Valenz" ein Artikel beinhaltet. Nur Artikel, die sowohl zu den beiden genannten Themenkomplexen gehören als auch mindestens einen Valenz-Faktor umfassen, wurden untersucht. 2. Um die Frage der "Wertigkeit" einer Nachricht festzustellen, werden wir ausführen, wie viele der übrigen Faktoren des Schulz’schen Katalogs auf die untersuchten Artikel zutreffen und wie hoch der von uns ermittelte Gesamtwert ist. Dabei richten wir uns auch nach Schulz, der meinte: "Je mehr eine Meldung dem entspricht, was Journalisten für wichtige und mithin berichtenswerte Eigenschaften der Realität halten, desto größer ist ihr Nachrichtenwert." 3. Als zusätzlicher dritter Schritt ist die Beantwortung der ersten Forschungsfrage ("Inwieweit werden positive Ereignisse an den Rand gedrängt?") anzusehen.

4.1 News im "Kurier" Der "Kurier" stellt eine Eigenheit auf dem österreichischen Tageszeitungsmarkt dar. Er gehört zur Gruppe "Mediaprint", gemeinsam mit dem Massenblatt "Neue Kronen-Zeitung", stellt sich selbst aber als "Mittelding" zwischen Boulevardzeitung und Qualitätspresse dar. In diesem Sinne haben wir den "Kurier" (MA 2000: Mit 12,2 % Dritter hinter Krone und Kleiner Zeitung) als "äußersten Rand" des Spektrums der österreichischen Qualitätszeitungen betrachtet, und somit für diese Untersuchung als Gegenpol zum "Standard" hergenommen.

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4.1.1 Auftreten der Valenz-Kriterien Von den im "Kurier" untersuchten Artikeln im Zeitraum 4. bis 11.12.2000 trafen auf 13 Artikel des Themas "Europapolitik" und 5 Artikel des Themas "Israel" ein oder mehrere der Schulz’schen ValenzKriterien zu. Auffällig war dabei, daß die positive Komponente "Erfolg" in diesen insgesamt 18 Artikeln nur zweimal (!) vorkam; der weitgehend neutrale Nachrichtenfaktor "Konflikt" war (in den verschiedensten Ausprägungen) 17mal vertreten. Die negativen Faktoren "Schaden" und "Kriminalität" traten jeweils dreimal auf. Weiters besondere Erwähnung verdient die Tatsache, daß das Thema Europapolitik, das am 11.12. mit der Schlagzeile "Nervenkrieg in Nizza bei längstem EU-Gipfel" seinen Negativ-Höhepunkt fand, in der Woche davor systematisch negativ aufgebaut wurde, beispielsweise mit Artikeln über Skandale, an denen der französische Präsident Chirac bzw. der französische Europaminister Moscovici beteiligt gewesen sein sollen oder die Thematisierung von Befürchtungen eines Scheiterns des Gipfels.

4.1.2 Wertigkeit der Nachrichten Für den Zweck der "Bewertung" wurden die (fünf) "Schaden"- und "Kriminalität"-Artikel als "Bad News" und die (zwei) "Erfolg"-Artikel als "Good News" herangezogen: Nur bei einem der sieben Artikel kamen alle "Rest"Nachrichtenfaktoren vor, nämlich bei dem "Good News"-Artikel über die Ergebnisse des Gipfels von Nizza. Dieser Beitrag umfaßte auch die Komponente Ethnozentrismus, die bei allen anderen keine Rolle gespielt hatte. Außerdem waren eine relativ hohe Relevanz und ein starker Grad an Thematisierung (durch die ständige "Vorberichterstattung" zum Gipfel in der Woche davor) festzustellen. Dieser Artikel steht aber in klarem Gegensatz zu den zweiten "Good News" (ein kleiner Artikel über zaghaft positive Entwicklungen in Israel), die einen niedrigen Gesamt"wert" aufweisen. Insgesamt gesehen ergeben sich daher (wie bei Schulz auf einer vierstufigen Skala [jeder Faktor wird mit einem Wert zwischen 1 = sehr niedrig und 4 = sehr hoch eingestuft] errechnet) für die "Bad News" höhere "Werte" als für die "Good News".

4.1.3 Plazierung der untersuchten Artikel: "Good News" als "Randerscheinungen"?

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Wenn man die sieben untersuchten Beiträge im "Kurier" auf ihre Plazierung innerhalb des Ressorts sowie ihre Größe untersucht, ergibt sich ein dem "Wert-Ergebnis" entgegengesetztes Bild: Die zwei Beiträge der guten Nachrichten findet man auf Seite 3 und 4, im "Politik"-Ressort der Zeitung relativ weit vorne; die schlechten Nachrichten hingegen erscheinen dreimal auf Seite 4 und zweimal gar erst auf Seite 6 (!). Auch ist der mit Abstand größte der sieben Artikel ein "Good News"-Beitrag (, nämlich jener vom 11.12., dem fast eine ganze Seite gewidmet wurde). Demnach scheinen "Good News" im "Kurier" wohl doch nicht zwangsläufig schlecht zu sein und von den Journalisten nicht den schlechten Nachrichten hintangestellt zu werden. Andererseits ist aber festzuhalten, daß gute Nachrichten oft Schlagzeilen aufweisen, die eher auf Negatives hinweisen; so z.B. bei einem Bericht über Friedensverhandlungen in Israel (Überschrift "Palästinenser werden ihren Kampf fortsetzen") oder auch beim oben erwähnten EU-Gipfel-Artikel ("EU-Gipfel: Zum Erfolg verdammt"). Abgesehen von den beiden Themen, die wir in den Mittelpunkt der Untersuchung stellten, , bietet sich folgendes interessantes Bild:

KURIER 4.-11.12.2000

S.12

S.68

"Erfolg"

5

8

"Schaden" + "Kriminalität"

6

23

Je unbedeutender und je kleiner die Artikel werden, desto mehr zeigt sich doch eine gewisse Negativismus-Tendenz der "Kurier"Journalisten.

4.1.4 Gesamteindruck "Kurier" Die Positionierung des "Kurier" als "Mid Market Paper" bestätigte sich: Weder wurden die positiven Artikel explizit schlecht plaziert, noch die negativen besonders bevorzugt. Der Großteil von Schulz‘ Nachrichtenfaktoren konnte berücksichtigt werden, einzig "Ethnozentrismus" trat nur bei einem Artikel auf (, was aber aufgrund der Wahl der beiden internationalen Themen nicht verwundert).

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Das Gesamtbild der übrigen Artikel dagegen ergibt eine quantitative Ünterlegenheit der "Good News" im ersten Buch.

4.2 News im "Standard" Als Beispiel für eine Qualitätszeitung untersuchen wir die Tageszeitung Der Standard. Die zwei größten Themen zwischen 4.12 und 11.12 waren zum ersten die Europapolitik, besonders der Gipfel in Nizza, und zum zweiten der Konflikt Palästinenser Israelis.

4.2.1 Auftreten der Valenz-Kriterien In den insgesamt 22 bearbeiteten Artikeln zu Europapolitik und Palästinenserkonflikt tauchen folgende Valenzkriterien auf: Besonders Erfolg, Konflikt und Schaden traten in mehreren Fällen auf. In der Berichterstattung zum EU-Gipfel werden die Ereignisse in sehr kritischer Sprache übermittelt. Zum Beispiel lautet die Titelüberschrift am 11.12.: "Nizza lässt wichtige Fragen offen, hartes Ringen um Stimmgewichtung beim längsten EU-Gipfel aller Zeiten". Dem Leser wird die Zähigkeit der Verhandlungen dargestellt, und die EU-Politik scheint in diesem Licht nicht gerade von der positiven Seite. Beim Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern werden einige Artikel über verlustbringende Zwischenfälle gebracht. Daher ordneten wir diese den Kategorien Schaden zu. Zum Beispiel lautet die Überschrift eines Beitrags am 9./10.12: "Hoher Blutzoll am ersten Tag des Zorns".

4.2.2 Wertigkeit der Nachrichten Bei der Untersuchung konnten nur zwei wirkliche "good" news herausgefiltert werden. Zum einen die Meldung: "Israel akzeptiert Untersuchungen der Unruhen in Nahost", zum anderen fielen zu Beginn der Berichterstattung über den EU-Gipfel auch noch positive Worte wie: "Das Reform-Menü von Nizza". Allgemein konnte festgestellt werden, daß nahezu bei jedem untersuchten Beitrag alle Nachrichtenfaktoren vorhanden waren.

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Von der Gesamtbewertung her (siehe auch: Kapitel 4.1.2) ist eine Gleichverteilung von "good news" und "bad news" festzustellen. Im Untersuchungszeitraum wurde positiven Nachrichten in einigen wenigen, dafür aber ausführlichen Artikeln Raum geboten; die "bad news" brachten es auf mehr Beiträge, die dafür kleiner gestaltet waren.

4.2.3 Plazierung der untersuchten Artikel Der Eu-Gipfel wurde im Vergleich zur anderen Berichterstattung sehr hervorgehoben. In der Wochenendausgabe vom 9./10.12 wurde auf den ersten vier Seiten ausführlich über die Ausgänge des Gipfels berichtet. Die Titelschlagzeile: "Nächste EU-Reform 2004 schon mit neuen Mitgliedern" erweckt durchaus den Eindruck einer durchwegs positiven Einstellung zur Thematik. Auch auf Seite eins ist noch von erfolgsversprechenden Zukunftsvisionen die Rede. Erst auf den beiden folgenden Seiten werden die negativen Aspekte abgehandelt ("Tarnen und Täuschen der Großen"). Der Nachrichtenfaktor Erfolg ist in den Artikeln in den ersten beiden Seiten durchwegs vorhanden, weswegen diese zu den "good" news gezählt werden, und daher eine gute Plazierung der guten Berichterstattung vorliegt. Während sich auf Seite vier ein dem Nachrichtenfaktor Schaden zuzuordnender Artikel findet , dessen negative Botschaft noch durch ein Foto (Polizisten halten einen Demonstranten fest) verstärkt wird.

4.2.4 Gesamteindruck "Standard" Der Standard ist unserer Meinung nach bemüht negativen wie positiven Ereignissen gleichermaßen Raum zu bieten. Wie in den durchgegangenen Ausgaben vom 4.12-11.12. ersichtlich war, fanden sich negative Beispiele eher in größerer Auflage, dafür aber mehr im Blattinneren und kleinformatiger. Ein besonderes Merkmal am Standard ist auch die intensive Auseinandersetzung mit einzelnen aktuellen Themen, wie beispielsweise dem EU-Gipfel in Nizza.

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4.3 Vergleich Nach Behandlung der ersten beiden Forschungsfragen, widmen wir uns nun der dritten, die da lautete: Ergeben sich Unterschiede in der Aufbereitung der Nachrichten bei gehobener Qualitätspresse ("Standard") und "boulevardesker" Qualitätspresse ("Kurier"), und wenn ja, welche? In der Anzahl der Artikel ergaben sich bei der Untersuchung keine gravierenden Unterschiede. Im Vergleich der beiden Qualitätszeitungen fällt aber auf, daß nach der Schulz’schen VierStufen-Bewertung der "Standard" weniger "berichtenswerte" Nachrichten beinhaltet als der "Kurier", und dies, obwohl er auf der anderen "Seite" des Qualitätszeitungsspektrums angesiedelt ist. Daraus könnte man folgern: Das Schulz’sche Faktorenschema zur Nachrichtenwerttheorie wird von seriösen Zeitungen und deren Journalisten weit weniger in der praktischen Tätigkeit beachtet, als von boulevardesken Blättern mit größerem Publikum. Allerdings muß relativiert werden: Unsere Untersuchung beschränkte sich nur auf eine Woche und einige Artikel aus zwei Themenbereichen. Schon allein deshalb kann man nicht von repräsentativen Ergebnissen sprechen. Außerdem war die Studie natürlich bereits dadurch determiniert, daß Schulz zwei negative (Schaden und Kriminalität), aber nur einen positiven Faktor ("Erfolg") in seinen Katalog aufgenommen hatte, und wir uns demnach für "Good News" nur auf einen Faktor beziehen konnten, was eine gewisse Unausgewogenheit mit sich brachte. Dennoch war es interessant, den NegativismusAspekt der Nachrichtenwerttheorie anhand der praktischen Umsetzung von Tageszeitungsjournalisten zu analysieren.

5.Resümee Rückblickend auf die Einleitung, in der wir unsere Forschungsfragen zur Problematik der Benachteiligung von "Good News" im österreichischen Printjournalismus dargelegt haben, muß festgehalten werden: Oft kann innerhalb der Qualitätspresse keine absolute Gewichtung in Richtung "Bad News" erkannt werden; gleichzeitig muß auch die von uns aufgestellte Formulierung "Are Good News Bad News?" nicht so ohne Weiteres eintreffen. Während der "Standard" den "Good News" durchaus auch einmal ausführlichen Raum bietet, überwiegt beim "Kurier" (und hier ist eine Ähnlichkeit mit dem Boulevard zu erkennen) die negative Formulierung von Schlagzeilen (wohl um die Leser "anzulocken"), selbst wenn die Artikel dann gute Nachrichten beinhalten. Etwas überraschend war, daß sich nach dem von uns verwendeten Nachrichtenfaktorenkatalog von Schulz für den "Good News" eher bevorzugenden "Standard" ein weit niedrigerer Nachrichtenwert für dessen Beiträge herauskristallisierte, während der "Kurier" höhere Werte aufwies. Insofern ist die Schulz’sche Faktorensammlung mit Vorsicht zu genießen; schließlich würde sie nach unseren

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Ergebnissen einem qualitativ hochwertigeren Blatt eine geringere Beachtung journalistischer Auswahl- und damit Qualitätskriterien einräumen. Zusätzlich muß man sagen, daß die gesamte Nachrichtenwert-Theorie sicherlich noch ausbaufähig ist; denn der Sachverhalt der journalistischen Nachrichtenauswahl stellt sich weit komplexer dar: Einerseits muß man wohl das soziale Umfeld der Redaktion berücksichtigen, andererseits bringt natürlich auch eine Betrachtung der Rezipientensicht weitere Aufschlüsse (Vgl. Eilders 1997, wo u.a. untersucht werden sollte, ob die Faktoren, die Journalisten an Nachrichten anlegen, mit jenen, die Rezipienten anlegen, übereinstimmen oder voneinander abweichen). Alles in allem kann eine alleinstehende Nachrichtenwerttheorie nicht so viel Aussagekraft erlangen, als es im Zusammenspiel mit anderen Ansätzen (etwa Gatekeeper) oder auf der Basis von komplexeren empirischen Überprüfungen möglich wäre.

Literaturverzeichnis Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien 19983 Eilders, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption, Opladen 1997 Feichtlbauer, Hubert: Und wer verbellt die Hunde?, http://www.wienerjournal.at/MEDIEN03.htm [Zugriff: 6.12.2000] Rühl, Manfred: Theorie des Journalismus, in: Burkart, Roland / Hömberg, Walter (Hrsg.): Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung, Wien 19952, S.117-134 Ruhrmann, Georg: Rezipient und Nachricht: Struktur und Prozesse der Nachrichtenrekonstruktion. Opladen 1989 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg/München 1976

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